Mathematik als Disziplinierungsinstrument

 

"[...] es ist vor allem die Mathematik, bei der sich die[...] elitäre Einstellung zeigt. Ein Bildungssystem, das sie als Ausleseinstrument einsetzt, versündigt sich damit gegen den Geist, denn es behält die Mathematik wenigen Privilegierten vor, obwohl es sich dabei um Übungen handelt, die eigentlich allen zugänglich sein sollten. So wird die Mehrheit um Werkzeuge gebracht, die auf jedem Gebiet allen, die die Welt um sie herum zu verstehen versuchen, von Nutzen sein können, nicht bloß den Ingenieuren oder denjenigen, die »strenge« Wissenschaft betreiben."

(zitiert nach )

Mich freut der – soweit ich es wahrnehmen kann – neue Trend, dass Schriftsteller (Mulisch, Fosnes Hansen, Høeg) sich vermehrt – und zwar auf ihre ganz eigene, eben literarische Art - mit dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Weltbild auseinandersetzen, statt die uralte Trennung in die „zwei Kulturen“ (C.P. Snow) Natur- und Geisteswissenschaft einfach nur stillschweigend (und aus Unwissen über die andere Hälfte) zu verlängern.

Denn selbstverständlich kann eine gewisse „Lösung/Versöhnung/Synthese“ nur aus der literarischen Ecke kommen!

Mathematik ist auch „Kulturwissenschaft“ in dem Sinne, dass sie latent und gerade deswegen um so massiver die Leitlinien der Denkweisen und Welterklärungen (auch und gerade mathematischer Laien) beeinflusst – und als Disziplinierungsinstrument eingesetzt wird.

Der dänische Schriftsteller Peter Høeg (eher bekannt durch seinen Weltbestseller „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“) hat einen äußerlich autobiographischen „Schulroman“ geschrieben.

(Nur äußerlich autobiographisch, weil

Soweit der Roman autobiographisch ist, kann man nur sagen: Høeg hatte, indem er von einem Heim ins andere und vom Regen in die Traufe wanderte, eine wahrhaft entsetzliche Kindheit!

In vielem erinnert der Roman an die klassischen Schul(anklage)romane, also z.B. „Der Schüler Gerber“, „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ sowie „Unterm Rad“: es herrschen dieselbe rabiat erniedrigende Brutalität und dieselbe kasernen- bzw. gefängnishaft komplette Durchorganisation und damit Überwachung des gesamten Schülerlebens.

Das wundert einen nach literarischen Vorerfahrungen schon gar nicht mehr (macht´s allerdings auch nicht besser).

Erstaunlich ist vielmehr, dass

  1. der Roman Anfang der 70er Jahre des 20.  Jahrhunderts im zumindest klischeehaft relativ liberalen Dänemark spielt;
  2. der in diesem Roman dargestellte Schulversuch klar erkennbar (damals typisch) „fortschrittlich-sozialdemokratisch“ gedacht war: als bewusste Integration von Außenseiterkindern („zurückgebliebenen“, sozial Verwahrlosten ...);
  3. dieser Schulversuch (und zwar ganz entgegen dem damals herrschenden antiautoriären Trend) gleichzeitig doch so brutal war

(pure Ideologie: man [der Schulleiter] holt sich – fortschrittlich drapiert – „Außenseiterkinder“, um nur um so mehr schlagen zu können).

Der (deutsche) Titel „Der Plan von der Abschaffung des Dunkels“ rührt nun genau von dieser Zwiespältigkeit her: dass da

Diese Schulleitung ist sozusagen schizophren: sie bedient sich der uralten, stramm autoritären Mittel – zu einem sehr modernen, „fortschrittlichen“ Zweck. Bzw. sie verkörpert geradezu Adornos/Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“: die brutale Durchsetzung des vermeintlichen Fortschritts und der brachialen Verbesserung der Welt mittels uralter, wenn auch modern perfektionierter Mittel.

Eins der zentralen Mittel zur Durchsetzung dieses „Fortschritts“ ist in diesem Roman die perfekte Durchorganisation der (Schüler-)Zeit  (die Zeit als Zwangsjacke und Disziplinierungsinstrument).

