mit der Hand oder mit dem Kopf?

Konkreter Anlass: Herleitung der Formel für den Kreisumfang, also von U = 2 r.

Ich hatte an Schülergruppen verschiedene runde Schachteln

verteilt, und die Gruppen sollten nun die Umfänge messen.

Schnell war auch hergeleitet, dass diese Umfänge wohl (wie?) von den Radien abhängen.

Wie aber findet man überhaupt den Radius bzw. Durchmesser einer runden Schachtel heraus?

Genau diese Frage war aber schon falsch bzw. allzu suggestiv gestellt, denn die SchülerInnen legten einfach (!) Lineale quer über die Dosen und hatten sofort Ergebnisse.

D.h. die SchülerInnen hatten überhaupt keine Probleme, wo für "richtige" MathematikerInnen durchaus ein Problem besteht:

"einfach ein Lineal quer über die Dosen zu legen" ist für "richtige" Mathematiker viel zu ungenau bzw. ein einziges "Schwabbelverfahren". Vom Prinzip her funktioniert es nämlich folgendermaßen:

man legt den Nullpunkt des Lineals in einen beliebigen (Fix-)Punkt auf dem Kreisrand

und dreht dann das Lineal sukzessive um diesen Fixpunkt, also beispielsweise erst in die Position

und dann bis zu

Und zwar tut man das

(ich formuliere hier bewusst "unsauber", also schülernah),

bis der größtmögliche Wert für den Durchmesser gemessen wird, womit man dann eben diesen Durchmesser hat.

Wann aber genau ist das der Fall? Also z.B. in der Position 1 oder 2?:

Dabei sei unterstellt: weil wir nur auf Millimeter genau messen können, wird in beiden Positionen derselbe Durchmesser angezeigt.

Und die Unterstellung hinter meiner gesamten Argumentation ist natürlich, dass solch ein Verfahren nie zu "wirklich exakten" Werten führen kann, sondern immer nur " [!!!] mal Daumen" funktioniert - und das "keine richtige Mathematik" ist.

Solch eine Argumentation läuft aber - und genau darum gehts mir hier - völlig an SchülerInnen vorbei, und zwar aus mehreren Gründen:

  1. gehen sie eben nicht so typisch mathematisch, d.h. systematisch vor (Drehen des Lineals um 0), sondern nach "Augenmaß";

  2. wird dieses "Augenmaß" vermutlich nur die beiden Positionen 1 und 2 umfassen, an denen die Systematik aber gar nicht klar wird;

  3. liefern die beiden Positionen 1 und 2 ja, wie gesagt, wegen der Messungenauigkeit denselben Durchmesser (bzw. Radius), und deshalb ist es doch herzhaft egal, welche der beiden Positionen 1 und 2 nun die "richtige" ist

(schließlich ging es um den richtigen Durchmesser, nicht um die richtige Position des Lineals).

  1. könnte man durchaus widersprüchlich argumentieren:

  1. sind die Dosen sowieso derart unregelmäßig, dass Messungenauigkeiten unerheblich sind;

  2. - und so würden SchülerInnen wohl eher argumentieren - scheinen die Dosen

(oder genauer: ihre zu messenden Unterseiten)

eben doch absolute Kreise zu sein.

  1. und vor allem aber reichen den SchülerInnen allemal ungefähre Werte, da

  1. sie die Problematik von π ja noch gar nicht kennen

(eine irrationale, ja sogar transzendente Zahl),

  1. bei jeglichen Anwendungen sowieso Näherungswerte reichen und der Taschenrechner ja auch nur einen Näherungswert liefert

(der allerdings für viele SchülerInnen gar nicht erkennbar ist, da sie dem Taschenrechner jede Angabe als exakt abnehmen).

(Nebenbei: dass π irrational oder sogar transzendent ist, bleibt ja im Unterricht pure Behauptung, ist nämlich mit den bis da vorliegenden mathematischen Möglichkeiten noch gar nicht beweisbar.

Und selbst die übliche geometrische "Einschachtelung" mit Innen- bzw. Außenvielecken beweist das nicht: zwar zeigt sie, dass man den exakten Wert von π unendlich annähern kann, was aber nicht ausschließt, dass er dennoch rational, also z.B. periodisch, ist.

Überhaupt lässt sich über die "Einschachtelung" trefflich streiten:

  1. ist zwar das Verfahren allemal interessant, da es - fast zum ersten Mal in der Schulzeit - den Grenzwert ahnen lässt und die Integration vorbereitet;

  2. ist aber die genauere Rechnung derart kompliziert, dass sie wohl kaum (etwa für vier Stellen von   hinterm Komma genau) durchführbar ist;

  3. gibt es für SchülerInnen da gar nichts mehr zu rechnen, da für sie ja sowohl die Umfangsformel U = 2 π r samt 3,14 längst gewiss ist

[vgl. ];

  1. argumentieren sie durchaus: "Wenn π  irrational ist, könne wir es ja sowieso nur annähern, aber nie exakt erreichen. Wieso also überhaupt mit der Annäherung anfangen?")


