irre, was die Mathematik alles (nicht) kann

Glücklicherweise müssen Lehrer ja nicht immer so gestriegelt-phantasielos im Anzug

(und mit das Gehirn abwürgendem Schlips)

rumlaufen wie beispielsweise Banker

(was ja nicht heißt, dass Lehrer - was ja üblich ist - wie kleine Jungs angezogen sein sollten).

Aber es gibt mathematische (!) Anlässe, da sollten Mathelehrer allerfeinst gewandet in der Klasse erscheinen:

Man könnte das zudem ja noch mit Paukenschall, Schalmeienklang und - schweinelaut! -

garnieren.

Natürlich sollte das alles mit einer gewissen Portion geschehen, und doch meine ich es durchaus auch ernst: Warum nicht mal - auch durch die Gewandung symbolisiert - ?!


Drei Anlässe für feine Robe:

  1. , wenn beispielsweise ein Schüler, der sonst immer Fünfen schrieb, plötzlich eine Zwei schreibt.

(... und zwar auch dann - da sollte ein Lehrer drüber stehen bzw. dazulernen können -, wenn man diesen Schüler nicht gerade mag.

Aber ich bin mir gar nicht so sicher, ob man solch eine Verbesserung der Leistung eines Schülers so raushängen lassen sollte. SchülerInnen fühlen sich - insbesondere beim leisesten Hauch von [vielleicht nicht mal beabsichtigter] Ironie - schnell vorgeführt.)

  1. , wenn eine Klasse "angeleitet-selbstentdeckend" eine entscheidende Beweisidee hatte.

Vgl. "die Klasse als Sonder-Einsatz(such)-Kommando".

  1. , wenn sowas in der Zeitung steht:

Primzahlen ohne Ende
Von Heinrich Hemme


06. Juli 2004 Jedes Schulkind lernt im Mathematikunterricht irgendwann einmal die arithmetischen Zahlenfolgen kennen. Das sind Aneinanderreihungen von Zahlen, bei denen die Abstände zwischen je zwei aufeinanderfolgenden Gliedern gleich sind - etwa bei der Folge 5, 8, 11, 14, 17, 20. Der Abstand der Glieder beträgt hierbei jeweils 3. Vor kurzem haben zwei Mathematiker die mehr als achtzig Jahre alte Hardysche Vermutung bewiesen, daß es auch arithmetische Folgen beliebiger Länge gibt, die nur aus Primzahlen bestehen. Außerdem ist es ihnen gelungen, zu zeigen, daß es zu jeder vorgegebenen Länge sogar jeweils unendlich viele arithmetische Folgen von Primzahlen gibt.

Arithmetische Folgen sind seit Jahrtausenden bekannt und bergen eigentlich keine Geheimnisse mehr. Spannend wird es erst dann, wenn die Glieder einer arithmetischen Folge noch zusätzliche Eigenschaften haben sollen, wie das bei Primzahlen der Fall ist. Primzahlen sind ganze Zahlen, die größer als 1 und nur durch 1 und sich selbst ohne Rest teilbar sind. Die zehn kleinsten Primzahlen sind 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23 und 29. Eine arithmetische Primzahlfolge mit fünf Gliedern ist beispielsweise 5, 17, 29, 41, 53. Der Abstand der Zahlen beträgt jeweils 12. Diese Folge läßt sich nicht verlängern, denn das nächste Glied müßte 65 sein, und diese Zahl ist das Produkt aus 5 und 13 und somit keine Primzahl.

Wieviel Glieder sind möglich?

Wie viele Glieder kann eine arithmetische Primzahlfolge haben? Mit dieser Frage haben sich schon um 1770 der Franzose Joseph-Louis Lagrange und der Engländer Edward Waring beschäftigt. Im Jahre 1923 vermuteten der berühmte britische Mathematiker Godfrey Harold Hardy und sein Kollege John Littlewood, daß es keine Obergrenze für die Zahl der Glieder gebe. Doch es gelang ihnen nicht, das zu beweisen. Im Jahr 1939 gab es jedoch einen anderen Fortschritt. Der holländische Mathematiker Johannes van der Corput konnte schlüssig zeigen, daß es unendlich viele arithmetische Primzahlfolgen mit genau drei Gliedern gibt. Zwei Beispiele hierfür sind 3, 5, 7 und 47, 53, 59.
Die längsten Primzahlfolgen, die man bisher kennt, haben 22 Glieder. Die erste dieser Folgen entdeckten Paul A. Pritchard, Andrew Moran und Anthony Thyssen im Jahr 1993. Sie beginnt mit der Zahl 11 410 337 850 553, und jedes weitere Glied ist um 4 609 098 694 200 größer als das vorhergehende. Eine zweite Primzahlfolge mit 22 Gliedern hat der Mathematiker Markus Frind im vergangenen Jahr gefunden. Ihre erste Zahl ist 376 859 931 192 959, und der Abstand zwischen den Gliedern beträgt 18 549 279 769 020.