Die Zeit wird dabei – ganz im newtonschen (vor-einsteinschen) Sinne - als absolut (überindividuell, a-sozial) und linear verstanden:

     

Vergangenheit  Gegenwart Zukunft

Sieht man mal davon ab, dass das eine bitter abgenagte Zeit ist, so ist es vor allem eine gnadenlos abschnurrende, das Individuum vorwärtspeitschende, letztlich aber über  es hinwegtrampelnde Zeit! Die Zeit als archaisch-böser Gott (kein Wunder, dass das Wappen der Schule in diesem Roman auf die germanischen Götter anspielt).

Weil´s mir hier letztlich um anderes (nämlich um Mathematik!) geht, sei nur kurz angedeutet, dass Høeg vor allem in seinem abschließenden Essay die lineare Zeit zwar keineswegs völlig ablehnt, aber doch vielfältig ergänzt: durch

und dass er Zeit letztlich sprachlich-diskursiv versteht.

Er macht aus einem Abstraktum wieder ein menschenfreundliches, vom Menschen aus gedachtes oder zumindest doch mit ihm in wechselseitigem Zusammenhang stehendes Lebewesen.

Genau diese Überlegungen zur Zeit machen – wenn auch in eher essayistischer als eigentlich literarischer Form – den Roman „allgemeingültig“ weit über die geschilderten Schulverhältnisse hinaus.

(Ich würde allerdings noch ein anderes Phänomen ergänzen: dass die Brutalität der modernen Zeit auch daher rührt, dass verschiedenste Zeiten in eine Linearität gepresst werden müssen, dass der moderne Mensch also allzu viel gleichzeitig tut/tun muss, statt jede Sache einzeln richtig – und die verschiedenen Sachen nacheinander. So gesehen wäre echte Linearität auch ein Vorteil.)

Kurz vor Ende des Romans steht dann folgende Passage:

„Mit ihrem Netz nahm die Spinne nicht die ganze Welt wahr, sie nahm nur den Teil davon wahr, den das Netz einfangen konnte. Richtung, Abstand, vielleicht das ungefähre Gewicht der Beute, vielleicht ihren Umfang. Aber sicher nicht viel mehr. So ist es auch mit der Naturwissenschaft und ihrem Zwilling, der industriellen Technologie. Die Physik breitet ihr Netz ins Universum oder in die Materie aus und meint, immer größere Teile der Wirklichkeit zu entdecken.

Man mag befürchten, dass das ein Fehlschluß ist [...]. Wenn die Spinne ihr Netz weiter ausbreitete, über die 75 Zentimeter hinaus, würde sie nach wie vor nur das wahrnehmen, was wahrzunehmen in ihrer und der Natur ihres Netzes liegt. Sie würde keine neue Wirklichkeit finden. Sie würde mehr von dem entdecken, was sie schon vorher kannte. In bezug auf das, was außerhalb liegt, Farben, Vögel, Gerüche, Maulwürfe, Menschen, Schwestern, Gott, die trigonometrischen Funktionen, das Messen von Zeit, die Zeit selbst, würde sie nach wie vor in absoluter Unwissenheit schweben.

Das ist das eine, was ich sagen wollte.

Das zweite ist dies: [...] Vielleicht waren die Spinnen [...] klüger als der Mensch. Denn sie breiteten das Netz nie über eine gewisse Grenze hinaus aus.

Was wäre passiert, wenn sie es getan hätten? Wenn das Spinnennetz ausgebreitet würde bis ins Unendliche, so weit über und unter die Schwellen des menschlichen Wahrnehmungsapparates, wie die Technologie ihre Sensoren ausbreitet ?

Dann wäre folgendes passiert: Die Spinne wäre recht bald physisch nicht mehr in der Lage, all das aufzusuchen, was im Netz gefangen wurde. Und wenn das Netz sich noch mehr ausbreitete, weiter und weiter weg, dann würde die Spinne anfangen, Signale aus Gegenden mit anderen Insekten und einem anderen Klima als ihrem eigenen zu empfangen. Und sie würde weit mehr Signale empfangen, als sie verarbeiten könnte. Dann würde das abnorm große Netz und das, was es zur Folge hätte, in Konflikt mit dem Wesen der Spinne kommen, mit ihrer Natur.

