Kulturgeschichte als Schulfach

 

Kul|tur [lat.] die; -, -en: 1. (ohne Plural) die Gesamtheit der geistigen u. künstlerischen Lebensäußerungen einer Gemeinschaft, eines Volkes; [...] 2. (ohne Plural) feine Lebensart, Erziehung u. Bildung.

Darüber, daß das Fach "Geschichte" wirklich so wichtig sei, kann man sich mit gutem Recht streiten. Wenn überhaupt, so ist es wichtig im allemal begrenzten Sinne von "Aus der Geschichte lernen". Ansonsten aber ist es besser und heilsamer, sie gründlich zu vergessen, weil sie sonst nur wie ein Dämon fatalistisch über einen herrscht!

, weil "man sich nur selbst verstehen kann, wenn man seine Vorfahren [durch die man ja immerhin – meist unmerklich – erzogen und geprägt wurde und durch die alle gegenwärtigen Strukturen vorbereitet wurden] kennt".

Ich bemerke es doch andauernd: wenn SchülerInnen von Geschichte nicht den blassesten Schimmer haben, sind sie auch in meinen Deutsch-Leistungskursen gründlich aufgeschmissen: für sie bleibt alles dimensionslos, für sie gilt nur platt das "Hier und Jetzt", und sie verachten nur alle so "dummen" Vorfahren – wenn die SchülerInnen überhaupt ein Interesse für ihre Vorfahren haben.

Gleichzeitig wird "Geschichte" miserabel schlecht vermittelt: die SchülerInnen "behalten" rein gar nichts, an ihnen zieht alles emotionslos vorbei, also "zum einen Ohr rein, zum anderen Ohr raus".

Die GeschichtslehrerInnen haben allerdings auch wahrhaft ein schweres, ja, vielleicht das schwierigste Los: SchülerInnen ein hautnahes "Gespür" für historische Dimensionen überhaupt erst langsam "bei"zubringen!

Meinen eigenen Erfahrungen nach verhält es sich mit "historischer Perspektive" wie mit Piagets eher kognitiven und Kohlbergs eher emotionalen Bewußtseinsstufen: Jugendliche lernen historische Perspektive (wenn überhaupt) erst langsam nach und nach (und das ist nunmal das schwierige Los der LehrerInnen).

Für ca. 13-jährige Siebtkläßler ist meiner Erfahrung nach "alles dasselbe", also z.B. der Dreißigjährige Krieg genauso unendlich weit entfernt (und in einer Klassenarbeit tatsächlich dasselbe) wie der 2. Weltkrieg. Es gibt da – glaube ich – anfangs eine gründliche "Wasserscheide": "vor meiner bewußten Wahrnehmung – oder danach".

Nie habe ich so gründlich bemerkt, daß ich "schrecklich alt" werde, wie wenn ich von etwas aus meinem biografischen Horizont allzu leichtfertig vorausgesetzt habe, daß es ALLEN [also allen SchülerInnen] bekannt war – und sie es doch nicht wußten und auch gar nicht wissen – bzw., was erstmal dasselbe ist, nachvollziehen – konnten.

Als ich z.B. mal mit einer 10. Klasse "Die Räuber" von Schiller durchnahm, habe ich in meiner Not, überhaupt emotionalen Nahkontakt (fast hätte ich das hochnotpeinliche Wort "Betroffenheit" in den Mund genommen) herzustellen, versucht, mit der RAF zu vergleichen

(als Lehrer ist man sich ja "sowieso" zu keiner Plattheit zu schade, Hauptsache, sie bringt halbwegs das "eigentlich Gemeinte", also emotionale Nähe zustande!).

Es war – wie ich erst spät bemerkt habe – ein von Anfang an vergebliches Unterfangen: wie sollten die SchülerInnen denn auch überhaupt "wissen" geschweigedenn "emotional" nachvollziehen können, was mich 1977 bewegt hatte (Plusquamperfekt, also Vor-vor-vor-Vergangenheit!): daß mir dieser "Deutsche Herbst 1977" mit all seiner geradezu paranoiden Verfolgungssucht enorm unter die Haut gegangen war.

Meine SchülerInnen haben damals noch gar nicht gelebt und können ganz simpel genau deshalb auch gar keine emotionale (oder viel simpler: biografische) Erinnerung an das haben, was mir nach wie vor enorm wichtig ist.

Bzw. so simpel – von wegen "ich hab´s selbst oder eben nicht erlebt" - ist es eben nicht: irgendwann muß der enorm schwierige Sprung kommen!: ich hab´s nicht erlebt, und dennoch geht es mich hautnah an, weil ich durch all das empfindlich unbewußt geprägt bin und es mir allzu leicht mache, wenn ich es alles leugne (oder – was fast dasselbe ist – mich permanent durch es abgrundtief determiniert fühle).

Ein hübsches Beispiel: für mein Leben ist allemal auch die "Schweinebucht"-Affäre bezeichnend, obwohl ich damals gerade 3 Jahre (also unbewußt) war!

Das Grundproblem ist mir dabei glasklar: mir ist allumfassende Historisierung wichtig, weil ich mich inzwischen selbst als historischen Menschen (mit eigener Lebensgeschichte in der "Weltgeschichte") empfinde, was wohl erst ab ca. dem 30. Geburtstag möglich ist.

(Und wie soll das werden, wenn ich erstmal so "richtig" alt bin?!:

"[...] so gesteh ich gern daß in meinen hohen Jahren alles mehr und mehr historisch wird: ob etwas in der vergangenen Zeit, in fernen Reichen oder mir ganz nah räumlich im Augenblicke vorgeht, ist ganz eins, ja ich erscheine mir selbst immer mehr und mehr geschichtlich."
[Goethe])

Jugendliche aber empfinden noch gar nicht so, ihr Leben fängt ja erst "geschichtslos" an, ja, sie dürfen sich gar nicht so sehr durch Geschichte vereinnahmen lassen, sondern müssen sich zwecks Erstellen einer halbwegs stabilen Identität geradezu von ihr freischwimmen (oder sie schlichtweg ignorieren). D.h., ich kann meine historisierende Perspektive nicht als einzig wahre voraussetzen. Und doch ist sie dringend zu vermitteln und in sie einzuführen.

Wenn man aber von solch prinzipiellen Zugangs- bzw. Vermittlungsschwierigkeiten absieht, gibt es für mich auch noch viel einfachere Gründe dafür, daß die SchülerInnen im Geschichts-Unterricht nicht "den Geschmack der Jahrhunderte" erfassen

(z.B. das 14. Jahrhundert: ich sage nur mit Barbara Tuchman in ihren Buch "Der ferne Spiegel": "totale Scheiße", die Apokalypse der Menschheit – und dennoch gleichzeitig oder gerade deswegen die Vorbereitung der Renaissance!):

  1. , daß nach wie vor hübsch linear die gesamte (westliche) Geschichte abgehakt wird, vom alten ägypten bis mindestens zum Ende des 2. Weltkrieges: also 6000 Jahre in 6 Jahre (5. – 10. Klasse) gequetscht;

  2. , daß es weitgehend politische Geschichte im Sinne von "Staatsgeschäften" bleibt (wo wird denn mal durchgenommen, daß [wenn solche Vergleiche nicht eh hinken würden] Newton vielleicht wirkungsmächtiger als Napoleon war und die Erfindung der Uhr vielleicht wirkungsmächtiger als Bismarck?);

  3. , daß es reine Daten- und Faktengeschichte bleibt

(die gefährliche Suggestivität von Zahlen und hübsch rhythmischen Sprüchen: "drei-drei-drei, Issos Keilerei";

nur daß SchülerInnen dann 333 v. Chr. mit 333 n. Chr. verwechseln, nicht wissen, wo Issos liegt und wer da gegeneinander gekämpft hat; und selbst wenn sie all das wissen, ist ihnen völlig unklar, was an dieser Schlacht so bedeutsam war, daß sie bis heute im Geschichtsunterricht durchgenommen wird);

  1. , daß Geschichte "von außen" vermittelt wird statt aus Sicht derer, die sie erleben mußten und mitgemacht haben. Manchmal scheint mir nämlich, daß man z.B. über den Nationalsozialismus mehr aus Jenninger-Reden, Romanen und Tagebüchern erfährt als aus Geschichtsbüchern.

Ich glaube wirklich: wir (u.a. die GeschichtslehrerInnen, aber auch ich selbst) schlagen – ganz im Zeitalter der CNN-Informationshäppchen – die SchülerInnen mit Informationen tot, statt ihnen halbwegs Zusammenhänge, Wechselwirkungen, Verständnis und Einfühlungsvermögen beizubringen.

Nun liegt es mir fern, über das Versagen von KollegInnen oder gar ganzer Fachgruppen zu richten:

  1. "wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein": bei meinem Deutsch- und Matheunterricht kommt oft auch nicht mehr (bzw. verzweifelt gar nichts) rüber;

(ein kleines Beispiel: der schlimmste Verriß eines Gedichts durch SchülerInnen ist: "das haben wir schon mal früher im Unterricht durchgenommen")

  1. versuchen Geschichts-KollegInnen ja durchaus engagiert und verzweifelt um Anschaulichkeit bemüht, mehr als nur abgenagte "Staatsgeschäfte" und Daten rüberzubringen;

  2. ist dieses Fach allemal ein brauchbares Gerüst, umKulturgeschichtein es einzuhängen.

Und damit bin ich beim Thema, also "Kulturgeschichte als Schulfach":

Ich könnte mir das Fach "Kulturgeschichte" gut als Zusatzfach (fast hätte ich "Meta"-Fach gesagt) vorstellen: andere Fächer bringen ihre allemal wichtigen Voraussetzungen, ihr "Handwerkszeug" ein (damit nicht ohne Fundament nur "drüber" gequatscht wird) – und werden ihrerseits von der Kulturgeschichte aus reflektiert.

Das heißt nicht, daß Kulturgeschichte besser ist, also z.B. "Kulturgeschichte der Mathematik" besser als Mathematik; oder daß es der "Kulturgeschichte der Mathematik" gar darum gehen dürfte, die Mathematik schlecht zu machen und sie nur als Handwerkszeug zu verachten. Erstens gäbe es ohne Mathematik auch keine "Kulturgeschichte der Mathematik", zweitens würde die "Kulturgeschichte der Mathematik" ja gerade die Faszination der Mathematik vertiefen (wenn auch manchmal lustvoll ankratzen).

Kulturgeschichte als Zusatzfach wäre u.a. dadurch erreichbar, daß sie immer wieder von anderen LehrerInneN unterrichtet würde: eine "Kulturgeschichte der Astronomie" beispielsweise von einer Physikerin, eine "Kulturgeschichte der Mode" hingegen von einem Kunstlehrer.

Oder besser noch interdiszipliniär: die "Kulturgeschichte des Todes" beispielsweise von einem Religionslehrer und einer Historikerin, die "Kulturgeschichte von »Himmel, Hölle, Fegefeuer«" durch Theologen und Historiker und Künstler und Germanisten und Musiker: das Interessanteste wäre ja eben zu zeigen, wie das Thema "Himmel, Hölle, Fegefeuer" sich durch all diese Fächer zieht und Jahrhunderte lang virulent war.

Das ja eben wäre Ziel des Fachs Kulturgeschichte: allemal exemplarisch und notgedrungen ausschnittshaft zu zeigen, wie vielfältig (über Fächergrenzen hinweg) ein Thema bedeutsam ist und wie vielfältig sich der Zeitgeist einer Epoche äußert.

Im Grunde wäre "Kulturgeschichte" immer "Diskurswissenschaft": SchülerInnen würde erfahren, wie Menschen vergangener Epochen sich Erklärungssysteme geschafft und "sauwohl" in ihnen gelebt haben (bei allem Terror der Diskurse).

Natürlich kann das geradezu irritierend werden, weil nichts (keinerlei Querverbindungen) sicher ist und jegliche billige Kausalität aufgelöst würde.

SchülerInnen suchen aber gerade – und zwar von der 5. bis noch zur 13. Klasse – nach Halt und Eindeutigkeiten.

Da scheint mir die historische Distanz geradezu eine Chance: die SchülerInnen können auf unsere (und ihre) Gegenwart übertragen, müssen aber nicht.

Kulturgeschichte umfaßt im Sinne der 1. o.g. Lexikondefinition alle Lebensäußerungen der Menschheit (in ihrer grandios staunenswerten Fülle!) und nicht nur die sogenannte "gehobene", fast schon elitär-verächtliche Kultur der 2. Lexikondefinition.

Beispielsweise "Trivialliteratur" interessiert da also allemal genauso wie (sonst im Fach Deutsch) "gehobene" Literatur, ja, aus Trivialliteratur läßt sich über eine Zeit (ihre Sehnsüchte, Verdrängungen, ihr Selbstverständnis und ihre Indoktrination) mindestens ebenso viel erfahren wie aus "gehobener" Literatur.

Nebenbei: das soll ja gerade nicht die (allemal vorhandenen!) qualitativen Maßstäbe verwischen, sondern im Gegenteil dazu beitragen, sie zu finden.

Wer etwas über einhundert Jahre Jungen-Erziehung erfahren will, findet das vielleicht eher bei Karl May als in Musils "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß".

Ein willkommenes Thema ist also allemal auch "der Quelle-Kataloge im Wandel der Zeiten", denn diese Kataloge sind wahrhaft ein Lexikon der Mode und Wohnkultur. Sie zeigen, wie eine Gesellschaft leben will – und ihr das beigebogen wird!

Prinzipiell sind in der Kulturgeschichte alle menschlichen "Bemühungen" oder – positiver gesagt – Beschäftigungen von Interesse, also z.B. auch die Sozialgeschichte des "Kaninchenvereins von hinter der Bahn". Man muß ihn nur ernst nehmen, statt sich drüber lustig zu machen.

"Kulturgeschichte" erweitert den Fächerkanon (z.B. um Astronomie, Jura oder Volkswirtschaft), zeigt seine historischen Ursachen, aber auch die historischen Grenzen der Einzelfächer.

Eine zentrale Frage wäre also beispielsweise: wieso, mit welcher Berechtigung gilt Mathematik heute nicht nur als Haupt-, sondern sogar als "Kern"-Fach (das bis zum Abitur nicht mehr abgewählt werden kann)? Wie konnte es dazu kommen, daß die Mathematik sich derart wichtig machen konnte, Astronomie (für mich die herrlichste aller Wissenschaften!) hingegen aber im Fächerkanon überhaupt nicht vorkommt (sondern im besten Fall mal in 2 1/2 Stunden im Physikunterricht abgehakt wird)?

Und ich würde sowieso immer (am Beispiel der Mathematik oder von mir aus auch des Christentums) fragen: was waren die allemal erstklassigen Gründe, daß gewisse Weltanschauungen sich durchsetzen konnten?!

Ich bin und bleibe Anhänger des "humanistischen Gymnasiums" nach der Konzeption von Wilhelm von Humboldt!: Berufs- oder überhaupt einseitige Vorbereitung ist gerade nicht Aufgabe des Gymnasiums, sondern im Gymnasium geht es allein – sehr anspruchsvoll: - darum, multiple Denkmöglichkeiten beizubringen.

Und doch könnte "Kulturgeschichte" die übertriebene Abstraktion, ja, Weltfremdheit aufbrechen:

Hier zeigt sich auch, daß "Kulturgeschichte" auch "Zeitpfeilgeschichte" sein kann: wenn wir einen (weshalb eigentlich so erfolgreich durchschlagenden?) "Trend" aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart verfolgen, stellt sich doch automatisch die Frage, wie er vermutlich in der Zukunft weitergehen wird (bzw. sollte): was sind die "konkreten Utopien" (Ernst Bloch), also die sich immerhin schon andeutenden Trends?: "wir entwerfen den [wünschenswerten und technisch immerhin schon halbwegs möglichen] Computer von morgen".

Auf Computer übertragen: wichtig ist nicht so sehr, daß die SchülerInnen an heutigen Computern (vermutlich bald schon total veraltetes) Programmieren lernen

(denn vielleicht werden wir bald nur noch ganz wenige Programmierer brauchen; und wie Computer "vom Prinzip her" funktionieren, läßt sich bestens anhand der Geschichte der Rechenmaschinen zeigen),

sondern daß sie auf mögliche zukünftige (z.B. gesellschaftliche) Computer-Entwicklungen vorbereitet werden.

"Zeitpfeilgeschichte" bedeutet dabei keineswegs simplen Fortschrittsglauben oder gar Teleologie (hübsch entlang an einem Pfeil): wie die Computergeschichte weitergehen wird, ist ja in diesem sich so rasant entwickelnden Zweig nur teilweise absehbar, teilweise aber auch völlig offen (auch die positiven und negativen Effekte).

In der Kulturgeschichte wären allemal auch und gerade die Irr- und Umwege, (gescheiterten und fehlgelaufenen) Entdeckungsmühen und nicht umgesetzten "Historischen Konjunktive" von Interesse.

Wichtig wäre es auch, frühere (vielleicht falsche) Wege als aus ihrer Zeit heraus verständlich, wenn nicht gar logisch und durchaus angemessen aufzuzeigen. Statt arrogant auf frühere Zeiten herab zu schauen, sollte klar werden, daß u.a. auf dieselben (oder auch veränderte) Grundfragen historisch situativ verschiedene Antworten möglich sind.

"Kulturgeschichte" würde keineswegs "alles" zerfasern und historisch totrelativieren (bis hin zur Resignation "so [allemal schlecht!] ist der Mensch nunmal"), sondern im Gegenteil näher an das "Menschliche[], Allzumenschliche[]" (Nietzsche) heranrücken: sie würde zeigen, mit welch entsetzlichen Mühen, oft aber auch Spaß Menschen (wie du und ich heute) versucht haben, ein System (heute würde man bedeutungsschwanger sagen: Sinn) in ihr Leben zu bringen.

Die SchülerInnen müßten bemerken: ohne System geht´s nicht (z.B. gibt es in sämtlichen Kulturen sexuelle Tabus und Regelungen, also nirgends absolute sexuelle Freiheit). Solch ein System (wie beispielsweise früher dörfliche Enge) ist aber zwiespältig, kann nämlich einerseits Geborgenheit geben, andererseits zum unerträglichen Gefängnis werden.

Von besonderem Interesse wären da auch – immer enorm irritierende – Systemumbrüche (z.B. "Wie Religion abhanden kam – und sich anders äußerte").

Indem Kulturgeschichte ansatzweise zeigt, daß heute für selbstverständlich Gehaltenes in der Vergangenheit keineswegs selbstverständlich war, sondern erst Ergebnis jüngster Entwicklungen ist (z.B. strikte Zeiteinteilung des Lebens oder der "Glaube" an die Schwerkraft), legt sie indirekt nahe, daß die heutige Denkweise auch nicht für alle Zukunft sicher, sondern offen bzw. gefährdet (also auch zu verteidigen) ist. Zudem zeigt sie, daß Heutiges schon morgen nur als simpler Aberglauben gelten könnte (was wiederum eine Ungerechtigkeit bzw. gar ein Irrtum der Zukunft sein könnte, so wie wir oft ungerecht gegenüber unserer Vergangenheit sind bzw. uns über sie irren).

Kulturgeschichte lenkt von der Frage, was richtig oder falsch ist, zur Frage über, was einer Zeit angemessen ist, fast hätte ich gesagt: was ihr (nicht) gut tut.

Distanz zu heute für selbstverständlich Gehaltenem ist aber keineswegs einfach zu erreichen: beispielsweise das Erklärungsmuster "Schwerkraft" oder auch die Beschreibbarkeit natürlicher Phänomene durch mathematische Formeln

(über solch simpel naive und menschlich anmaßende Erklärungen hätten sich mittelalterliche und später noch außereuropäische Menschen schlapp gelacht!)

sind uns (und zwar ungeheuer erfolgreich auch Laien!) dermaßen "in Fleisch und Blut" übergegangen, daß wir (zumindest bis zur nächsten naturwissenschaftlichen Revolution) aus diesem Erklärungsmuster vielleicht gar nicht mehr heraus können.

Und das Allermeiste, das wir für selbstverständlich halten, ist eben dermaßen selbstverständlich, daß wir nichtmal auf die Idee kommen, es zu "problematisieren" und zu "hinterfragen".

Das ist auch gut so: ein Mensch kann glücklicherweise nicht ganz aus seiner Zeit raus, für ihn würde alle Geborgenheit zusammenbrechen.

Allerdings kann und darf auch prinzipiell nichts von der kulturgeschichtlichen Perspektive ausgenommen werden. Eben um herauszufinden

  1. , was vielleicht überhistorisch "menschlich" und damit fundamental wichtig ist,

  2. , daß der Mensch nunmal zeitgenössische Erklärungsmuster (fast hätte ich gesagt: egal, welche) braucht und daß er dankbar für sie sein muß.

Schöne Beispiele sind da weibliche Schönheitsideale und Frauenmode: sie waren beide historisch völlig relativ (in der Rubens-Zeit war füllig "in", und mal sind die Kleider kurz/lang bzw. eng/weit), aber es gab keine Zeit ohne (ihr je eigenes) Schönheitsideal und ohne Mode.

