genau da scheiden sich die Geister:
"Mathematik ist die radikalste aller Geisteswissenschaften"
(Gero von Randow)

Zwei simple Beispiele

(und überhaupt wird ja bereits am ganz Simplen das Grundsätzliche klar; bzw. schon die simpelste Mathematik ist

[und darum geht´s unten vor allem]

schon unvermeidbar "abgedreht"):

  1. Platons klassische Beispiel:

Was ist das?:

Ein Kreis!? Also vergrößere ich ihn mal, und es ergibt sich:

Das Ergebnis der Vergrößerung ist offensichtlich zwar noch immer weitgehend "kreisförmig", aber nicht mehr ein exakter Kreis - also (mathematisch kleinkariert gesehen) überhaupt kein Kreis mehr.

Also war auch der ursprüngliche "Kreis" kein "wirklicher", absolut exakter Kreis.

Und so ist eben kein einziger gezeichneter oder materieller Kreis ein wirklicher Kreis: absolut perfekte Kreise gibt es überhaupt nur im Kopf bzw. im "Geist".

Laut Platon muss es also die "Idee" des Kreises vor aller äußeren Erfahrung ("a priori") im Kopf gegeben haben, damit wir in der Lage sind, Kreise in der äußeren Wirklichkeit zu erkennen und beispielsweise auch bereit zu sein, z.B. als halbwegs "kreisförmig" einzuordnen.

Heutzutage, da die Industrie problemlos für das bloße Auge perfekte Gegenstände herstellt, kann man natürlich auch anders argumentieren: eine Dose wie z.B. ist tatsächlich kreisförmig, d.h. wir sehen nur die mikroskopisch kleinen Abweichungen vom perfekten Kreis nicht.

So gesehen ist "Kreis" eine nachträgliche ("a posteriori") Abstraktion aller uns tatsächlich vorliegenden Kreise. Die Abstraktion besteht dabei darin, von der Größe abzusehen.

  1. sind ja sogar schon die Zahlen Abstraktionen

(für jeden Erwachsenen sind Zahlen selbstverständlich, aber es ist doch eine Meisterleistung ohnegleichen, dass kleine Kinder sie lernen):

Z.B. ist die simple Zahl "2" das Einzige, was sämtliche Mengen, die zwei (!) Elemente enthalten, gemeinsam haben:

(Hier versagen wohl sämtliche anderen "Gemeinsamkeits-Kriterien": Äpfeln und Birnen sind zwar beide Obst, eine Dose hingegen nicht. Eine Dose ist ein Gegenstand, was man aber vermutlich nicht von Obst sagen kann.)

Abstrakt daran ist nebenbei auch, dass da zweimal derselbe Apfel bzw. zweimal dieselbe Birne bzw. zweimal dieselbe Dose auftaucht (oder nur Bilder davon), obwohl es doch jeden Apfel/jede Birne/jede Dose nur genau einmal gibt.

In der "2" ist also nur noch die Anzahl vorhanden, aber völlig abhanden gekommen, wovon die Anzahl.

Des weiteren kann man nun aber die "2" als Verdopplung ansehen.

Z.B. gilt

und entsprechend kann man jede Zahl verdoppeln, was Mathematiker mit der Formel y = 2 x darstellen

(mathematisch spricht man dabei von einer "Funktionsgleichung").

Man könnte also auch sagen, dass y = 2 x eine Art Verdopplungsmaschine ist,

Wohlgemerkt: diese Maschine ist stumpf, nicht aber die Mathematiker, denn diese werden ja den Teufel tun, für x sämtliche nur mögliche Zahlen einzusetzen. Vielmehr haben sie ja der Stumpfheit ein Ende gesetzt, indem sie für alle erdenklichen Verdoppelungen eine einzige Gleichung erschaffen haben.

In y = 2 x ist nun nicht mehr nur die "2" abstrakt, sondern insbesondere sind es auch die "Variablen" x und y. Man kann für x jede beliebige (unendlich viele!) Zahl(en) einsetzen, und y ergibt sich dann jeweils als das Doppelte von x

(wohlgemerkt: für y kann man nicht mehr beliebige Zahlen einsetzen; wenn man z.B. erstmal x = 3 gewählt hat, kann man für y nicht mehr 7 einsetzen, denn das ergäbe die falsche Gleichung  7   = 2 3 ).

