das Eigenleben der Zahlen
(oder es geht alles mit rechten Dingen zu)
"Die Denker im antiken Griechenland verhalfen [...] der Wissenschaft zum Durchbruch [...] Mit der Wissenschaft entwickelte sich das naturalistische Programm. Dessen wichtigste Annahme lautet: Alles geht mit rechten Dingen zu. Alle Ereignisse und Prozesse können die Wissenschaftler beschreiben und erklären, ohne auf übernatürliche Kräfte zurückgreifen zu müssen."
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"Ich weiß: die Zahlen sind die Zahlen und werden es wohl immer bleiben; und ich werde sie wohl immer bald so, bald so ansehen. Bald mit den Augen des Verstandes, bald mit den anderen ... Und ich werde nicht mehr versuchen, dies miteinander zu vergleichen ..." vgl. auch |
Ich versuche dringend, vorsichtig und freundlich zu sein: wenn Numerologie und Zahlenmystik
(also der Glaube, dass hinter Zahlen und Zahlenmustern ein tieferer, gar göttlich verschlüsselter Sinn bzw. eine Botschaft stecke)
uralte kulturelle Phänomene sind,
kann man sie nicht einfach in Grund und Boden verdammen
und ist es auch ein bisschen billig zu sagen: "früher durfte man das, aber wer das heute noch betreibt, tickt nicht richtig", schwänge da doch immerhin auch eine Verachtung der Vorfahren mit.
Kommt hinzu, dass ich sowieso eine gewisse geheime Liebe zu "Sonderlingen" habe (so nervtötend sie ja mangels sozialer Kompetenz sein können). Ich verstehe immerhin, wie man in unserer Gesellschaft zum Sonderling werden kann - und mag Sonderlinge zumindest mehr als all die Aalglatten und Ultracoolen, die über Leichen gehen.
(zu dessen Inhalt ich nach wie vor stehe)
ist leider von Leuten missverstanden worden, die Numerologie und Zahlenmystik betreiben und jetzt von mir Zustimmung zu ihren Entdeckungen erwarten.
Grundlage für zahlenmystische Überlegungen sind meist allemal erstaunliche Muster in gewissen Zahlenmengen.
z.B. im pascalschen Dreieck
Welch erstaunliche Effekte darin verborgen sind, hat z.B. Hans Magnus Enzensberger in seinem großartigen Jugendbuch gezeigt.
Ein einziges Beispiel aus Enzensbergers Buch: die geraden Zahlen ergeben das folgende, allemal erstaunliche Muster:
Enzensberger hat seine Beispiele nicht bewiesen (weil die Beweise wohl zu anspruchsvoll wären), lässt also erst mal "nur" staunen, sagt aber auch nirgends, dass da "Bedeutungen" hinter steckten.
ergeben sich auch in folgender Tabelle ganz erstaunliche Effekte und Muster
(die ich hier nicht näher ausführen möchte, weil das Beispiel von einem meiner Email-Briefpartner stammt und ich nicht den Eindruck erwecken möchte, als hätte ich bei ihm Ideen geklaut):
0●n 1●n 2●n 3●n 4●n 5●n 6●n 7●n 8●n 9●n ... 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 0 3 6 9 12 15 18 21 24 27 0 4 8 12 16 20 24 28 32 36 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 0 6 12 18 24 30 36 42 48 54 0 7 14 21 28 35 42 49 56 63 0 8 16 24 32 40 48 56 64 72 0 9 18 27 36 45 54 63 72 81 ...
Nur was "besagen" all solche Effekte und Muster - und warum sind sie eigentlich erstaunlich?
Dazu muss man sich vorerst klar machen, dass sowohl das pascalsche Dreieck als auch die Tabelle "menschengemacht" und nach einem ganz eindeutigen Konstruktionsprinzip gebildet sind.
Dieses Konstruktionsprinzip hat sowohl direkt sichtbare als auch "verschleierte" Folgen:
- aufgrund seiner Konstruktion ist das pascalsche Dreieck achsensymmetrisch zur hellblauen Gerade und die Tabelle zur Diagonale
(wenn also beispielsweise im oben gezeigten Muster im pascalschen Dreieck - durchaus erstaunlich! - links unten ein Dreieck auftaucht, so ist das rechts unten keineswegs mehr erstaunlich);- jede Zeile des pascalschen Dreiecks sowie jede Zeile und Spalte der Tabelle folgt einem klar erkennbaren Aufbau;
im eigentlichen Sinne "Muster" ergeben sich erst, wenn man zeilen- und spaltenübergreifend Zahlen kombiniert: die Zusammenhänge zwischen solchen Zahlen ergeben sich nicht mehr direkt aus dem Konstruktionsprinzip und wirken deshalb erst mal erstaunlich.
Der Beweis eines Musters muss aber immer auf das ursprüngliche Konstruktionsprinzip zurückgeführt werden (da es das einzige ist, was wir über das pascalsche Dreieck bzw. die Tabelle wissen).
Solch eine Rückführung kann aber ausgesprochen umständlich ausfallen, was insbesondere dann gilt, wenn man allgemeingültige Beweise (z.B. für alle Dreiecke in o.g. Bildern) führen will.
Da aber ergibt sich oftmals das typische, schon von Schopenhauer beklagte Problem: man kann diesen Beweisen Schritt für Schritt folgen, erhält aber kein intuitives Gesamtbild; bzw. der Beweis scheint nichts mehr mit dem zu beweisenden Muster zu tun zu haben (was Schopenhauer als hinterhältig und demütigend empfunden hat).
(Ein Extrembeispiel: es scheint schier unglaublich, dass der so einfache letzte Satz von Fermat solch eines irrwitzig komplizierten Beweises bedarf, wie Andrew Wiles ihn geführt hat: eines Beweises, der zudem für Laien gar keiner sein kann, da sie ja keine Chance haben, ihn zu verstehen. Und weil dieser Beweis den Laien nicht zugänglich ist, muss es ihnen ja fast so erscheinen, als wenn der Beweis noch ausstünde - und von ihnen geliefert werden könnte.)
Dennoch ist der rein innermathematische Beweis der einzige Weg, und das merken ja auch die sonderlinghaften Numerologen und Zahlenmystiker heutiger Tage: wenn sie nicht selbst einen (meist höchst obskuren) "Beweis" führen können, tun sie alles, damit "richtige" MathematikerInnen diesen beibringen - und Lob für die Entdeckung aussprechen. Sie betteln geradezu um fachwissenschaftliche Anerkennung - und vermuten eine regelrechte Verschwörung der Expertokratie, wenn diese Anerkennung nicht erfolgt.
(Die vermeintlichen "Beweise" jener sonderlinghaften Mathe-Spezis zeugen oftmals nur davon, dass nicht mal die Grundlagen der Mathematik verstanden wurden, und sind ansonsten häufig derart krude, dass einE FachwissenschaftlerIn nicht die mindeste Chance hat, sie [was ja eigentlich einen Beweis ausmacht!] nachzuvollziehen - wie ja überhaupt jegliche Kommunikation mit diesen Sonderlingen meistens schlichtweg ausgeschlossen ist.
Viele FachwissenschaftlerInnen haben es ja anfangs - und sei's aus purer Rücksichtnahme - tatsächlich versucht, es dann aber schnell aufgegeben. Und einige Akademien und Universitäten haben irgendwann den radikalen Schluss daraus gezogen, gar keine solche "Beweise" mehr anzunehmen oder vorgedruckte Standardantworten zu versenden.)Alle Effekte sind also auf das selbst gewählte Konstruktionsprinzip rückführbar. Daraus kann nur folgen:
"Alles geht mit rechten Dingen zu. Alle Ereignisse und Prozesse können die Wissenschaftler beschreiben und erklären, ohne auf übernatürliche Kräfte zurückgreifen zu müssen."
Eine übernatürliche (außermathematische) zusätzliche Begründung ist nicht nur überflüssig, sondern auch sinnlos: man kann nicht z.B. einen Gott für etwas verantwortlich machen, was man selbst angerichtet hat.
Und dennoch erscheint es einem auf Anhieb so, als wenn die Zahlen tatsächlich Eigenleben hätten. Das Staunen darüber ist ja überhaupt der Antrieb, einen Beweis oder eine Widerlegung zu suchen.
Ganz anders liegt allerdings der Fall, wenn nicht "der" Mensch die Anordnung der Zahlen getroffen hat, sondern - ja wer denn eigentlich?
Musterbeispiel sind da die Primzahlen: der Mensch hat sie nur definiert - oder "der Natur" eine Definition entnommen?
die uralte Frage: wird Mathematik entdeckt (ist sie also auch schon vorher da?) oder erfunden (überhaupt erst hergestellt)?
"man wird als Primzahl geboren und nicht erst nachträglich zu ihr gemacht".
Als Primzahlen bezeichnet man jene natürlichen Zahlen, die
nur durch 1 und sich selbst,
aber durch keine weitere natürliche Zahl teilbar sind.
Das Teilen durch 1 (Ergebnis: die Ausgangszahl) und sich selbst (Ergebnis: 1) funktioniert natürlich bei allen natürlichen Zahlen, aber die Nicht-Primzahlen haben auch noch andere Teiler.
Beispiele:
die 6 ist keine Primzahl, da sie
natürlich durch 1 (Ergebnis 6) und sich selbst (Ergebnis 1),
aber zusätzlich auch durch 3 (Ergebnis 2) und 2 (Ergebnis 3) teilbar ist;
die 5 ist hingegen eine Primzahl, da sie
natürlich durch 1 (Ergebnis 5) und sich selbst (Ergebnis 1),
aber durch keine weitere natürliche Zahl teilbar ist.
Mit den Primzahlen verhält es sich nun fast wie mit den Sternen am Himmel:
es gibt nachweislich (und anders als bei den Sternen?) unendlich viele davon,
sie bilden auch Muster ("Sternbilder"),
aber dafür gibt es kaum Erklärungen:
zwar weiß man (kann es beweisen), dass sie im Schnitt immer seltener werden, je größer sie sind,
auf den langen leeren Strecken gibt es dann aber z.B. plötzlich "Primzahlzwillinge", die nur durch eine einzige dazwischenliegende, gerade, also durch 2 teilbare und somit Nicht-Primzahl getrennt sind
(kleinstes Beispiel sind 3 und 5, zwischen denen nur 4 = 2 ● 2 liegt).
Es ist bisher aber nicht möglich,
solche Primzahlzwillinge
und überhaupt Primzahlen zu berechnen
(man kann nur, wenn eine Primzahl vorliegt, äußerst mühsam nachweisen, dass sie eine ist),
d.h. es gibt (anders als oben) kein Konstruktionsprinzip bzw. es ist zumindest noch nicht bekannt.
Weil also kein Konstruktionsprinzip vorausgesetzt wird und bekannt ist,
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Wenn man nun noch sieht, dass die Primzahlen
(gerade weil ihr Konstruktionsprinzip noch nicht durchschaut wurde oder gar keins vorliegt)
enorme Anwendungsbedeutungen haben (vgl. ),
so kann mit Gerhard Vollmer sagen:
"Nicht einmal die Primzahlen sind unschuldig",
womit man sie ja auch wieder personifiziert, ihnen also Eigenleben unterstellt:
"die Primzahlen sind schon ganz schöne Schlingel!"
Wenn man mit Zahlen-Sonderlingen Kontakt hat, fragt man sich erst mal völlig irritiert und verständnislos, warum sie sich eigentlich derart in eine ganz eigene "Mathematik" verbeißen - und warum überhaupt in die Mathematik.