Und gleichzeitig würde das Netz anfangen, die Welt um sich zu verändern. Vielleicht würde es zu schwer werden, vielleicht würde es schließlich zur Erde fallen und im Fallen große Bäume mit sich reißen. Vielleicht würde es die Spinne mit sich ins Verderben stürzen.

Das ist das zweite, was ich sagen wollte: Die Erforschung der Welt durch den Menschen, sein Netz, verändert auch diese Welt. Wenn ich nachts wach liege, wenn ich nicht schlafen kann und mich aufsetze und die Frau und das Kind ansehe, dann fürchte ich, dann weiß ich, daß das Netz zu weit entfernt vom Wahrnehmungsapparat ausgebreitet worden ist. Es reicht jetzt bis zu Schwarzen Löchern und Sternnebeln hinaus und zu immer kleiner werdenden Elementarteilchen hinunter, es entdeckt Gegebenheiten, die auf den Alltag zurückwirken, die zu Kühlschränken, Schulbüchern, Cäsiumuhren, U-Booten, Computern, Automotoren, Atombomben werden und die Geschwindigkeit des Daseins ständig vergrößern.

1873, als Sandford Fleming von der Canadian Pacific Railway auf der Meridian-Konferenz eine «universale Weltzeit» für den ganzen Erdball vorschlug, gab es in Amerika einundsiebzig verschiedene Zeitsysteme. 1893 wurde die amerikanische Version von Flemings Initiative in Deutschland zum Gesetz erhoben. Kurz nach der Jahrhundertwendeschlossen sich große Teile Europas der Greenwich Mean Time an.

Über die ganze Welt breitete man als Instrument die Zeit aus. Und bis in die Erziehung der Kinder hinein breitete die Schule das Netz von Präzision und Genauigkeit aus. So weit, daß die Grenze dessen erreicht wurde, was Menschen ertragen können. Die Grenze, an der das Netz anfängt, seinem eigenen Gewicht nachzugeben. Und die Spinne im Fallen mit sich zu reißen. [...]

Die Naturwissenschaft scheint das Gefühl gehabt zu haben, dass die Natur des Menschen etwas sei, worin man eingesperrt ist. [...] Und da haben sie versucht, dagegen anzugehen, gewissermaßen um auszubrechen. Und dann ging alles schief.

Bei Biehl [dem Leiter der im Roman dargestellten Schule] sollte man fünf bis sechs Stunden am Tag dasitzen, das obligatorische Schulaufgabenmachen nicht eingerechnet, fünf Tage in der Woche plus Sonntag für die Internatsschüler, über vierzig Wochen im Jahr, zehn Jahre lang. Wobei man sich ununterbrochen bemühen sollte, präzise und genau zu sein, um sich zu verbessern.

Ich glaube, das war gegen die Natur von Kindern.

Manchmal gab es morgens einen Nebelschleier am Kinderheim, einen weißen Dunst, der von der Erde aufstieg. Wo er auf die Sonne vom Himmel traf, hingen die Tautropfen in den Spinnennetzen, mit krummen, umgekehrten Spiegelbildern der weißen Bäume und des feuchten Grases und des eigenen Gesichts. Als würden bei der Begegnung zwischen dem Wasser von der Erde und dem Feuer vom Himmel kleine, kugelförmige Universen geboren. Und irgendwo in der wortlosen Schönheit dieser krummen Spiegelwelten konnte man sich wegen des Bürstenschnitts wiedererkennen.

Das Netz, das Licht, der Tau, all das muß ein Teil der Umwelt und Natur der Spinne gewesen sein. Doch nicht als Begrenzung, nicht als Isolation. [...] Natur ist keine Zwangsjacke, die gesprengt werden muß. Natur ist eine Gnade, eine Chance zum Wachsen, die allem Lebendigen geschenkt ist.

Wie eine Leitlinie im Leben.

Für Platon war Gott Mathematiker, auch für Kepler, auch für Biehl und Fredhøj [den stellvertrenden Schulleiter]. Ich glaube, es war kein Zufall, dass ihre wichtigsten Fächer Biologie und Mathematik waren.

Das Ziel, das hinter diesen Fächern stand, das Ziel, das sie und die Schule leitete, hatte sie dazu gebracht, ihr eigenes Schicksal so weit wie möglich Gott zu nähern.

Die Mathematik ist eine Art Sprache. Die einzige im Universum, die von Grenzen nichts wissen will.

