wie man mit Kreationisten diskutiert

Wie man mit Kreationisten diskutiert?

Gar nicht, denn das ist verlorene Liebesmühe:


(Quelle: Prisma 30/2007)

Man kann zwar eine hübsche Liste von Argumenten gegen Kreationisten anlegen

(vgl. etwa ),

aber diesen Argumenten werden Kreationisten ja eh nicht zuhören.

Und ein Problem ist ja in der Tat, dass sich der Kreationismus tatsächlich gar nicht logisch widerlegen lässt

(er ist - wie jeder Fundamentalismus - ein wasserdichtes System à la ).

"Richtige" Kreationisten sind wohl auch deshalb für keine Diskussion über die Evolutionstheorie/Schöpfungslehre erreichbar, weil ihr Kreationismus nur ein Ausläufer viel "tieferer", religiös fanatischer Denkweisen ist.


Sollten wir liberal genug sein, auch alternative Deutungen im Unterricht zuzulassen

(um ihnen um so überzeugender das Wasser abgraben zu können),

oder öffnen wir da dem Fanatismus Tür und Tor?

Immerhin hat die hessische Kultusministerin aber mit einem durchaus Recht: selbstverständlich gehören (vermehrt!) auch "theologische und philosophische Fragen" in den Biologieunterricht, denn in den allermeisten Fällen sind NaturwissenschaftslehrerInnen bislang ja derart philosophisch unbeleckt bis geradezu ignorant, dass eine "Konjunktivierung" wissenschaftlicher Erkenntnisse in ihrem Unterricht bislang gar nicht vorkommen kann

(vgl. ).


 

Darwins Frau Emma schrieb ihm einmal: » ... Ist es nicht möglich, dass es im Wesen der naturwissenschaftlichen Forschung liegt, nichts zu glauben, was sich nicht beweisen lässt und dass dein Geist auch in anderen Dingen, die sich nicht beweisen lassen, sich durch die Gewohnheit wissenschaftlichen Denkens zu stark beeinflussen lässt? Ich möchte sogar so weit gehen zu sagen, dass es gefährlich ist, die Vorstellung von der Offenbarung aufzugeben. ... «
Dieser Brief hat Darwin stark getroffen. Er bewahrte ihn auf und schrieb für seine Frau an den Rand: »Du sollst wissen, dass ich manchmal diese Worte küsste und darüber weinte.«

Wie aber redet man mit den Krypto-Kreationisten, also uns Laien, die im Hinblick auf die Urknall- und die Evolutionstheorie denken?:

"Die [wissenschaftliche] Botschaft hör ich wohl[wollend], allein mir fehlt der Glaube."

Man bedenke ja immerhin, dass beide Botschaften völlig abstrakt sind:

(wie unvorstellbar die Zeiträume sind, wird besonders deutlich, wenn einer der erste menschenähnlichen Vorfahren, nämlich Lucy, vor "nur" drei Millionen Jahren gelebt hat).

  1. streng zufällige genetische Mutationen

(wobei Darwin selbst diese genetische Ebene noch gar nicht kannte [kennen konnte] - und deshalb selbst häufig an seiner Theorie zweifelte; s.u.),

  1. eine Selektion (Umweltwidrigkeiten inkl. Überbevölkerungen), die viele untaugliche Mutationen aussiebt und nur die besten überleben lässt

(halt der uralte "Kampf ums Dasein", "Das Recht des Stärkeren", "Fressen oder gefressen werden" etc. für sozialdarwinistische Macho-Evolutionsfans, die nie begriffen haben, dass auch friedvolle Anpassung [Gruppensolidarität, Rückzug] hilfreich sein kann;
nebenbei: all das ist ja streng un-darwinistisch, denn Darwin sah nicht den Stärkeren, sondern den Angepassteren siegen;
und noch eins: die Selektion muss keineswegs so massenmörderisch gedacht werden, wie viele es sich vorstellen und einige es anscheinend gerne hätten: bis auf "Zell-Teiler" müssen zwar sowieso alle sterben, aber nicht alle kommen dazu, sich fortzupflanzen).