Beweis auf 49 Seiten

In seinen Memoiren hat Hardy 1940 geschrieben, daß die Mathematik mehr als alle anderen Wissenschaften und Künste ein Spiel für junge Leute sei. Der 27 Jahre alte Ben Green von der University of British Columbia in Vancouver und der 29 Jahre alte Terence Tao von der University of California in Los Angeles scheinen ihm recht zu geben. Den beiden jungen Mathematikern ist es gelungen, die nach ihm benannte Vermutung von 1923 zu beweisen: Es gibt arithmetische Primzahlfolgen beliebiger Länge und außerdem zu jeder vorgegebenen Länge unendlich viele Folgen.
Eigentlich hatten Green und Tao nur beweisen wollen, daß es unendlich viele arithmetische Primzahlfolgen mit vier Gliedern gibt. Dazu betrachteten sie Mengen, die neben Primzahlen auch Beinaheprimzahlen enthielten. Das sind Zahlen, die nur wenige Teiler haben - beispielsweise die Halbprimzahlen, die Produkte aus genau zwei Primzahlen sind. Dadurch konnten die beiden Mathematiker ihre Arbeit wesentlich erleichtern, denn über Beinaheprimzahlen gab es schon zahlreiche nützliche Theoreme. Schließlich erkannten sie, daß ihr Verfahren viel mächtiger ist, als sie selbst angenommen hatten, und sie bewiesen damit die Hardysche Vermutung.
Wer nun glaubt, man könne mit Greens und Taos Verfahren, dessen Darstellung immerhin 49 Seiten umfaßt, tatsächlich beliebig lange arithmetische Primzahlfolgen finden, wird enttäuscht sein. Der Beweis ist nicht konstruktiv. Das heißt, die beiden Mathematiker haben nur gezeigt, daß beliebig lange Folgen existieren, aber nicht, wie man sie findet.
(FAZ, 7.7.04)


Wir leben (wie immer schon?) in nicht gerade schönen Zeiten:

(oder inzwischen einfach nur technisch mögliche?)

Taten (Terrorismus).


  "O Jahrhundert! O Wissenschaften: es ist eine Lust zu leben."
(Ulrich von Hutten , 1518)

Und gleichzeitig leben wir doch auch zumindest wissenschaftlich (und eben auch mathematisch!) in grandiosen Zeiten.

Es ist schier unglaublich, wie rasend schnell derzeit bedeutende wissenschaftliche Entdeckungen gemacht werden.

Nur vier Beispiele aus der Naturwissenschaft:

  1. kann man erst seit wenigen Jahren im Fernrohr einige (wenige) Sterne auflösen, d.h. Oberflächen sehen statt nur Punkte

(man muss sich das mal wirklich klar machen: vorher erschienen auch im besten Teleskop sämtliche [!] Sterne nur als Punkte).

Vgl.

  1. entdecken an bestimmten Tagen einige Teleskope täglich (!) einige Milliarden bislang unbekannte Galaxien (also nicht "bloß" Sterne) hinzu.

  2. Erst seit wenigen Jahren kann man nachweisen, dass um viele andere Sterne auch Planeten wandern. Und erst in allerjüngster Zeit (Ende 2004) scheint es gelungen zu sein, zum ersten Mal einen solchen "Extroplaneten" optisch einzufangen.


  3. (Ahlener Tageblatt, 22.9.04)


 

  • Wo erfahren SchülerInnen solche wissenschaftlichen Neuigkeiten im Unterricht?
  • Warum wird ihnen vielmehr ein uraltes, abgeschlossenes wissenschaftliches Weltbild suggeriert?

(Wenn DeutschlehrerInnen mal so richtig "modern" sein wollen, nehmen sie das antiaristotelische Theater von Brecht durch: Gott hab´ ihn selig! - aber nichts gegen Brecht!)

  • Warum werden SchülerInnen eigentlich ausschließlich mit uralten Erkenntnissen beschäftigt?
    (In der Mathematik kommen sie selbst im Abitur kaum über Erkenntnisse des 18. Jahrhunderts hinaus.)

