ironische Matheaufgaben

 

"Iro|nie [gr.-lat.] die; [...] feiner, verdeckter Spott, mit dem man etwas dadurch zu treffen sucht, daß man es unter dem auffälligen Schein der eigenen Billigung lächerlich macht [...]."
(Duden)

Ironie ist schnell nur verbiestert ohne .

Es bedurfte ja wohl nicht erst des internationalen Vergleichs / der selbsterfüllenden Prophezeiung   , um zu bemerken, dass "die" deutschen SchülerInnen

(bei aller Notwendigkeit der Fächerabgrenzung, also Systematik!)

allzu eingleisig denken. Vgl. u.a. .

Die Kultusbürokraten haben auch prompt reagiert - und fordern ab sofort im Abitur  "vernetztes" und "praktisches" Denken ein: beispielsweise

Es ist schier unglaublich, was für ein an den Haaren herbeigezogener Schwachsinn

("Emilia Galotti schreibt einen Brief an Franz Kafka")

da oftmals zustande kommt. Aber wie ein Dezernent

(der ungenannt bleiben wollte und deshalb auch bleibe)

mal zu mir sagte:

"Das wissen wir auch, aber Hauptsache, da werden pro forma »Produktionsorientierung« betrieben bzw. »Anwendungsaufgaben« gestellt."


Aber stimmt das eigentlich wirklich, dass "man" den Schwachsinn sehr wohl bemerkt - und ihn dann stillschweigend durchgehen lässt?

Dazu werden mir

(um jetzt endgültig bei der Mathematik zu bleiben)

scheinbare ("eingekleidete") "Anwendungsaufgaben" doch allzu oft im Brustton der Überzeugung als echte Anwendungsaufgaben ausgegeben.

(Die Belege spare ich mir.)


Nun kann man natürlich auch ironisch werden, d.h. ganz besonders haarsträubende "eingekleidete Anwendungsaufgaben" produzieren.

Nun ist es aber das Problem bei der Ironie, dass kein Schwein sie bemerkt.

D.h. ich wette, dass einige Leute die unten angeführten Aufgaben sehr wohl für echte, ja sogar für besonders gelungene Anwendungsaufgaben halten werden.

Kommt hinzu, dass es natürlich auch unfreiwillige Ironie gibt: es sei also nicht verraten, ob der Lehrer, der die unten angeführten Aufgaben entwickelt hat,

Bei der Genehmigung durchgegangen sind die beiden folgenden (echten!) Abiaufgaben allemal, und die erste ist sogar als besonders wirklichkeitsnah gelobt worden!

(Ich habe mir die Freiheit genommen, die beiden Aufgaben auf ihren Kern hin zu verkürzen.)

Ein ironisch noch nicht ganz ausgereiftes Beispiel ist die

Erste Aufgabe:

  1. Von der Dreieckspyramide ABCS ist bekannt:

  1. Die Grundfläche ABC liegt in der x-y-Ebene.

  2. Die Seitenfläche BCS liegt in der Ebene E: 15x+20y+8z = 40 .

  3. Die Kante AS liegt auf der Geraden  g: .

  4. Die Kante AC hat die Länge 5.

  5. Die Kante BC  hat den Mittelpunkt N(2 / 0,5 / 0).

[...]

  1. Auf einem Kinderspielplatz steht ein Klettergerüst in der Form der oben berechneten Pyramide  (1LE = 0,5m).  Aus Sicherheitsgründen ist festgelegt, dass die Seitenflächen des Klettergerüsts keinen steileren Winkel als 75° mit der Bodenfläche bilden dürfen, wobei 2% Abweichung noch toleriert werden.  Prüfe, ob die Bauaufsicht die Pyramide, deren steilste Seitenfläche   ACS ist, akzeptieren wird.

  2. Das Klettergerüst soll im Winter durch eine Plexiglaskuppel  in Form einer unten abgeschnittenen Kugel geschützt werden:   Aus Kostengründen soll der Bodenkreis möglichst klein sein.