All das ist doch eine mehrfache Zumutung für den "gesunden Menschenverstand", auf den er

(wenn er nicht gerade in Fundamentalismus, also Kreationismus ausweicht)

üblicherweise wohl mit einer "schizophrenen" Doppelstrategie reagiert:

(Nebenbei: wenn laut einer ARD-Umfrage 70 % der Befragten dafür waren, die "Schöpfungslehre" im Biologieunterricht durchzunehmen, so sind das noch lange nicht alles [Krypto-]Kreationisten und muss man sich auch noch nicht allzu große Sorgen machen, sondern


 

"[...] vielleicht ist der Zufall, der in der Darwinschen Theorie eine so wichtige Rolle spielt, gerade deshalb, weil er sich den Gesetzen der Quantenmechanik einordnet, etwas viel Subtileres, als wir uns zunächst vorstellen."
(Werner Heisenberg)

Die größte Zumutung ist - neben der unvorstellbar langen Zeit - aber der Zufall, denn er ist ja offensichtlich gar keine Erklärung, sondern riecht immer nach

Um mit dem Zufall zu hadern, muss man ja nichtmal ein "kleiner Laie" sein, sondern das hat immerhin auch Einstein mit seinem berühmten Satz "Gott würfelt nicht" getan!

Kommt hinzu, dass dieser Zufall im unvorstellbar Kleinen, nämlich den Genen, wirkt - "und da kann man mir ja alles erzählen".

Gestehen wir uns also ein:

die Evolutionstheorie ist (durchaus wohlwollend betrachtet) mehrfach "ultra-abstrakt", und da ist es doch kein Wunder, dass viele auf sie (gelinde gesagt) ungläubig reagieren.


Wie schon am Beispiel Einstein gezeigt

(der allerdings mit "Gott würfelt nicht" auf die Quanten- und nicht die Evolutionstheorie abzielte),

ist ein gewisses Unbehagen bei der Evolutionstheorie keineswegs bloß ein Laienproblem:

Schönstes Beispiel dafür, dass sogar "Fachleute" Darwin manchmal nicht verstehen, ist einer der wirkungsmächtigsten (abschreckendsten) Evolutionstheoretiker, nämlich mein erkenntnistheoretischer Lieblingsidiot Richard Dawkins mit seinem berühmtesten Buch : da ist schon allein der Titel grob falsch oder zumindest doch irreführend, denn wenn alles auf blindem Zufall basiert, kann natürlich ein Gen keinen Willen haben, also nicht egoistisch sein.

Vgl. dazu

  1. und darin insbesondere:

"Der Titel des Buches ist bewusst anthropomorph: Obwohl darauf hingewiesen wird (erneut in der aktuellen Einleitung zur 30-jährigen Jubiläumsausgabe von Richard Dawkins selbst), dass Gene nicht egoistisch im wörtlichen Sinne sind (und also keine Art Eigenleben haben), wird dann in der darauffolgenden Argumentation diese Metapher doch immer wieder benutzt. Der Autor bedient sich eines Vergleichs, dessen Gültigkeit er einerseits bestreitet, aber gleichzeitig zieht er dann doch aus den damit verbundenen Assoziationen Nutzen."

  1. "Sie [= die Vertreter der sogenannten synthetischen Evolutionstheorie] dominieren [...] noch immer einen Großteil der - überwiegend angelsächsischen - populärwissenschaftlichen Literatur über die biologische Evolution. Das beste Beispiel hierfür ist wohl das »egoistische Gen«, ein Begriff, mit dem Richard Dawkins seine globale Leserschaft seit 30 Jahren sowohl verführt wie täuscht."
    (Wolfgang Wieser in seinem hervorragenden Buch   )


Mir geht es hier also nicht um die "richtigen" Kreationisten, sondern um den Krypto-Kreationisten in uns allen bzw. in vielen Laien.

Woher aber rührt ihr oder genauer ihr Unbehagen an der Evolutionstheorie (und sonstiger Naturwissenschaft)?:

  1. wohl aus der oben gezeigten "Ultra-Abstraktheit" der Evolution,

  2. aber auch aus der Ignoranz oder alternativ Dreistigkeit vieler Verfechter der Evolutionstheorie.

(... wobei ich mir allemal bewusst bin, wie gefährlich es ist, den Evolutions"gläubigen" eine Mitschuld am Aufkommen der [Krypto-]Kreationisten zu geben. Analog könnte man etwa behaupten, dass viele Antifaschisten zumindest indirekt dem Faschismus zutragen. Und selbst wenn Letzteres stimmen würde

[indem überzogener Antifaschismus jeden in die rechte Ecke stellt, der mal ein "Ausländerproblem" hat, oder andauernd auf einer "deutschen Kollektivschuld" rumhackt],

wäre das eventuell eine TEILerklärung für neuen Faschismus, aber sicherlich nicht die mindeste Entschuldigung.)

