Die Chemie ist wohl jene Naturwissenschaft, von der ich am allerwenigsten Ahnung habe. Wenn ich mich recht entsinne, hatte ich in meiner Schulzeit höchstens ein Jahr Chemie - und habe da rein gar nichts gelernt. Z.B. weiß ich bis heute nicht halbwegs genau, weshalb es "H20" lautet, also zwei H´s und ein O zusammen passen (oder umgekehrt?). Irgendwie hat das eine Element mehr Elektronen und damit Bindungsmöglichkeiten als das andere - oder?

(Nebenbei: ein uralter, aber leider nie befolgter Ratschlag meinerseits für Lehrerfortbildungen war und ist, LehrerInnen nicht an ihnen längst allzu bekannte, sondern an neue Stoffe zu setzen, damit sie sich selbst beim Lernen beobachten und damit überhaupt endlich wieder verstehen, was Lernen eigentlich ist.)

Vorweg sei noch erwähnt, dass meine Gedanken hier weitgehend auf der Lektüre des Buchs des Monats 10/07 beruhen, an dem ich die chemischen Gleichungen allemal am interessantesten fand.


Weil mathematische Gleichungen

(was allemal seinen ganz eigenen Reiz hat!)

nie von etwas Handgreiflich-Sinnlich-Materiellem handeln, können dabei auch "nur" neue Erkenntnisse zustandekommen.

Da finde ich es doch allemal faszinierend, was laut Raoul Hoffmann die Chemiker tun, nämlich wirklich handgreiflich-sinnlich-materiell Neues erschaffen.

Chemiker können - und darauf vor allem besteht Hoffmann - Moleküle nicht bloß (nach-)entdecken, sondern sie regelrecht erfinden

(und sind damit vielleicht viel eher Erfinder als die Physiker):

(sicherlich im Rahmen der Naturgesetze)

regelrecht konstruieren bzw. - so würde man heute wohl sagen - "designen".

(Nebenbei: die Chemiker und die Kernphysiker haben voll und ganz das Programm der Alchemisten erfüllt, die sie als Vorfahren doch immer verleugnen; vgl. etwa  .)

Beispielsweise entstehen bei

2 H2+022H20

(also der  "Knallgasreaktion")

aus den beiden Elementen H (Wasserstoff) und O (Sauerstoff) mit einem eindrucksvollen Knall zwei (Wasser-)Moleküle mit völlig anderen, allemal höchst erstaunlichen (allzu selbstverständlichen) Eigenschaften

(vgl.   Buchs des Monats 9/04 ).

Nun ist an

2 H2+022H20

allerdings einiges bemerkenswert:

  1. erstaunt es ja vielleicht überhaupt erst den totalen chemischen Laien, aber eben doch mathematisch Vorgebildeten (also mich), dass da in einer chemischen Gleichung das mathematische Assoziativgesetz wiederzuerkennen ist:

  1. steht in

2 H2+022H20

der Pfeil    , aber eben nicht ein Gleichheitszeichen, womit eben auch (noch) keine Gleichung vorliegt.

Der Pfeil besagt erstmal nur, dass die Reaktion (bislang) nur von links nach rechts verläuft, also aus 2 H2+02 die Moleküle 2H20 entstehen können - aber (noch) nicht umgekehrt.

(und ein Mathematiker sollte hypersensibel sein für den Unterschied zwischen   , und ).

Aber in der Tat lässt sich der Prozess auch umkehren, also Wasser auch wieder in die Elemente Wasser- und Sauerstoff zerlegen, nämlich mittels Elektrolyse:

2 H2+022H20

(Die Chemiker schreiben da allerdings kein Gleichheitszeichen, sondern den Doppelpfeil ).

  1. laufen die Prozesse 2 H2+022H20 und 2 H2+022H20 nicht von selbst

(indem man die Ingredienzien zusammenschüttet und lange genug abwartet),

sondern muss der Chemiker jeweils ein bisschen nachhelfen:

(Der Knaller schlechthin ist aber, dass Cyanobakterien es schaffen, Wasser "mit links" und ohne großartiges Trara, nämlich "einfach nur" mittels Photosynthese in seine Bestandteile zu zerlegen.)