Das mag auch biologische Gründe haben: (von Männern gemachte) Frauenmode hat meist die "typisch weiblichen Formen" (also die "sekundären Geschlechtsmerkmale") entweder betont oder - was letztlich dasselbe ist - verschämt verborgen.

Man(n?) kann es doch auch mal so sehen: Männer (die ja meist das "Modediktat" für Frauen aufstellten), haben alles getan, um die (in Männeraugen!) Schönheit von Frauen nochmals mittels Mode zu unterstreichen und immer wieder neu (eben durch Modewechsel) zu entdecken und neu zu verherrlichen (und Frauen haben diese Möglichkeiten oftmals auch gerne wahrgenommen)! Eben weil den Männern diese Schönheit immer wieder (in jeder individuellen Frau) gänzlich neu erschien! Oder anders gesagt: "ist doch herzhaft egal, was man einer schönen Frau anzieht [und sei´s ein Kartoffelsack] bzw. Frauen quer durch die Jahrhunderte angezogen hat: eine (was immer das sei:) schöne Frau wird immer und immer aufs Neue schön sein, sie wird das Kleid immer adeln". Ist das eigentlich so eindeutig sexistisch-abwertend, macht gerade Kulturgeschichte das "Problem" nicht viel faszinierender, "grundsätzlicher" - und bunter?

Was folgt aus solch kulturgeschichtlicher Betrachtung?:

("alles schon dagewesen und alles nur sexistisch; wir hingegen stehen da natürlich ´intellektuell´ drüber und gerieren uns ach so ´avantgardistisch´ schwarz"),

(das Gegenteil wäre griesgrauer Unisex-Mao-Look und DDR-Design),

(z.B. "ich mag nunmal insgeheim auch fülligere Frauen und die Modefarbe der vorletzten Saison"):

Und gleichzeitig gesteht man sich frohgemut die Bindung ein: keiner kann ganz aus dem jeweils zeitgenössischen Schönheitsideal heraus: wer (egal, ob Männlein oder Weiblein) behauptet, der "Playboy" (als "das" Präsentation- und Promotionsorgan des jeweils aktuellen Schönheitsideals) lasse ihn völlig kalt, und wer ihn nur als sexistisch kritisiert, der lügt. Und weil es schlimmer ist, sich selbst zu belügen als andere: er kneift sich selbst den Spaß des Zeitgenosse-Seins und Wohlig-im-Strom-Mitschwimmens ab

(ich fand es immer zum Schmunzeln, wenn ich so ganz meinem eigenen Geschmack zu folgen meinte und noch kein Anzeichen eines Trend zu sehen war – und ein halbes Jahr später "alle" es taten. Ich habe immer das Gefühl, ich bin auf der ersten Welle).

Er beraubt sich aller neuen Anregungen und ist immer nur von gestern.

Er mißbraucht geradezu reaktionär die Kulturgeschichte als Waffe gegen die Gegenwart, statt mittels der Kulturgeschichte die Gegenwart ein wenig besser zu verstehen, Freude an ihr zu haben, in und mit ihr (d.h. seinen Mitmenschen!) zu leben (also auch die Menschen im Gefängnis ihrer Gegenwart zu lieben) sowie die Gegenwart lustvoll zu verändern.

Kulturgeschichte leistet - am Beispiel des Schönheitsideals und der Mode - aber noch etwas anderes: sie zeigt nicht nur das eventuell vorhandene überhistorisch ewig Gleiche (s.o. z.B. die Verherrlichung der Schönheit von Frauen) hinter dem vermeintlich Neuen, sondern auch, weshalb das ewig Gleiche historisch so verschieden ausgeformt wird, aufgrund welcher sozialen und ökonomischen Ursachen also beispielsweise in den 20er-Jahren eine "emanzipierte" Frauenmode aufkam.

Dabei wird sich Kulturgeschichte aber immer hüten, direkte und monokausale Zusammenhänge zu behaupten. Im Gegenteil: ihr geht es um das komplexe Geflecht "eines" Zeitgeistes: ein Detail aus ihm herauszureißen, hieße, mit ihm alle Bemühungen der Menschen zu "ermorden". Am Beispiel der Mode: herausgerissen wäre sie nur noch Zwang, Krampf und ein Riesenirrtum. Sie wäre nur noch Ablenkung vom Leben statt eine seiner Ausdrucksformen.

Der Kulturhistoriker (und d.h. immer auch Kulturkritiker, weil im oberflächlich Verschwimmenden eben Muster entdeckt werden müssen) sollte aus der Not, selbst auch nicht aus seiner Gegenwart (und aller Geschichte) herausspringen und sie mit göttlichem Blick von außen betrachten zu zu können, eine Tugend machen: die Menschen und ihren Wunsch nach Systemen (statt die vielleicht falschen Systeme) zu lieben (und vielleicht gerade deshalb Un-Menschliches zu kritisieren).

Die interessantesten kulturhistorischen Themen sind:

  1. die Bildung und Definition von Individualität

(durch Gruppen und umgekehrt durch den Einzelnen in Gruppen; vgl. [Über-]Anpassung und [Über-]Absonderung),

  1. das Entstehen und die Veränderung von Gruppen sowie die Formen der Interessensabgrenzung (u.a. zur Selbstdefinition) gegeneinander: also auch und gerade Politik,

  2. , wie sich 1. und 2. im Umgang mit der materiellen Welt (Überbau & Basis) ausdrücken

(in ihr Halt und Dauer gegen individuellen Tod und gesellschaftliches Chaos suchen; ein Mittel sind da Institutionen)

und umgekehrt durch diese geprägt (Basis & Überbau) werden,

  1. die (im-)materiellen Symbole.

"Kulturgeschichte" kann ich mir sehr wohl von der 5. Klasse (und dann eher praktisch-projektartig: "wie gewinnt man eigentlich Salz?") bis hin zu einem Leistungskurs in der Oberstufe

(dann durchaus auch knallhart theoretisch, also beispielsweise anhand von Thomas Kuhns Buch "Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" oder C.P. Snows Buch "Die zwei Kulturen [Natur- gegen Geisteswissenschaft]")

vorstellen.

Man kann nicht die Fächerlandschaft umstülpen (zumal da nicht nur Gewohnheiten, sondern auch Besitzstände reinspielen), und deshalb ist es letztlich müßig, über die Einrichtung des Fachs "Kulturgeschichte" nachzudenken.

Aber es wäre doch immerhin ein Anfang gemacht, wenn ganz grundsätzlich alle Fächer (nicht nur ihre Inhalte, sondern auch ihre Methoden) historisiert würden. Auch und gerade die Fächer, die sich (wie alle Naturwissenschaften und Mathematik) bisher grenzenlos arrogant oder auch blind als überhistorische und überkulturelle Wahrheiten aufführen.

Eine Historisierung untergräbt keineswegs die Aneignung des Stoffs und des Handwerkszeugs. Im Gegenteil: die SchülerInnen werden sich in ihren ("ontogenetischen") Erkenntnisschwierigkeiten durch die historischen ("phylogenetischen") Erkenntnisschwierigkeiten doch nur verstanden und ermutigt fühlen: "ich bin genauso dumm und schlau wie Newton".

Denkbar wären zwei Ansätze:

(denn ich bin inzwischen auch allergisch gegen alles, was Gesellschaft – und deren bester Ausdruck ist allemal Politik - vernachlässigt),

Das thematische Repertoire ist dabei grenzenlos – und müßte dementsprechend exemplarisch angegangen werden. Letztlich bleibt es sich auch gleich, ob ich "Die Kulturgeschichte des Rechts" oder "Die Kulturgeschichte der Mode" oder "Die Kulturgeschichte der Seefahrt" behandle: in jedem Fall bekommen die SchülerInnen ein Gespür für historische "Räume" und menschliche Bemühungen.

Ohne Kulturgeschichte (also mit der typischen Aufspaltung in Einzelfächer) behalten wir aber den SchülerInnen extrem Wichtiges vor

(was auch den Einzelfächern schadet: beispielsweise eine Mathematik, die nicht ihre Beiträge zur Kulturgeschichte bzw. umgekehrt sich in dieser reflektiert, bleibt nur Knobeln und Rechnen nach Schema F, statt daß sie eine grundfaszinierende und staunenswerte Weltdeutung und ein enorm wichtiger, wenn auch manchmal problematischer Beitrag zur Menschheitsgeschichte wird):