Diese Ignoranz bzw. Dreistigkeit besteht darin,

(sehr gute!)

Theorie ist,

Da liebe ich mir doch Darwin selbst, der nie "Darwinist", sondern vorsichtig und geradezu liebenswürdig unsicher war - weshalb er auch einige Fehler und Rückschritte begangen hat:

"Anfangs nahm Darwin an, Variation sei häufig, und daher war für ihn die Selektion die einzige kreative Triebkraft der Evolution. Variation war erforderlich, doch es war die Selektion, welche die chaotische Fülle kleiner Veränderungen in das exquisite Design der Organismen umwandelte. Im späteren Lauf seines Lebens billigte Darwin der Variation jedoch eine größere Rolle in der Evolution zu, wenn auch keine wirklich kreative. Er akzeptierte die Sicht, dass die Umwelt den Organismus direkt instruiert, wie er zu variieren habe, und schlug einen Mechanismus vor, wie diese Veränderungen vererbt werden könnten. Er gab die Vorstellung auf, dass Variation im Hinblick auf die Umweltbedingungen zufällig sei. Je wichtiger die Rolle war, die er der Umwelt bei der Entscheidung über die Aft der Variation zubilligte, desto geringer war deren Bedeutung als selektives und kreatives Agens.
Diese Ad-hoc-Theorie wurde zunächst als Darwins zweite monumentale Leistung — nach der Evolutionstheorie — gefeiert. Aber sie war völlig falsch. Die Intuition, die dem Naturforscher Darwin bei seinem Origin of Species (deutsch: Entstehung der Arten) so sehr zugute kam, ließ ihn im Stich, als er versuchte, zelluläre Mechanismen und Vererbung zu verstehen. In den Jahren nach Darwin wurden seine ursprünglichen Ideen wieder aufgegriffen. Variation wurde wieder als zufällig und als essenzielles Material angesehen, auf das die Selektion wirken konnte. Variation wurde als die Quelle von Neuartigem erkannt; die Umwelt konnte durch den Selektionsprozess nichts Neues produzieren."

"So selbstverständlich und einleuchtend erschien diese[...] Sicht einer erleichterten erblichen Veränderung oder einer Vererbung erworbener Eigenschaften, wie sie allgemein genannt wird, dass Darwin selbst nicht umhinkonnte, sie zu verwenden. Obgleich er in seinem Origin ofSpecies 1859 die Hypothese aufstellte, Veränderung sei zufällig und werde später selektiert, hatte er das Gefühl, sie sei so lange unvollständig, bis er zeigen könne, wie Variation überhaupt erst entsteht. Er kam immer mehr zu Lamarcks Überzeugung, dass unterschiedliche Lebensumstände in Organismen unterschiedliche Antworten hervorriefen, die auf irgendeine Weise an die nächste Generation weitergegeben werden, das heißt, die Umwelt erleichtert oder induziert die Art von Anpassungen, die für diese Umwelt geeignet sind. Im Jahr 1868 veröffentlichte Darwin sein zweibändiges Werk The Variation of Animals and Plants under Domestication (deutsch: Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation), in dem er sein Modell der Vererbung erworbener Eigenschaften präsentierte. Um seine Akzeptanz einer offen lamarckistischen Theorie zu rechtfertigen, schrieb er:

Wie können wir also die vererbten Wirkungen des vermehrten Gebrauchs oder Nichtgebrauchs verschiedener Organe erklären? Domestizierte Enten fliegen weniger und laufen mehr als Wildenten, und ihre Arm- und Beinknochen sind im Vergleich zu Wildenten in entsprechender Weise schwächer oder kräftiger geworden. Ein Pferd wird auf gewisse Gangarten trainiert, und das Fohlen erbt ähnliche übereinstimmende Bewegungen... Wie kann der Gebrauch oder Nichtgebrauch eines bestimmten Gliedes oder Teils des Gehirns eine kleine Ansammlung reproduktiver Zellen, die in einem entfernten Teil des Körpers liegen, derart beeinflussen, dass das Geschöpf, das sich aus diesen Zellen entwickelt, die Merkmale eines oder beider Elternteile erbt? Selbst eine unvollkommene Antwort auf diese Frage wäre befriedigend.

