Spürtrupp "erstaunliche Gleichungen"

In seinem Buch macht David Bodanis sich anfangs die Mühe, den Bestandteilen von Einsteins weltberühmter Gleichung "E = m c2" nachzugehen (vgl. auch ), und hat deshalb sogar ein ganzes Kapitel über das Gleichheitszeichen geschrieben.

(Dabei scheint mir Einsteins Gleichung nicht etwa deshalb berühmt zu sein, weil sie [geschweige denn die Relativitätstheorie] von der breiten Masse verstanden wurde, sondern vielmehr bzw. glatt im Gegenteil, weil die Gleichung eine so erstaunlich einfache Metapher für etwas angeblich unverständlich Komplexes und Geniales ist. Vgl. )

Später dann versucht Bodanis zu zeigen, was an Einsteins Gleichung so bedeutsam ist:

  1. , dass laut Einstein erstaunlicherweise die bis dahin völlig unabhängig erscheinenden Phänomene Energie und Masse dasselbe bzw. beide ineinander überführbar sind;

  2. wegen der irrwitzig großen Lichtgeschwindigkeit c:

"[...] das Gleichheitszeichen in E = mc2 wirk[t] wie ein Tunnel oder eine Brücke. Eine sehr kleine Masse wird enorm vergrößert, sobald sie sozusagen durch die Gleichung reist und auf der anderen Seite, der Energie-Seite, wieder zum Vorschein kommt."

Noch einige Seiten weiter ergänzt Bodanis:

"Eine so großartige Leistung wie die Einsteins wurde in der ganzen Geschichte nur ganz selten vollbracht. Stellen wir uns vor, wir könnten ein schimmerndes Kristallmodell bauen, das klein genug ist, um es mit der Faust zu umschließen. Dann öffnen wir die Hand - und auf einmal erbebt sich vor uns das gesamte Universum in all seiner Pracht. Newton war der erste, der dies hervorgebracht hatte: ein vollständiges System der Welt, das mit einer Handvoll Gleichungen auskam und dennoch alle Regeln enthielt, nach denen man aus dem allgemeinen Prinzip auf den Ablauf konkreter Bewegungen - sogar derjenigen im ganzen Sonnensystem - schließen konnte. Einstein war der nächste."

(Später im Buch "korrigiert" sich Bodanis sogar noch:

"Die beiden Seiten der Gleichung - also das »E« und das »m« - müssen gar nicht das Gleichheitszeichen [und das »c2«] bemühen und sich ineinander umwandeln [!]. Denn letzten Endes drückt die Gleichung aus, daß das, was wir eine Massenportion nennen, in Wirklichkeit eine Energiemenge ist [!], die wir in dieser Aufmachung eben nur nicht als solche erkennen. Entsprechend ist [!] eine glühende oder komprimierte Anhäufung von Energie in Wahrheit eine Masse, eben nur in weiter verteilter Form, als wir sie bei einer Massenportion normalerweise wahrnehmen."

Die Physik ist also mathematischer, als gedacht: auch in der Mathematik werden ja Gleichungsseiten eigentlich nicht ineinander umgewandelt, sondern sind identisch und sehen nur täuschend unterschiedlich aus:

1/2 = 0,5 )


"Entscheidend ist, was hinten raus kommt."
(Helmut Kohl)

Was mir an Bodanis' Darstellung so besonders gefällt, ist die Metapher "das Gleichheitszeichen in E = mc2 wirk[t] wie ein Tunnel oder eine Brücke", wobei

etwas bis dahin völlig Unbekanntes und über alle Maßen Erstaunliches herauskommt.

Mit diesen Metaphern vom (Licht am Ende des) Tunnel(s) und der Brücke über eine Schlucht werden Mathematik und Physik zu Verheißungen (und Erfüllungen).

(Worum es mir hier nicht geht: ob die praktischen Auswirkungen von Mathematik und Physik so eindeutig positiv waren: immerhin lässt sich ja gerade mit der Gleichung "E = mc2" auch eine Atombombe bauen.
Sondern mir geht es um Verheißung und Erfüllung für die "theoretische Neugierde" [Hans Blumenberg].)

Solch eine Gleichung ist wie eine ungeahnte Lupe, die plötzlich alles vergrößert (bzw. überhaupt erst sichtbar macht), oder eine Sonde in eine andere Wirklichkeit.


João Magueijo hat in seinem Buch zusätzlich gezeigt, dass nicht nur eine Gleichung, sondern auch deren "simple" Umformung

(also das im Schulunterricht üblicherweise denkbar Langweiligste)

genial sein kann:

"[Es][...] war [...] ein wahrer Genieblitz, als Einstein 1905 in einem dreiseitigen Artikel die These vorschlug, dass bei Zunahme der Energie eines Körpers um E seine Masse m anwachsen müsse, und zwar um E geteilt durch das Quadrat der Lichtgeschwindigkeit:

m = E/c2

Das Argument geht davon aus, dass die Masse eines Körpers zunimmt, wenn man ihm kinetische Energie zuführt, und dass dies aus Gründen der Symmetrie für alle Energieformen gelten muss.

Zwei Jahre später, 1907, folgte ein regelrechter Gedankensturm. Einstein trieb seinen Sinn für Schönheit und Symmetrie zu unser aller Vorteil - oder Nachteil - auf die Spitze. Wenn er die Beziehung zwischen der Zunahme von Masse und der Zunahme von Energie auf Energie in Form von Bewegung beschränkte, verletzte er, wie er zwei Jahre zuvor erkannt hatte, die Einheitlichkeit - dass alle Energie die Masse eines Körpers erhöhen müsste. Doch folgt daraus nicht, dass Energie bereits eine Masse besitzt, oder, noch besser, dass die beiden dasselbe sind?

Irgendeine Form von Energie mit Masse gleichzusetzen und umgekehrt scheint die Einheitlichkeit, die Vollkommenheit der Theorie zu besiegeln. Doch wenn alle Energieformen Träger von Masse sind, müsste dann nicht auch Masse Energie tragen? Müsste sich Masse nicht mit einer Energieform gleichsetzen lassen? Also stellte Einstein etwas schrecklich Einfaches mit der obigen Formel an. Er formte sie um:

E = mc2

Dies sieht ungeheuer einfach aus und ist doch ein gewaltiger theoretischer Schritt. Abermals handelt es sich um eine kühne Verallgemeinerung, aber durchaus keine folgenlose. Es lassen sich Vorhersagen ableiten, die wir beobachten können, das heißt Vorhersagen, die überprüfbar sind. Wenn Sie Zahlen in diese Formel einsetzen und eine kurze Berechnung durchführen, so folgt daraus, dass in einem Gramm Materie eine Energiemenge schlummert, die der Explosion von rund 20 000 Kilogramm TNT äquivalent ist."


Nun ist "E = mc2" natürlich eine Jahrtausendgleichung und somit uneinholbar.

Dennoch ergeben sich für mich aus ihr kritische Fragen an den üblichen Mathematikunterricht in der Schule:

  1. Sind die dort behandelten Gleichungen durch die Bank eben gerade nicht Tunnel und Brücken hin zu Erstaunlichem, sondern kommt da am Ende immer Banales heraus?

(Was ja zumindest in Übungsphasen oftmals nicht zu verhindern ist.)

  1. Wo denn sind bzw. wären in der Schulmathematik mal Gleichungen, deren Ergebnisse tatsächlich erstaunlich sind?

(Dabei geht es mir keineswegs nur um Anwendungsaufgaben mit erstaunlichen Ergebnissen

[auch da werden in der Schule oftmals nur Banalitäten bestätigt],

sondern mindestens ebenso sehr um innermathematisch erstaunliche Ergebnisse.)


Das bleiben für mich bewusst erst mal nur Fragen - und deshalb der Spürtrupp in der Überschrift: wer sucht mit, wer schließt sich dem Suchkommando an?