Die Frage nach dem exakten Durchmesser bzw. Radius läuft natürlich

(bzw. - und das ist geradezu das Herz meiner Argumentation hier - nur für MathematikerInnen natürlich)

darauf hinaus, wie man denn exakt den "verloren gegangenen" Mittelpunkt eines Kreises wiederfindet.

Und schon sind wir beim nächsten Problem:

  1. Falls die SchülerInnen noch nicht die ja eigentlich erst herzuleitende Umfangsformel U = 2 π r kennen, wird es für sie wohl kaum einen Grund geben, mit dem Radius r zu arbeiten, sondern werden sie den Durchmesser d vorziehen

(den SchülerInnen kann ja noch kaum klar sein, weshalb die MathematikerInnen den Radius r vorziehen, was in der Formel U = 2 r, die man ja genauso gut U =  d schreiben könnte, vermutlich sowieso vor allem deshalb geschieht, damit auch die Kreisflächenformel F =  r2 einfach ist);

  1. scheint zur Messung des Durchmessers d (anders als des Radius r) der Kreismittelpunkt überhaupt nicht nötig;

  2. werden selbst SchülerInnen, die auf den Radius r hinaus wollen, doch wohl erst den Durchmesser d ausmessen und diesen dann halbieren

(den Radius r also nur rechnerisch erhalten).

Wenn so suggestiv-unverständlich nach dem exakten Durchmesser bzw. Radius und dazu noch hintenrum nach der Bestimmung des Mittelpunkts gefragt wird, so ist das natürlich (?) eine Anspielung auf etwas, was schon Jahre vorher in der Schule dagewesen sein sollte, den SchülerInnen aber anscheinend längst wieder abhanden gekommen ist, weil die SchülerInnen es nie "einsehen" konnten:

die Konstruktion (!) des Kreismittelpunkts mittels Zirkel und Lineal!

(Nebenbei: man kann sich ja durchaus treffliche streiten, ob die Wiederholung dieser Konstruktion bei der Herleitung von π überhaupt sinnvoll ist.

Und wie eigentlich ist den SchülerInneN verständlich zu machen, dass MathematikerInnen nur Konstruktionen mit Zirkel und Lineal zulassen?

[Ehrlich gesagt, ich weiß auch nicht so genau den Grund dafür.]

Und spätestens seit Kepler sollte man doch wissen, dass die seit den alten Griechen einseitige Dominanz des Kreises gefährlich betriebsblind machen kann.)

Gemeint ist also folgendes, hier nur verkürzt dargestelltes Konstruktionsverfahren:

  1. Man zeichnet eine beliebige Sekante des Kreises

(sie sollte allerdings nicht durch den vermutlichen Mittelpunkt gehen - was für SchülerInnen schon wieder eine arg schizophrene Arbeitsanweisung sein muss, denn den Mittelpunkt suchen wir doch gerade erst und es ist ihnen doch gerade noch indirekt verboten worden, ihn nach Augenmaß einzuzeichnen):

  1. wird nun (eigentlich mittels Zirkel) die Mittelsenkrechte zur Strecke AB konstruiert:

  1. konstruiert man nun nach demselben Verfahren eine weitere Sekante samt ihrer Mittelsenkrechten:

... und der Schnittpunkt M dieser beiden Mittelsenkrechten ist eben auch der Kreismittelpunkt.

Nun kann man aber im Hinblick auf das zu erwartende Unverständnis bei SchülerInnen gar nicht genug problematisieren:

  1. muss ihnen

(falls sie nicht alles widerspruchslos schlucken)

dieses Kreismittelpunkts-Konstruktionsverfahren ja fast als geradezu aberwitzig unlogisch bzw. "hinterfotzig" erscheinen:

(allerdings nehmen die SchülerInnen bei ihrer Durchmesserermittlung [s.o.] ja auch willkürlich einen Fixpunkt 0),

(Ich finde das ja sogar selbst noch staunenswert!)

  1. könnten SchülerInnen, denen gerade noch Ungenauigkeit (bei der Durchmesserbestimmung) vorgeworfen wurde, nun "zurückschießen", dass die Zeichnung um nichts genauer sei, da der Kreis ja ebenfalls nur annähernd kreisförmig sei.