Darwins «unvollkommene Antwort» war Pangenesis, seine Theorie der Vererbung. Seiner Pangenesis-Idee zufolge beeinflusst der gesamte Körper des Elternorganismus die nächste Generation, indem er die Keimzellen (Eier und Spermien) beeinflusst. Auf diese Weise kann bei den Nachkommen effektiver Neuartiges produziert werden. Darwin stellte sich vor, dass alle Körperzellen winzige elementare Teilchen — wir würde sie heute als Informationsteilchen bezeichnen — abgeben, die dann durch das Individuum zirkulieren. Je mehr eine Zelle benutzt wird, desto mehr Teilchen gibt sie ab, und schließlich konzentrieren sich die Teilchen in den Keimzellen, wobei ihre Zahl die lebenslange Erfahrung und die physiologische Anpassung des Elternorganismus an die Umwelt widerspiegelt. Nachdem diese Teilchen von den Keimzellen in den Embryo gelangt sind, beeinflussen sie die Entwicklung des Nachkommen, indem sie diejenigen Aspekte verstärken, die in der vorangegangenen Generation am häufigsten in Anspruch genommen wurden. Die Präsenz dieser elementaren Teilchen in den Keimzellen spiegelte offenbar eher einen aktuellen physiologischen Gebrauch als einen empfundenen Bedarf wider, daher war Darwins Konzept nicht so bedarfsgesteuert wie dasjenige von Lamarck. Variation erfolgte nicht zufällig, sondern wurde von den Umständen gesteuert und gelangte über Ei- und Samenzellen in die Nachkommen.
Darwin lieferte so eine eigenständige Theorie zur Erzeugung von Variation, die ausschließlich auf der Vererbung erworbener Eigenschaften beruhte. Pangenesis war sofort ein großer Erfolg, aber der Autor hatte sich selbst in eine Zwickmühle gebracht. Je erfolgreicher ein Tier in Antwort auf lokale Umwelteinflüsse geeignete Variationen erzeugt, desto weniger muss die Umwelt auf natürliche Selektion zurückgreifen und eine Variante gegenüber einer Vielzahl von anderen Varianten bevorzugen. Im Extremfall bestände gar keine Notwendigkeit für eine natürliche Selektion; die Organismen würden sich allein nach dem Diktat der Umwelt verändern."

(beide Zitate aus dem nun gleich genannten Buch; vgl. auch )

Oder ich lobe mir den Inhalt und - fast noch wichtiger - den Schreibstil des äußerst lesenswerten Buchs .

(Allerdings Vorsicht mit dem wieder mal irreführenden deutschen Titel: während da marktschreierisch die [natürlich endgültige!] Lösung von Darwins Dilemma und somit der Evolutionstheorie herausposaunt wird, ist der englische Originaltitel doch ein bisschen leiser: "The Plausibility of Life".

Später allerdings sprechen die Autoren immerhin doch von "einer [!] Lösung des Dilemmas".)

Bei diesem Buch ist schon allein bemerkenswert, wie vorsichtig und verständnisvoll da über die alte, noch teilweise "unwissende" Evolutionstheorie geschrieben wird:

"In der Rückschau war es schwierig für die Intellektuellen der damaligen Zeit, sich von der Vorstellung einer gerichteten erblichen Variation zu lösen (auch wenn Darwin selbst dies früher, bei seiner ersten Theorie, getan hatte) und die Möglichkeit einer rein zufälligen Variation zu akzeptieren. Es war schwer vorstellbar, dass zufällige Ereignisse aus sich heraus eine Form von Neuheit schaffen könnten, die im Hinblick auf selektive Bedingungen adaptiv war. Durch direkte Bezugnahme auf das ultimative physiologische Ziel vermieden Pangenesis und all die anderen nichtmendelschen Vorstellungen von einer gerichteten Vererbung die Notwendigkeit von Zwischenstadien auf dem Weg zum neuen Phänotyp. So attraktiv diese Vorstellungen auch waren — sie waren ohne jede Grundlage."

(erst der letzte Teilsatz nach dem Gedankenstrich wird da - natürlich als dramaturgischer Höhepunkt -  deutlicher)

Oder ein (weiteres, deutlicheres) Beispiel für den wohltuend zurückhaltenden Schreibstil:

