gnadenlos systematisch
oder zu viele Tasten

In der Mathematik folgt vieles gnadenlos nach einander (und aus einander), z. B.

In beiden Fällen werden also nacheinander alle möglichen Kombinationen

(erst   "reinrassig"          [ + , + , -  , -  / w,w,w, s,s,s],
 dann "gemischtrassig" [ + ,      -       / w,         s,  ])

durchgespielt

Die Gnadenlosigkeit zeigt sich dabei auch in der verzweifelten Suche nach Vollständigkeit.  So schreit die Dreieckslehre doch noch nach der einzigen fehlenden Kombinationsmöglichkeit, nämlich "w,w,s".

Ein anderes Beispiel für diese Jagd nach Vollständigkeit ist :

a  + b  = c   immer lösbar
a2 + b2 = c2 manchmal lösbar
? ?

Eine erste Antwort ist

a  + b  = c   immer lösbar
a2 + b2 = c2 manchmal lösbar
a3 + b3 = c3 nie lösbar

Und noch allgemeiner und nun endlich vollständig (für alle n):

a  + b  = c   immer lösbar
a2 + b2 = c2 manchmal lösbar
an + bn = cn nie lösbar für n > 2

Manchmal ist allerdings leider nicht "vollständige Vollständigkeit", sondern nur eine Teil-Vollständigkeit erreichbar.

Beispielsweise gilt in der Dreieckslehre

(Aber man weiß sich zu helfen: wenn ein Dreieck nicht rechtwinklig ist, zerlegt man es mittels der Höhe in zwei rechtwinklige Dreiecke, und schon kann man doch die Satzgruppe des Pythagoras bzw. die Trigonometrie anwenden.)

Und selbst im ersten Fall, also bei der Winkelsumme, war die Einschränkung "ebenen" nötig: in Dreiecken beispielsweise auf einer Kugel


Oben hatte ich schon Begriffe benutzt, die das Dilemma schön deutlich machen:

Ich vermute mal, dass sich genau hier die Geister scheiden:

  1. Spaß an einem Automatismus "aus der Sache heraus": wie sich da also - ohne menschliches Zutun - in rein logischer Folgerichtigkeit eins aus dem anderen ergibt,

  2. Spaß an den eigenen Gestaltungsmöglichkeiten,

  3. Spaß daran, wie wunderbar einerseits der Automatismus und andererseits die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten zusammen passen.

(Von wegen "meistens": es sei doch unbedingt ergänzt, dass die gnadenlose Folgerichtigkeit [und ebenso gnadenlose Suche nach Vollständigkeit] auch schon den einen oder anderen Mathematiker "in den Wahnsinn" und in Verzweiflung getrieben hat, nämlich dann, wenn ein Problem zeitweise oder bislang überhaupt nicht lösbar war.)


Im üblichen Schulunterricht empfinden die SchülerInnen wohl sehr oft die Gnadenlosigkeit der Systematik, aber wohl allzu selten den Spaß an den eigenen Gestaltungsmöglichkeiten.

Das liegt vermutlich daran, dass die Gnadenlosigkeit meist nur in zwei Formen auftaucht:

  1. als permanente Rechthaberei der Mathematik,

  2. als "Mikro-Gnadenlosigkeit" von Einzelbeweisen.

 Was in Schulen vor lauter "Einheitsbrei"

(beispielsweise Termumformungen bis zum Abwinken)

weitgehend fehlt, sind

Beispiel sei da wieder die Dreieckslehre: wann wird denn mal

Wo wird denn überhaupt mal solche (weitestmögliche) Vollständigkeit explizit als langfristiges Projekt erwähnt?

Ich glaube auch nicht, dass diese langfristige Vollständigkeit "a priori" (wenn man in der 5. Klasse ist) automatisch frustrierend etwa nach dem Motto

"oh Gott, wie viel noch zu tun ist; und das ist doch alles noch unvorstellbar weit weg"

ist. Sondern ich habe es vielfach erlebt, dass die SchülerInnen sehr gespannt auf das waren, was ihnen noch "bevorstand". Nur darf man nicht bloß erwähnen, was später noch kommt, sondern sollte es den SchülerInnen

(etwa nach dem Motto "das ist ja eigentlich was für Große, aber ihr seid ja auch nicht dumm")

schon partiell "zumuten" und sie derart "bei ihrer Ehre packen".

Beispielsweise sollte man bei der Einführung der Brüche (5./6. Klasse) irrationale Zahlen nicht - wie üblich - verschweigen und darf man sie auch nicht bloß erwähnen

(und dann auf die 9. Klasse verweisen, wo sie genauer behandelt werden; das wäre, als würde man einen Krimi nur halb erzählen und dann sagen: "In drei Jahren erzähle ich euch, wer der Mörder ist.").