Damit deutet sich schon an, dass bei den Reaktionen noch mehr läuft, als dass "nur" die bereits vorhandenen Anteile umsortiert werden:

Aber auch in der Mathematik ergibt sich ja oftmals bei einer Gleichung die rechte nicht von selbst aus der linken Seite, sondern muss etwas "dazugetan" werden - nämlich Grips!

Und zwar sind in der Mathematik die beiden Seiten einer Gleichung "nur" unterschiedliche Schreibweisen für Dasselbe

(z.B. 1/3 = 0,3333333 ... = 0,3 = 2/6 ...),

aber es erfordert doch eben oftmals Gehirnschmalz, von der einen auf die andere Seite zu kommen, also die neuartige Schreibweise zu erkennen, und dementsprechend erstaunlich sind oftmals Umformungs- und Beweisschritte.


"Grips" bedeutet in der Chemie oftmals

(genauso wie in der Mathematik),

dass man nicht den direkten Weg gehen kann, sondern langsam viele "Unwege" geht, die man aber überhaupt erst mal (er-)finden muss.

Hoffmann zeigt das anhand der Synthese des wunderschönen Moleküls


Cuban

(vgl. nebenbei auch die Schönheit des Kohlenstoff-Tetraeders ).

Dieses Cuban lässt sich eben nicht "auf die einfache Tour" herstellen

(man rühre ein paar Wasserstoff- und Kohlenstoffatome zusammen und warte dann ab),

sondern die Genialität seiner Synthese durch Cole und Eaton bestand eben in der Hintereinanderschaltung vieler kleiner Schritte:

Auf die Mathematik übertragen

(und vielen SchülerInneN ins Stammbuch geschrieben):

  1. es geht nunmal oftmals nicht alles "in einem Abwasch", sondern bedarf vieler Einzelschritte,

  2. mache man die eventuell vielen nötigen Rechenschritte nicht alle gleichzeitig, sondern hübsch brav nacheinander!


So mit am interessantesten bei der Synthese neuer Moleküle durch Chemiker finde ich, wie sie (s.o.) sozusagen an der Gleichheitszeichenstelle nicht einfach abwarten

(dann würden sie oftmals ewig warten und würde nichts passieren),

sondern äußerst raffiniert eingreifen, nämlich z.B.

Als Katalysator (von der Katalyse, griechisch , katálysis - Auflösung mit lateinischer Endung) bezeichnet man in der Chemie einen Stoff, der die Reaktionsgeschwindigkeit einer chemischen Reaktion beeinflusst, ohne dabei selbst verbraucht zu werden.

Man könnte solche Katalysatoren also als eine Art "Eheanbahner" oder "Kuppler" bezeichnen, der zwar dafür sorgt, dass zwei andere Menschen heiraten, sich danach aber wieder verdünnisiert, also nicht auch selbst heiratet. Und dann kann er prompt die nächsten beiden Menschen verkuppeln.

Da stellt sich mir die Frage, ob es auch in der Mathematik solche Katalysatoren gibt.

Mir fallen da erstmal nur unscheinbare, aber doch höchst wirksame und wichtige Kleinigkeiten ein:

  1. die zwischenzeitliche quadratische Ergänzung:

     x2 + 6x                + 5 = 0

x2 + 6x + 32 - 32 + 5 = 0

(x     +     3)2    - 4     = 0  | + 4

(x     +     3)2             = 4

  x     +     3                = 2    oder  x     +     3               = -2   |- 3

  x                              = -1   oder  x                             = -5  

  1. die Hilfsklammer, die man oftmals kurzzeitig hinzufügen muss, um eine andere Klammer zu beseitigen:

    a2 - (a  -            b)2 =

= a2 - [a2 - 2 ab + b2] =

= a2 -  a2 + 2 ab - b2 =

=                 2 ab - b2