Daraus folgt aber, dass sich Mathematiker überhaupt nicht mehr für konkrete x interessieren, sondern "nur" für den grundsätzlichen, mit der Gleichung y = 2 x festgelegten Zusammenhang zwischen x und y.

Noch deutlicher wird das, wenn man die Gleichung y = 2 x folgendermaßen umformt:

     y  = 2 x | : x

= 2

2 ist also das Verhältnis von y und x zueinander, aber während links in der Gleichung immerhin noch y und x auftauchen, bleibt rechts nur noch die "2", also das Verhältnis, übrig.

Diesem Verhältnis ist aber nicht mehr anzusehen, wo es herstammt, ob es also z.B. durch 11 : 5,5 oder durch 6 : 3 zustande gekommen ist. Nein, das Verhältnis gilt für alle (unendlich viele!) Zahlen y und x, bei denen y das Doppelte von x ist.

Weitere Beispiele für solche Verhältnisse sind alle Brüche oder beispielsweise auch die Prozentangabe 70 %. Da ist es für einen Mathematiker doch herzhaft egal, wovon es 70 % sind

(aber er kann es natürlich herrlich in "Anwendungsaufgaben" verpacken: 70 % Alkohol oder 70 % aller Handyoten).

Die Mathematik spricht also sehr häufig nur noch von den Verhältnissen zwischen irgendwelchen (!) Dingen, aber nicht von den konkreten Dingen selbst, und in diesem Sinne ist sie in der Tat "die radikalste aller Geisteswissenschaften": alles "Nichtgeistige" ist restlos ausgefiltert.

Paradoxerweise ermöglicht aber gerade die völlige Abstraktheit so unendlich viele "Anwendungen", da man ja beispielsweise in y = 2 x für x alles und jedes, also z.B. , oder , einsetzen kann.

(Nebenbei: mir schwant, dass das Denken in abstrakten Verhältnissen das Zentralthema der gesamten Schulmathematik ist - und ganz erheblich schwierig: wie [letztlich auch "nur" eine Abfolge von Verhältnissen] zeigt, haben da sogar Profis ihre erheblichen Schwierigkeiten.)

Nun ist aber das Denken in abstrakten geometrischen Figuren sowie abstrakten algebraischen Verhältnissen regelrecht der Alltag im üblichen Schulunterricht. Man mag das bedauern und mehr Anwendungsorientierung, also inhaltliche Füllung fordern. Dennoch ist Abstraktion aber das legitime Ziel der "eigentlichen" Mathematik, zu dem man doch immerhin hinführen möchte

(mit Anwendungen als Veranschaulichung und Vorwand).

Mir scheint aber, dass sich da eben doch auch ganz grundsätzlich die Geister scheiden:

  1. gibt es, so scheint mir, massenhaft Leute, die durch Platons Überlegungen niemals erreichbar sein werden, weil sie sich für "Kreise an sich"

(also auch jegliche Abstraktion à la   im Mathematikunterricht)

nicht im mindesten interessieren. Wenn überhaupt, so interessieren sie sich nur für "angewandte" Kreise, also eben z.B.  .

  1. mögen solche Leute vielleicht sogar die Fähigkeit haben, in abstrakten Verhältnissen zu denken, aber es interessiert sie uneinholbar nicht.

D.h. aber doch, dass der Matheunterricht (und sei er noch so gut) notgedrungen vollständig an ihnen vorbei läuft.

Und ich wette, aus ihrer Sicht ist Mathematik keineswegs "die radikalste aller Geisteswissenschaften", sondern im Gegenteil schlichtweg vollständig geistlos:

geistlos oberflächlich.
Geistlosigkeit: Stumpfsinn, Trivialität.
(Duden - Die sinn- und sachverwandten Wörter)

PS: weil ich aber in Personalunion gleichzeitig auch Deutschlehrer bin: manchmal scheint mir, dass es ebenso absolut illiterate Leute gibt, die durch keinerlei (noch so guten) Deutschunterricht erreichbar sind.

Also .