Für all das gibt es wohl zwei "gute" Gründe:

  1. sind die uralten wissenschaftlichen Erkenntnisse noch schülergemäß einfach,
  2. bekommen ja auch LehrerInnen, die längst notgedrungen den Kontakt zur derzeitigen Avantgarde der Wissenschaft verloren haben

(LehrerInnen sind [sollten sein] in erster Linie PädagogInnEn und nicht WissenschaftlerInnen),

die neuesten Erkenntnisse kaum mehr mit.

Und dennoch sind diese beiden "guten" Gründe keine überzeugenden Entschuldigungen:

  1. Gerade wenn immer das Damoklesschwert "lebenslanges Lernen"

(das nur immer diejenigen predigen, die es nicht [mehr] müssen]

über "der Jugend von heute" schwebt und wenn "wir" wieder mehr Jugendliche für ein Studium von Mathe und Naturwissenschaften begeistern wollen, müssen sie merken: die "Welt" ist nicht (hochglanz-)fertig, sondern

"Es gibt [auch und gerade in Mathe/Naturwissenschaften] viel zu tun. Packen wir´s an!"

  1. Wenn vor lauter Stoff- und Klausurendruck keine Zeit mehr bleibt für gegenwärtige Forschung, so muss man eben den Stoff- und Klausurendruck abschaffen, was auch heißt: den LehrerInneN Zeit und Muße (und Anregungen) geben, neuere Entwicklungen überhaupt mitzubekommen.

  2. Wie exzellente populärwissenschaftliche Bücher

(z.B. , oder )

beweisen, muss man ja wahrhaft nicht alle theoretischen (und gar neuesten) Details verstehen und kann dennoch - von ihnen ausgehend - Einblicke in die derzeitige Forschung und - wichtiger noch - grundsätzliche Denkweisen gewinnen.

Die Alternative, nämlich wirklich alles

(inkl. aller vorherigen Schritte)

verstehen zu müssen, bedeutet aber in Wirklichkeit, gar nichts mehr

(oder höchstens die simpelsten Anfangsgründe in grauer Vorzeit)

verstehen zu dürfen.

(Das Klischee [?], nur junge MathematikerInnen und NaturwissenschaftlerInnen kämen auf revolutionär neue Gedanken, beruht ja eben auch darauf, dass sie ohne große Vorkenntnisse,  also auch ohne Denkfesseln und ohne großen Respekt an Probleme herangehen.)


Was "die" Mathematik also (nicht) kann, ist wahrhaft im doppelten Sinne irre:

  1. in der ursprünglichen Bedeutung: wahnsinnig,

  2. in der neueren Bedeutung: schier unglaublich (und dennoch wahr).

Man muss sich nur mal die Quintessenz des oben zitierten Zeitungsartikels, nämlich den letzten Satz auf der Zunge zergehen lassen:

" [...] die beiden Mathematiker haben nur gezeigt, daß beliebig lange Folgen existieren, aber nicht, wie man sie findet."

Da möchte ich doch mal das Wörtchen "nur" anzweifeln:

ich

(vielleicht gerade, weil ich den Beweis nicht kenne und wohl auch kaum verstehen würde)

finde es erheblich erstaunlicher, dass man

  1. die Existenz solcher (sogar jeweils unendlich vieler!) Folgen beweisen kann, obwohl man

  2. keine einzige konkret nennen kann (und vielleicht nie finden wird!),

als dass man 2. kann, woraus ja automatisch 1. folgen würde.

Es ist eins von mehreren besonderen Merkmalen der Mathematik, dass hier jeder Vergleich mit der sonstigen Wissenschaft und Erfahrungswelt versagt:

man stelle sich vor, dass Columbus zwar die Existenz von Amerika unwiderleglich bewiesen hätte, aber nie dahin gefahren wäre und es nie entdeckt hätte.

Das Hardy-Beispiel zeigt:

die Mathematik kann

(im vorliegenden Fall)

  1. alles

  • für alle [also unendlich viele] arithmetischen Folgen mit n aufeinander folgenden Primzahlen beweisen,

  • dass es jeweils unendlich viele solche Folgen gibt,

  1. nichts

  • bis auf bereits bekannte [zufällig gefundene!] Beispiele keine einzige der soeben genannten Folgen angeben.

 


SchülerInnen haben ein Recht, von den rasanten mathematischen Fortschritten zu erfahren, und ich kann mir durchaus in der Oberstufe eine Unterrichtseinheit beispielsweise zu

vorstellen

(wobei selbstverständlich auch die Lehrkraft nicht alles versteht, was ja vielleicht auch mal wohltuend ist).

Vgl. auch