Dennoch scheint es mir auf den zweiten Blick einige Erklärungsansätze zu geben:
gerade die Mathematik bietet tatsächlich ganz erstaunliche Phänomene,
die Mathematik ist tatsächlich "nicht ganz von dieser Welt" (vgl. ),
die Mathematik kann als einzige Wissenschaft tatsächlich allgemeingültige, also geradezu "göttliche" Aussagen (für alle bzw. unendlich viele Beispiele) machen
(sie ist - wie ja auch viele "richtige" MathematikerInnen beweisen - ein Eldorado für anmaßende Besserwisser);
in der Mathematik kann man scheinbar (und in Bezug auf die Außenwelt tatsächlich) schalten und walten, wie man will
(um wieder den letzten Satz von Fermat zu nehmen: Wiles' Beweis scheint ja eben auch nicht das Grundkriterium eines Beweises zu erfüllen, nämlich [für jeden?] nachvollziehbar zu sein; und da könnte jemand ja immerhin auf die Idee kommen zu sagen: "wenn der das darf, darf ich das auch");
die Mathematik ist wie eine Modelleisenbahn, bei der man(n!) - anders als im Alltag - ja auch selbstherrlich bestimmen kann, wo's lang geht
(z.B., wenn man lustig ist, die Berge an der Decke befestigen und zwei ICEs aufeinander rasen lassen darf),
Zahlen-Sonderlinge sind nur Extrembeispiele für etwas, das vermutlich alle NaturwissenschaftlerInnen und MathematikerInnen umtreibt: das "Urvertrauen" auf eine geordnete, "prästabilierte" Welt: "es geht alles mit rechten Dingen zu". Nur werden die Durchschnittswissenschaftler das ohne weitere Begründung (also auch untheologisch) voraussetzen, während die Zahlenmystiker eine göttliche Instanz voraussetzen, die diese Ordnung geschaffen hat;
und da sind Zahlenmystiker dann auch tatsächlich unwiderlegbar: sie könnten tatsächlich recht haben;
man bedenke immerhin, dass Galilei da auch nicht "besser" war
(wenn man mal annimmt, dass er das wirklich glaubte und es nicht nur den ihn bedrängenden Theologen zuliebe gesagt hat):
"Die Philosophie ist in dem großen Buch der Natur niedergeschrieben
[eine berühmte Metapher, von der Galilei wissen musste, dass sie von dem Kirchenlehrer Augustinus stammte, der natürlich als Autor des "Buches der Natur" Gott meinte, der dieses zweite Buch zusätzlich zur Bibel offenbart hatte],
das uns immer offen vor Augen liegt, das wir aber erst lesen können, wenn wir die Sprache erlernt und uns die Zeichen vertraut gemacht haben, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, deren Buchstaben Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren sind; ohne deren Kenntnis ist es dem Menschen unmöglich, auch nur eine einziges Wort zu verstehen"
Das ist ja immerhin auch schon eine "Unterstellung": dass die Natur nicht nur mittels Mathematik (halbwegs) beschreibbar ist, sondern tatsächlich ein mathematisches Konstruktionsprinzip hat, dass also - so Kepler - Gott ein Mathematiker ist
(eine - so könnte man ja immerhin einwenden - doch ziemlich kleingeistige Unterstellung, die meilenweit hinter dem großartigen alttestamentarischen Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen, zurück bleibt;
was ist das zudem für eine bitter abgenagtes Bild der Welt, das sie auf geometrische Figuren reduziert - und einen Gott unterstellt, der im schlimmsten Fall die Welt fast schon bösartig verklausuliert, im besten Fall den Menschen großzügig-herablassend den Code mitgeteilt hat?!
mir scheint doch eher, dass die Welt Selbstzweck ist [Eigenleben hat!], also nicht geschaffen wurde, um decodiert zu werden oder Geheimbotschaften zu versenden).
Zahlenmystiker tun nur offensichtlicher das, was jedeR von uns andauernd tut, ja was geradezu evolutionär angeboren zu sein scheint: in vermutliche (wissenschaftliche, historische, biografische [vgl. Max Frisch]) Unordnungen und Zufälle ein Muster bzw. System hinein sehen.
Die Zahlenmystik ist (wie die Alchemie) durchaus hilfreich, wenn man sie nicht wörtlich, sondern metaphorisch versteht:
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Marie-Louise Franz: Zahl und Zeit; Psychologische Überlegungen zu einer Annäherung von Tiefenpsychologie und Physik; Klett-Cotta | |
Amir D. Aczel: Die Natur der Unendlichkeit; Mathematik, Kabbala und das Geheimnis des Aleph; rororo | |
Underwood Dudley: Mathematik zwischen Wahn und Witz; Trugschlüsse, falsche Beweise und die Bedeutung der Zahl 57 für die amerikanische Geschichte; Birkhäuser | |
ders.: Die Macht der Zahl; Was die Numerologie uns weismachen will; Birkhäuser | |
Stephen Jay Gould: Der Jahrtausendzauber; Durch die Scheinwelt numerischer Ordnungen; S. Fischer |