Notgedrungen haben Psychologie und Biologie anerkannt, daß es eine Grenze dafür gibt, welchen Lebensbedingungen man Lebewesen unterwerfen kann. Daß es eine Grenze dafür gibt, wie streng die Disziplin, wie hart die Arbeit, wie fest der Rahmen sein darf, den Kinder ertragen können.

Selbst die Physik hat Grenzen. [...] Die obere [astronomische] und die untere [subatomare] Grenze.

Die Mathematik aber ist grenzenlos. Für sie gibt es keine unteren und oberen Grenzen, nur Unendlichkeit. Vielleicht ist sie, wie man sagt, an sich weder böse noch gut. Da aber, wo wir ihr begegnet sind, als Erscheinungsform der Zeit, als Ziffern [ebenfalls linear, in Deutschland von 1 bis 6], mit denen man Leistungen und Verbesserungen maß, als Argument dafür, daß das Absolute möglich sei, da war sie nicht menschlich. Da war sie unnatürlich.

Fredhøj und Biehl sprachen es nie direkt aus, aber ich weiß jetzt mit Sicherheit, was sie gedacht haben. Oder vielleicht nicht gedacht, sondern empfunden. Welche Kosmologie es war, auf der all ihre Handlungen ruhten. Sie waren der Meinung, am Anfang habe Gott den Himmel und die Erde als Rohmaterial geschaffen, wie eine Gruppe Schüler, die in die erste Klasse kommt, zur Verarbeitung und Veredelung [s. PS] berechnet und bestimmt. Und als geraden Weg, an dem entlang die Veredelung vor sich gehen sollte, schuf er die lineare Zeit. Und als Instrumente, um zu messen, wie weit der Veredelungsprozeß fortgeschritten war, schuf er die Mathematik und die Physik.

Ich habe folgendes gedacht: Wenn nun Gott gar nicht Mathematiker war? Wenn er nun gearbeitet hätte [...], ohne die Fragen und die Antworten eigentlich definiert zu haben? Und wenn sein Resultat nun nicht total war, sondern ungefähr? Vielleicht eine ungefähre Balance. Nichts, das verbessert und bearbeitet werden sollte, sondern etwas, das schon einigermaßen fertig und im Gleichgewicht war. So wie zwei Bäume und die Sonne und die Feuchtigkeit von der Erde, zwischen denen man nichts weiter tun mußte als sein Netz spinnen, so gut man es vermochte, und das wäre ausreichend gewesen, mehr würde nicht verlangt. Und falls eine Entwicklung eintreten sollte, so würde sie teilweise von selbst eintreten, man müßte nicht das Extreme leisten, man könnte einfach seiner Natur treu bleiben, und sie würde eintreten. Wenn es nun das war, wenn das das Ziel war?“

In Høegs Sinn ist die Mathematik also
  • keineswegs nur ein Schulfach unter anderen und auch
  • nicht bloß Opfer der einseitigen Leistungsideologie,

sondern deren Rückgrat und Motor.

Diese Kritik an der Mathematik als Disziplinierungsinstrument bzw. zumindest -gehilfin („als Erscheinungsform der Zeit, als Ziffern, mit denen man Leistungen und Verbesserungen maß, als Argument dafür, daß das Absolute möglich sei“) mag einseitig sein – und trifft doch nach wie vor den Kern:

(vgl. dazu

zitiert nach , 4.3.2003)

und sowieso als Haupt- bzw. Kernfach ja wie die Axt im Walde auf - und biedert sich der neu-resignierten Leistungs-, Effizienzsteigerungs- und Optimierungsideologie [die Unworte des Jahres!] nach Strich und Faden als Erfüllungsgehilfin an;

PS: es war natürlich kein Geringerer (bzw. Höherer) als Wolfgang Clement, der damalige Ministerpräsident von NRW, der die Institution Schule „Veredelungsanstalt“ genannt hat.

        Man beachte den Wortbestandteil „Anstalt“:

Anstalt: [...] auch ´Gebäude einer Einrichtung´, beachte z. B. die Zusammensetzungen ´Blinden-, Lehr-, Irrenanstalt´ [für Michel Foucault eh alles dasselbe; vgl. „Überwachen und Strafen“].

         (Duden)