Sondern man sollte eben auch schon die 5.-/6.-KlässlerInnen mit irrationalen "Schlangen" à la

1, 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 ...

oder

1, 0 1 00 1 000 1 0000 1 ...

hantieren lassen

(sie tun das ungeheuer gern!).

Und umgekehrt wird mir doch allzu selten "a posteriori" (in der 10. Klasse) der Stolz darauf herausgestellt, dass man nun tatsächlich endlich "alles" erreicht hat, nämlich z.B.

  1. w,w,w / s,s,s / w,s,s,

  2. sämtliche Funktionenklassen, die überhaupt in der Schule vorkommen - und die dann in der Oberstufe "nur" noch genauer untersucht werden.

(Genauer: "Bislang können wir sowas Wichtiges wie das Maximum/Minimum nur - mittels der Scheitelpunktsform - für Parabeln bestimmen; da steht es natürlich noch aus, das auch für alle anderen [uns inzwischen ja bekannten] Funktionenklassen zu können.)

Es müsste also deutlicher werden, dass 10.-KlässlerInnen auch fachlich (mathematisch) ein wichtiges (Zwischen-)Ziel erreicht haben und auch in diesem Sinne einen (mittleren) Schul-Abschluss erhalten.


Ein Beispiel für den Spaß an den eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, ja der Gaudi am Rumspielen ist "w,s,s", also die Trigonometrie:

angenommen mal, der Sinus ist schon in all seinen Fassetten eingeführt worden:

Sinus

  1. Definition am Einheitskreis:

  1. Verhältnis:

sin (α) =

  1. Funktionsgraph:

Dabei soll uns hier gar nicht interessieren, wie 1., 2. und 3. zusammen hängen bzw. wie sich 2. und 3. aus 1. ergeben.

Sondern wir spielen einfach mit 1. und 2. herum und entwickeln eine Alternative, die wir dreist "Cosinus" nennen. In logischer Abwandlung des Sinus ergibt sich dann:

Sinus

Cosinus

  1. Definition am Einheitskreis:

  1. Definition am Einheitskreis:

  1. Verhältnis:

sin (α) =

  1. Verhältnis:

cos (α) =

  1. Funktionsgraph:

 

Wir haben also

Noch kurz sei der Funktionsgraph des Cosinus ergänzt:

Sinus

Cosinus

  1. Definition am Einheitskreis:

  1. Definition am Einheitskreis:

  1. Verhältnis:

sin (α) =

  1. Verhältnis:

cos (α) =

  1. Funktionsgraph:

  1. Funktionsgraph:

Da wir bisher mit den Verhältnissen und gespielt hatten, liegt es jetzt nahe, mal nur die Katheten zu kombinieren, also z.B. in der Version . Was sich dabei neu ergibt, nennen wir probeweise mal (und doch mit Hintersinn) "Tangens", und somit erhalten wir:

Sinus

Cosinus

Tangens

  1. Definition am Einheitskreis:

  1. Definition am Einheitskreis:

 
  1. Verhältnis:

sin (α) =

  1. Verhältnis:

cos (α) =

  1. Verhältnis

tan (α) =

  1. Funktionsgraph:

  1. Funktionsgraph:

 

Wie schon gesagt, hatten wir den Namen "Tanges" mit Hintersinn gewählt. "Tangens" ist natürlich von "Tangente" abgeleitet, und dementsprechend zeichnen wir nun an den Einheitskreis eine Tangente.

Weil aber

wählen wir nun auch eine vertikale Tangente.

 

Der Tangens wird nun aber nicht mehr innerhalb des Einheitskreises gemessen, sondern außerhalb auf der Tangente, und damit erhalten wir

(wobei wir zusätzlich auch schon den Funktionsgraph des Tangens ergänzen):

Sinus

Cosinus

Tangens

  1. Definition am Einheitskreis:




  1. Definition am Einheitskreis:




  1. Definition am Einheitskreis:

  1. Verhältnis:

sin (α) =

  1. Verhältnis:

cos (α) =

  1. Verhältnis:

tan (α) =

  1. Funktionsgraph:

  1. Funktionsgraph:

  1. Funktionsgraph:

Nun hätten wir statt aber natürlich genauso gut wählen könnten - und jetzt rate man mal, wie wir Letzteres nennen: natürlich

(weil jetzt die Ankathete genauso im Zähler steht wie beim COsinus)

COtangens!