"Die Frage, die von den beiden Säulen der Evolutionstheorie (Selektion und Vererbung) nicht beantwortet wird, ist, ob angesichts von Häufigkeit und Natur der DNA-Veränderungen genug phänotypische Variation der richtigen Art auftritt, um der Selektion zu erlauben, ihre Arbeit zu tun und komplexe evolutionäre Veränderungen voranzutreiben. Wenn der Organismus eine Maschine wäre wie Paleys Uhr, wäre zu erwarten, dass zufällige Veränderungen entweder kaum einen Effekt haben oder zu einem katastrophalen Misserfolg führen. Wir würden nicht erwarten, dass zufällige Veränderungen eine Verbesserung mit sich bringen, dass die Uhr anschließend genauer läuft oder neue Eigenschaften wie eine Weckfunktion entwickelt! Aber ist ein Organismus so etwas wie eine Uhr, oder ist er grundsätzlich anders konstruiert? Diese Frage ließ sich bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts nicht beantworten. Zu Paleys oder Darwins Zeiten gab es dazu keine Hinweise. [...]
Dem, was Selektion leisten kann, sind Grenzen gesetzt. Wir müssen uns daran erinnern, dass sie lediglich als Filter arbeitet und einige Varianten bewahrt, während sie andere ausliest; sie schafft keine Variation. Wenn genetische Veränderung zufällig erfolgte, was konnte dann sichergestellt haben, dass es genügend günstige phänotypische Variation gegeben hatte, aus der die Selektion die raffinierten Anpassungen und die Vielfalt hätte schaffen können, die wir heute sehen? Zu verschiedenen Zeiten haben Biologen gedacht, genetische Veränderung müsse in irgendeiner Weise gerichtet sein, um genug phänotypische Variation der richtigen Art zu produzieren. Wenn der Selektion eine vorsortierte Untergruppe an Varianten präsentiert würde, könnte dies evolutionäre Veränderungen stark erleichtern. Oder wenn der Organismus genau die richtigen Varianten produzierte, würde man die Selektion gar nicht brauchen. Daher hängt die Effizienz des Selektionsprozesses von der Art und Weise der phänotypischen Variation ab, die ihrerseits wiederum von Umfang und Typ der genetischen Variation und von dem geheimnisvollen Prozess abhängt, durch den sich der Phänotyp aus dem Genotyp entwickelt.
Ist genetische Variation ein reines Zufallsprodukt, oder zeigt sie eine gewisse Tendenz, evolutionäre Veränderungen zu erleichtern? Mit erleichterter genetischer Variation meinen wir genetische Variation, die ihrer Tendenz nach (1) lebensfähig ist (nur nicht-letale Variation ist vererbbar, der Rest ist vom Standpunkt der Evolution aus nutzlos), (2) ein funktionsfähiges Ergebnis erbringt und (3) für das Leben unter den gegebenen Umweltbedingungen relevant ist. Einige Biologen haben versucht, Theorien aufzustellen, wie die Umwelt die genetische Ausstattung beeinflussen könnte, die die Eltern an ihre Nachkommen weitergeben. So verlockend es auch wäre, einen Prozess zu entdecken, um die genetischen Würfel zu beeinflussen und dadurch Geschwindigkeit und Richtung der Evolution zu beeinflussen, gibt es doch keine Hinweise auf eine derartige erleichterte genetische Variation, und überzeugende Befunde sprechen gegen ihre Existenz. Der Evolutionsprozess kann aus dieser Ecke keine Hilfe erwarten, und im Rahmen unseres modernen Verständnisses von Organismen ist auch nur schwer vorstellbar, wie ein solcher Prozess funktionieren könnte."

Da werden (wieder) erst die blau markierten Passagen deutlicher, aber selbst da bleiben die Autoren vorsichtig: "gibt es doch keine Hinweise",  "ist auch nur schwer vorstellbar", was doch durchscheinen lässt: "es könnte dennoch so sein".

Vor allem aber ist bemerkenswert, wie vorsichtig die Autoren auch heutige evolutionstheoretische Thesen angehen

(immer wieder Konjunktive und Fragen, ohne allerdings phantastische Fortschritte zu verschweigen)

- und die Blindheit, wenn nicht gar Ignoranz einiger heutiger Evolutionstheoretiker entlarven:

"Viele Evolutionsbiologen tun das Thema Variationsrate als nebensächlich ab. Sie erklären, dass geologische Zeiträume sehr groß sind im Vergleich zu den Jahrzehnten, Jahrhunderten oder Jahrtausenden, die für die Aufspaltung von Haustieren mittels künstlicher Zuchtwahl in sehr unterschiedliche Zuchtlinien oder für die veränderte Färbung von Nachtschmetterlingen beziehungsweise die veränderte Schnabelgröße von Finken mittels natürlicher Zuchtwahl erforderlich sind. Auch wenn man all dies zugibt, sind einige Skeptiker noch immer nicht bereit, einzuräumen, dass zufällige Variation selbst innerhalb von geologischen Zeiträumen etwas so Komplexes wie eine Blüte oder ein Auge konstruieren kann und noch viel weniger ein menschliches Wesen aus einem Bakterium."