"könnten"!?: genau das werden SchülerInnen

(und damit sind wir wieder im Zentrum meiner Argumentation hier)

eben nicht tun: für sie ist ein genau gezeichneter Kreis wirklich ein exakter Kreis.


Was also SchülerInnen nicht, aber LehrerInnen allzu klar ist, ist der Rang von :

dass es exakte Kreis samt exakter Kreismittelpunkt- und Durchmesser-/Radiusbestimmung "nur" im Kopf gibt und Planskizzen nur Gedächtnisstützen sind.

Und weiterhin:

dass der Spaß der MathematikerInnen allein im Kopf stattfindet und sie schnöde handwerkliche "Schwabbelverfahren" als "eben nur ungefähr, aber nicht exakt" fast schon verachten.

Das lässt sich dann auch anhand der Zahl π zeigen: MathematikerInnen haben durchaus ihren Spaß daran, dass man die Zahl π mittels verschiedener Näherungsverfahren beliebig annähern kann, aber sie pfeifen darauf, dass man sie nie exakt (komplett) aufschreiben kann. Für sie existiert diese Zahl π mit all ihren wundersam unergründlichen Nachkommastellen eben doch

(und gibt da mit der "Transzendenz" herrliche Rätsel auf),

und sie können dann auch prächtig damit hantieren.

(Genau genommen - und das wird jedem Laien endgültig das Gehirn ausrenken - gibt es für Mathematiker die Zahl π überhaupt nur als zwar unendlich nah annäherbares, aber nie erreichbares Ziel [Grenzwert] der Annäherungen, also etwa nach dem Motto "meine Liebe wird dir ewig nachschleichen [und immer näher kommen], dich aber nie erreichen".)

Vermutlich ist es also so, dass der eigentliche Spaß der Mathematiker genau da anfängt, wo der Laienverstand aussetzt oder nur noch Esoterik erkennt.

Und genau das führt eben zu immensen Problemen im Matheunterricht: man (LehrerInnen/SchülerInnen) redet meilenweit aneinander vorbei, und es ist äußerst schwierig, die SchülerInnen auf den im eigentlichen Sinne mathematischen Weg zu "bringen".


Die Alternative "mit der Hand/mit dem Kopf" hat schnell den herablassenden Unterton, dass, wer "nur" (in der Mathematik) mit der Hand arbeitet, dumm sei.

(Vgl. "»Sieh mal, Vati, ich arbeite eben anders als du, ich machs mit dem Kopf!« »Hm, mit dem Kopf habe ich noch nie gearbeitet!«" aus den Wicki-Filmen)

Da bleibt darauf zu bestehen, dass solche Arbeit mit der Hand

  1. ein ganz natürliches vor-theoretisches Stadium und
  2. in der Praxis sowieso das einzig Wahre ist,

die SchülerInnen also nicht falsch liegen

(oder höchstens aus rein innermathematischer Sicht),

sondern anders arbeiten.


Mit der Unterstellung von Dummheit eng zusammen hängt der (im Unterricht häufige) Eindruck von LehrerInneN:

"Jetzt machen wir das [eben z.B. "Konstruktionen im Kopf"] schon seit Ewigkeiten, und die Hornochsen [SchülerInnen] können es noch immer nicht."

Da gibt es nur zwei Erklärungsmöglichkeiten:

(manchmal scheint mir tatsächlich, dass LehrerInnen sich endlich eingestehen sollten, dass ihre Didaktik & Methodik, ja sogar ihr Fachverständnis regelmäßig versagt, statt andauernd die SchülerInnen der Dummheit zu verdächtigen).


Nun muss man manchmal einfach nur die vielfältigen Probleme (ohne Lösungen!) aufzeigen, um das allzu Selbstverständliche zu untergraben.

Dennoch aber möchte ich hier nicht bei der Diagnose stehen bleiben, dass alles ach so schrecklich kompliziert sei.

Die Frage ist doch, ob es nicht Wege gibt, um die SchülerInnen besser mit dem Kopf arbeiten zu lassen.

Eine erste Möglichkeit scheint mir darin zu bestehen

(und das ist ja geradezu mein Credo bei ),

vermehrt mit Bildern zu arbeiten und darauf zu vertrauen, dass sie sich irgendwann in den Köpfen der SchülerInnen festsetzen.

Eine zweite Möglichkeit sehe ich darin, was ich mal "Kopf-Turnstunden" nennen möchte:

man muss sich

(gegen den zunehmenden Druck aus Kernlehrplänen, Klausuren und zentralen Prüfungen)

die Zeit nehmen, vermehrt die Vorstellungskraft der SchülerInnen zu trainieren, indem man nicht mehr (nur) im Heft oder an der Tafel arbeitet, sondern Gedankenreisen und Gedankenspiele durchführt wie z.B.