Und weil der Cosinus in horizontal abgetragen wurde, wählen wir jetzt natürlich auch eine horizontale Tangente, auf der wir den Cotangens einzeichnen:

Inkl. Funktionsgraph erhalten wir dann

Sinus

Cosinus

Tangens

Cotangens

... ...
  1. Definition am Einheitskreis:

  1. Definition am Einheitskreis:




... ...
  1. Verhältnis:

tan (α) =

  1. Verhältnis:

cot (α) =

... ...
  1. Funktionsgraph:

  1. Funktionsgraph:

Die derart erarbeitete Systematik wird noch deutlicher, wenn man folgendermaßen sortiert:

Sinus

Cosinus

Tangens

Cotangens

  1. Definition am Einheitskreis:
  • innerhalb des Einheitskreises

     

  • vertikal

  1. Definition am Einheitskreis:
  • innerhalb des Einheitskreises

     

  • horizontal

  1. Definition am Einheitskreis:
  • außerhalb des Einheiskreises/
    auf einer Tangente

  • vertikal

  1. Definition am Einheitskreis:
  • außerhalb des Einheitskreises/
    auf einer Tangente
  • horizontal
  1. Verhältnis:
  • Kathete/Hypotenuse
     
  • Gegenkathete im Zähler
  1. Verhältnis:
  • Kathete/Hypotenuse
     
  • Ankathete im Zähler
  1. Verhältnis:
  • zwei Katheten
  • Gegenkathete im Zähler
  1. Verhältnis:
  • zwei Katheten
  • Ankathete im Zähler

Oder noch augenfälliger:

Sinus

Cosinus

Tangens

Cotangens

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Man sieht, dass wir somit in vielfältiger Kombination alle Möglichkeiten durchgespielt haben.

Nochmals: wir hatten einfach wild draufloskombiniert, aber noch keinerlei Rücksicht darauf genommen, ob sich da auch jeweils 2. und 3. logisch aus den Definitionen (also 1.) ergeben.

Da sei an die verschiedenen Formen von Spaß erinnert, die oben genannt worden waren:

  1. Spaß an einem Automatismus "aus der Sache heraus": wie sich da also - ohne menschliches Zutun - in rein logischer Folgerichtigkeit eins aus dem anderen ergibt,

  2. Spaß an den eigenen Gestaltungsmöglichkeiten,

  3. Spaß daran, wie wunderbar einerseits der Automatismus und andererseits die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten zusammen passen.

Und in der Tat lässt sich zeigen, wie jeweils 2. und 3. logisch aus den Definitionen (1.) folgen, dass also laut C. unsere Knobellust (B.) durchaus mit dem mathematischen "Automatismus" (A.) harmoniert, wir also nicht Unsinn erknobelt haben.


Eigentlich war die Einführung des Cotangens witzlos, da er keine neuen Informationen enthält, sondern mit nur der Kehrwert des Tangens, also von , ist. Und dementsprechend fehlt auch auf allen Taschenrechner eine Cotangens-Taste.

Nun lässt sich aber auch schnell zeigen, dass

tan (α) = =
            

Das aber heißt, dass man den Tangens auch aus Sinus und Cosinus berechnen kann - und deshalb eigentlich auch die Tangens-Taste auf Taschenrechnern überflüssig ist:

Wenn man nun noch die Graphen von Sinus und Cosinus vergleicht, stellt man zudem fest, dass der Graph des Cosinus nur um π /2 gegenüber dem des Sinus "versetzt" ist

 so dass man den Cosinus folgendermaßen aus dem Sinus erhalten kann:

cos (ß) = sin (α - π /2)

Also ist eigentlich sogar auch noch die Cosinus-Taste auf dem Taschenrechner überflüssig - und brauchen wir nur die Sinus-Taste:

(Grund dafür, die COS- und TAN-Taste dennoch auf dem Taschenrechner zu belassen, ist, dass man dann nicht andauernd Umrechnungen durchführen muss.)


Wo wir nun doch bei den Funktionsgraphen angekommen sind, noch kurz - wieder hübsch systematisch - dreierlei:

  1. haben wir hier erstmals periodische Funktionen, die sich also nach links und rechts gleichmäßig und unendlich oft wiederholen

(bei der Sinus- und der Cosinus-Funktion mit unendlich vielen Nullstellen, Minima, Maxima und Wendepunkten in immer gleichem Abstand),

  1. haben wir mit der Sinus- und dem Cosinus-Funktion beidseitig "beschränkte" Funktionen, weil beide niemals über +1 und unter -1 gehen

(der einzige Fall, in dem das früher der Fall war, waren jene simplen linearen Funktionen, die parallel zur x-Achse sind, also z.B. y = 3).

  1. haben wir mit Tangens- und Cotangens Funktionen, die asymptotisch gegen Parallelen zur y-Achse laufen

 (bislang waren "nur" bekannt: