wissenschaftliches Kleinvieh macht auch Mist

Thomas Kuhn hat mit seinem berühmten Buch die damals ungeheuer wirksame, inzwischen aber wohl wieder heftig umstrittene These aufgestellt, dass Wissenschaftsgeschichte nicht gleichmäßig, sondern eben in "Revolutionen" bzw. - so seine berühmte Wortneuprägung - "Paradigmenwechseln" verläuft.

(Inzwischen ist das Wort "Paradigmenwechsel" allerdings fast zur Floskel verkommen, mit der man höchst raffiniert als großartige änderung verkaufen kann, wo eben gerade keine änderung vorliegt.)

Das schönste Beispiel für solch eine tatsächliche oder angebliche Revolution ist das berühmte

(und doch kaum je gelesene)

Buch


"De Revolutionibus [!] Orbium Coelestium"

von Nikolaus Kopernikus aus dem Jahre 1543, in dem er erstmals das "kopernikanische", also heliozentrische Weltbild "verkündet" hat.

Hier sei mal vernachlässigt, dass

Wichtig ist mir vielmehr, dass das "Revolutionibus" im Buchtitel eben keineswegs "Revolution", sondern einfach nur "Umdrehungen" bedeutet, der Buchtitel also auf Deutsch ganz harmlos "Von den Umdrehungen der Himmelskörper" lautet.

Und nur weil das Buch von Kopernikus so revolutionär war, ist daraus überhaupt erst der Begriff "Revolution" im heutigen Wortsinne abgeleitet worden.


Die letzte größere physikalischen Revolutionen waren vermutlich (in der öffentlichen Wahrnehmung?) die Relativitäts- und (leider viel weniger bekannt) die Quantentheorie

(erstere war wohl noch eine Einzelleistung des deswegen so berühmten Albert Einstein, letztere aber schon eine Gemeinschaftsleistung [Planck, Bohr, Heisenberg, Pauli, Schrödinger ...]).

Und seitdem warten viele auf die nächste große Revolution,

(die nicht so recht zueinander passen, ja sich sogar teilweise zu widersprechen scheinen, also wohl beide überdeutlich - wenn auch höchst erfolgreiche und bislang vielfach bestätigte und nie widerlegte - "Theorien" sind).

Bisher aber scheint man vergeblich auf eine solche neue wissenschaftliche Revolution gewartet zu haben

(vgl. etwa "auf der diesjährigen Buchmesse ließ eine neue »Blechtrommel« [fast schon hämisch: natürlich!] wieder mal vergeblich auf sich warten"),

woraus etwa John Horgan in seinem Buch bereits auf das Ende aller (großen) Wissenschaften geschlossen hat

(eine genauso voreilig-depressiv-reißerische wie zudem gefährliche These wie die von Francis Fukuyama in bzgl. eines vermeintlichen Endes der politischen Geschichte).

Da frage ich mich allerdings, ob das ein schlichter Irrtum sein könnte,


Ich weiß, dass sich das ein bisschen resignativ anhört.

Und welcher Forscher hofft nicht darauf

(für welchen ist es nicht geheimer Hauptantrieb?),

irgendwann doch mal das "große Los" zu ziehen und eine wirklich (fach-)weltbewegende

(nobelpreiswürdige; wobei der Ruhm vielleicht doch noch wichtiger als das auch nicht zu verachtende Geld ist)

Entdeckung zu machen?


Ist überhaupt eine langweiligere (und überflüssigere) Fliegenbeinzählerei denkbar als die Untersuchung der

"Spaltöffnungen (die dem Gasaustausch dienen) von Pflanzenblättern"?

Und wirklich völlig abgedreht ist es doch wohl, das dann auch noch bei

"65 Millionen Jahre alten fossilen Blättern"

zu untersuchen.

Und so richtig sexy ist es wohl auch nicht, was die Forscher da rausgefunden haben:

"[...] diejenigen [Blätter], die kurz nach [...] [einem gewissen Zeitpunkt] gediehen, weisen viel weniger Spaltöffnungen auf als jene, die davor wuchsen. Der Grund ist, dass danach viel mehr Kohlendioxid zur Verfügung stand und die Pflanzen weniger Spaltöffnungen brauchten, um genug zu bekommen. Denn Spaltöffnungen haben auch Nachteile: Durch diese Löcher verliert die Pflanze Wasserdampf. Eine genaue Auszählung der Spaltöffnungen lässt darauf schließen, dass das atmosphärische CO2 um Tausende von Teilen pro Million anstieg [...]"

(... und in China ist ein Sack Reis umgefallen.)

Mit dem Vorwissen, dass CO2 ein problematisches Treibhausgas ist, hört sich dabei immerhin schon der letzte Satz, also

"[...] lässt darauf schließen, dass das atmosphärische CO2 um Tausende von Teilen pro Million anstieg [...]",

ein bisschen dramatischer an

(dennoch: ist "Tausende von Teilen pro Millionen" eigentlich harmlos wenig oder gefährlich viel?: mir scheint da der Plural "TausendE" auf letzteres hinzudeuten).

Schauen wir uns aber mal an, wie das obige Zitat weiter geht:

"[...] dass das atmosphärische CO2 um Tausende von Teilen pro Million anstieg, wahrscheinlich weil der Asteroid mit sehr kalkhaltigem Gestein zusammenstieß, wobei ungeheure Mengen von CO2 freigesetzt wurden. Diese schlagartige Einbringung des Treibhausgases musste zu einem abrupten Temperaturanstieg führen, und Arten, die mit der zusätzlichen Hitze nicht fertig wurden (viele Reptilien), kamen um."
(alle Zitate aus  , S. 70)

Mit "ungeheure Mengen von CO2" wird, was vorher noch unklar gewesen sein mag

("harmlos wenig oder gefährlich viel?"),

nun endlich wirklich dramatisch - und sowieso mit "Arten, die mit der zusätzlichen Hitze nicht fertig wurden (viele Reptilien), kamen um."

(... wenn einen die Erdgeschichte überhaupt interessiert bzw. sie überhaupt "für unser heutiges Leben" wichtig ist).

So ganz nebenher ist in dem Zitat auch noch von einem "Asteroiden" die Rede, der immerhin ein ziemlicher "Oschi" gewesen zu sein scheint, denn immerhin wurden bei seinem Einschlag "ungeheure Mengen von CO2" freigesetzt.

Nun muss ich gestehen, dass ich der Dramatik halber die Reihenfolge des Buchs umgedreht habe, indem ich jetzt erst verrate, was in dem Buch direkt vorher stand:

"Die größten Zeitpassagen [...] sind die, die die Erdzeitalter unterteilen. Es sind Phasen massiven Umsturzes, in denen bis zu 95 Prozent aller Spezies verschwinden. Unser Planet hat ein solches Massensterben bislang erst fünf Mal erlebt, und die Gründe dafür waren unterschiedlich. Das letzte Mal traf ein solches Ereignis die Erde vor 65 Millionen Jahren, als alle Lebewesen, die mehr als 35 Kilogramm wogen, und eine ungeheure Zahl kleinerer Arten vernichtet wurden. Damals verschwanden die Dinosaurier, und als Grund dafür nimmt man allgemein an, dass ein Asteroid mit der Erde kollidierte. Aber jener Asteroid verwüstete nur einen Teil des Planeten, hauptsächlich Nordamerika und Nordostasien. Erst dass dabei viel Material in die Atmosphäre gelangte und sich infolgedessen das Klima änderte, führte zum großen globalen Artensterben. Wir können uns also eine Vorstellung davon machen, wie ein durch Verschmutzung der Atmosphäre verursachter sprunghafter Klimawandel zu einem solchen Massensterben führt; und wie sich herausgestellt hat, spielte CO2 bei dem damaligen Ereignis eine wichtige Rolle."

Das aber

(egal ob´s stimmt oder nicht, denn meines Wissens ist die Asteoridenthese inzwischen durchaus wieder umstritten [?])

ist doch nun wahrhaft aus mehreren Gründen enorm spannend:

  1. aufgrund der allgemeinen Faszination für Dinosaurier ("Jurassic Parc" ...) und ihr mysteriöses Aussterben;

  2. aufgrund der allgemeinen Faszination für Asteroiden ("Deep impact" ...), die natürlich auf der Angst beruht, dass uns heute auch solch ein "Oschi" treffen könnte - und zwar mit der möglichen Konsequenz, dass "95 Prozent aller Spezies", also auch wir Menschen, verschwinden könnten;

  3. aber auch, weil die damalige CO2-Katastrophe eben doch zumindest indirekt - und zwar im Hinblick auf den derzeitigen Treibhauseffekt - "»für unser heutiges Leben« wichtig ist". Ja, dieses - und genau das ist vielleicht das größte Problem! - klitzeklein-unsichtbar-unvorstellbare CO2

(von dem ich auch nur den Namen "Kohlendioxyd" weiß)

könnte für uns viel gefährlicher werden als ein riesiger, aber doch unwahrscheinlicher Asteroid.

Jetzt aber erst hole ich den entscheidenden Satz nach:

"Herausgefunden haben das [dass »CO2 bei dem Massensterben eine wichtige Rolle« spielte] Paläobotaniker, die die Spaltöffnungen (die dem Gasaustausch dienen) von 65 Millionen Jahre alten fossilen Blättern untersuchten."

"Paläobotaniker"? Was es nicht alles gibt!

(... und daneben noch Paläochemiker und Paläophysiker und Paläochemiker usw. usf.: ein Konglomerat, das ebenso unübersichtlich erscheint wie alle die katholischen Orden oder all die christlichen und kommunistischen Sekten bzw. "die Volksfront von Judäa" vs. "die judäische Volksfront").

Nun haben also ausgerechnet diese (scheinbar) verschrobenen "Paläobotaniker" - so zumindest Flannery in seinem Buch - mit ihrer unscheinbaren Fliegenbeinzählerei den entscheidenden Puzzlestein bzw. das "missing link" zur Erklärung eines der größten "Menschheitsrätsels", nämlich des Dinosaurier-Aussterbens, gefunden!!!

Genauer genommen wird das wohl erst in Zusammenarbeit vieler Fachrichtungen möglich gewesen sein

(heute sind - ein wenig frustrierend - vielleicht gar nicht mehr die großen Einzelerkenntnisse möglich)

- und nebenbei:

genau da sehe ich eine enorm wichtige Aufgabe von Populärwissenschaftlern: nicht nur den Laien neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu vermitteln, sondern auch den Fachleuten den Blick über den Tellerrand zu ermöglichen, den zu erwerben sie ansonsten gar keine Zeit haben.