  1. Bestimme Mittelpunkt M1 und Radius r1 des Bodenkreises der Kuppel.                  

  2. Berechne Mittelpunkt M, Radius r und Höhe h der Kuppel.

Zur Ehrenrettung dieser Aufgabe lässt sich höchstens sagen, dass da ein abstraktes Problem mittels der Kletterpyramide zu veranschaulichen versucht wird.

Aber von "Anwendung" kann natürlich aus mehrerlei Gründen nicht die Rede sein:

  1. wird keine Kletterpyramide derart vektorgeometrisch konstruiert, wie es in dieser Aufgabe vorgegeben wird;

  2. haben Kletterpyramiden niemals die verquere Form, die die Dreieckspyramide in dieser Aufgabe hat;

  3. völlig ausgeschlossen - und da wird´s dann endlich ironisch - ist aber, dass eine Stadt auf die aberwitzige Idee kommt, eine Kletterpyramide durch eine Plexiglaskuppel vor Witterungseinflüssen zu schützen;

  4. und vollends absurd ist natürlich die technisch kaum machbare bzw. - wenn doch - immens teure riesige Plexiglaskuppel.

Zu endgültiger ironischer Meisterschaft ist der Autor dieser Aufgaben aber aufgelaufen mit der

Zweiten Aufgabe:

In Camford, einer Hochburg der britischen Mathematik, sind selbst Gebrauchsgegenstände häufig mathematisch verfremdet. So hängt z.B. im Aufenthaltsraum der Mathematikdozenten ein quadratisches Dart-Brett, dessen Felder nicht durch Kreise, sondern durch Funktionsgraphen begrenzt sind.

Diese Graphen haben folgende Eigenschaften:

  1. Sie sind punktsymmetrisch zur Brettmitte.

  2. Sie berühren die Unterkante des Bretts.

  3. Sie verbinden die linke untere mit der rechten oberen Brettecke.

Ein möglicher Beispielgraph ist .

An dieser Aufgabe wird nun erst eine Menge Analysis betrieben, dann folgen aber Fragen nach der Wahrscheinlichkeit, mit der ein gewisser Professor Throwman (!!!) die Felder trifft.

Mit dieser zweiten Aufgabe wird nicht nur die kultusbürokratische Anforderung "Anwendungsaufgaben" ad absurdum getrieben, sondern zeigt sich noch

eine viel fundamentalere Ironie, die mich erheblich mehr fasziniert als launige Kämpfe gegen die Windmühlen der Kultusbürokratie, nämlich

eine spielerische Ironisierung der Wirklichkeit selbst.

"Das ist das besonders Paradoxe an der Mathematik:
So entschlossen ihre Vertreter auch die reale Welt ignorieren,
so eifrig liefern sie doch das beste [?] Handwerkszeug zu ihrem Verständnis."
(John Tierney)

Die zweite Aufgabe gibt ja nicht mal mehr (wie noch die erste) vor, eine (vermeintliche) Wirklichkeit (ein reales Darts-Spiel) zu meinen, sondern diese(s) ist ihr überhaupt nur noch Anlass und (notwendiger?!) Ausgangspunkt für (mathematische) Phantasie

(... und vielleicht auch Veranschaulichungsmöglichkeit).

Ansonsten aber gilt: "Was schert mich die schnöde Wirklichkeit, ich [gerade als Mathematiker!] erfinde sie mir selbst bzw. verdrehe sie, wie´s mir passt."

Der Gärtner der auch ansonsten wegen ihrer aberwitzig-unrealistischen Regelungswut berühmt-berüchtigten Margot Honecker sagte mal: "Wenn sie es gewollt hätte, hätten wir die Bäume auch mit den Wurzeln nach oben gepflanzt." ... ein immerhin doch reizvoller Gedanke!

Man muss wohl "richtigeR" MathematikerIn sein, um diese Art des ironischen Umgangs mit der Wirklichkeit reizvoll zu finden.


PS: vgl. auch