Oder als Vergangenheitsform kaschiert:

"Die Moderne Synthese räumte dem Konzept der Adaptation eine vorrangige Stellung in der Evolutionstheorie ein. Der Organismus war wie formbarer Lehm, und eine Neuformung des Lehms hieß, dass sich jedes der Milliarden Lehmteilchen ein klein wenig in jede beliebige Richtung bewegen konnte, um eine neue Form zu schaffen. Das kam der Aussage nahe, nicht nur der Input genotypischer Variation sei zufällig, sondern auch der Output der phänotypischen Variation sei zufällig oder zumindest kaum eingeschränkt. Mit diesem Ansatz ließ sich das Problem, wie die Prozesse der Embryonalentwicklung und der Zellfunktion den Phänotyp schaffen, weitgehend als zwar interessant, aber für evolutionäre Veränderung nicht informativ abtun, wodurch der Graben zwischen der Evolutionsbiologie und ihren Schwesterdisziplinen noch tiefer wurde. Nach dieser Sicht der Dinge reichte die Selektion allein aus, die Sukzession der Phänotypen zu verstehen, die die Geschichte der evolutionären Veränderung ausmachen. Wenn ein Organismus ein Paar Flügel, einen voll beweglichen Daumen, längere Beine, Schwimmfüße oder eine Plazenta benötigte, würde jedes dieser Elemente unter den geeigneten selektiven Bedingungen im Lauf der Zeit auftreten. Man konnte sich, wie es schien, auf den Organismus verlassen, wenn es darum ging, all diese Variation zu erzeugen, die die Selektion für ihr Wirken benötigte.
Einige Biologen argumentierten später, der Organismus sei eingeschränkt, was die Art der Variation angehe, die er produzieren kann: Auf der ganzen Palette von Veränderungen fehlten einige Formen. Vielleicht ließen sich einige Komponenten des Körpers schwieriger verändern als andere, und diese blieben unverändert. Tatsächlich gibt es im Phänotyp viele konservierte Proteine und Gene. Im Allgemeinen wurde Einschränkung jedoch als untergeordneter oder trivialer Effekt betrachtet, um beispielsweise zu erklären, warum Weichtiere und Stachelhäuter nicht so leicht in der Lage waren, Flügel zu entwickeln, wie Wirbeltiere.
"

"Für einige Biologen, die sich in den großen Erfolgen der genetischen Theorie sonnten, war das [genetische Theorien] ausreichend. Die Erkenntnis, dass die DNA ihre Sequenz mit sehr geringer Frequenz (einigen wenigen Positionen innerhalb einer Milliarden Basen langen Sequenz bei jeder Replikationsrunde) zufällig verändert und dass die DNA ansonsten bei jeder Zellteilung mit hoher Werktreue kopiert wird, bedeutete für sie, dass eine umfassende Vererbungstheorie im Verbund mit einer wohlentwickelten Selektionstheorie Darwins Transformationsidee vervollständigen könnte. Für andere blieb ein wichtiger Schwachpunkt bestehen, der alles andere zweifelhaft erscheinen ließ. Ihre unbeantwortete Frage war, ob zufällige Veränderungen und ein neues Mischen der DNA jemals zu so hochkomplexen und wunderbar adaptiven anatomischen und physiologischen Innovationen wie dem Auge, dem Gehirn oder auch dem Pfauenschwanz führen könnten. Die Skepsis von Erzdiakon Paley, die von manchen Wissenschaftlern und vielen Laien geteilt wird, ließ sich womöglich nicht mit einer Theorie der Evolution überwinden, die allein auf der Selektion und der Vererbung zufälliger DNA-Veränderungen basierte."

Bemerkenswert daran ist doch vor allem, dass einige "ernsthafte" heutige Evolutionstheoretiker fast dieselben Fragen stellen wie die frühen Vertreter der Evolutionstheorie - und die (Krypto-)Kreationisten

(man beachte aber auch hier das vorsichtige "womöglich").

Das heißt aber doch, dass solche Fragen unverwüstlich, allemal "erlaubt" und - wie sich im weiteren Buch zeigt - sogar unerwartet produktiv sind!


Noch ein Beispiel dafür, dass kontroverse Ansätze hilfreich sein können - und nötig sind: