(x - 1)2 (x2 - 4) = 0 ?

Auszug aus dem Artikel "Mathematisches Verständnis" in Wikipedia:

"Beispiele aus der Unterrichtspraxis

Durch übertriebenes Training einzelner Lösungswege entwickeln Schüler manchmal die Angewohnheit, Aufgaben ohne vorher über alternative Lösungswege nachzudenken auf die gut beherrschten Grundaufgaben zurückzuführen:

[...]

Fragestellung: „Welche Lösungen haben die Gleichungen oder ?“

Bei beiden Gleichungen kann man die Lösungen leicht bestimmen, indem man die Faktoren des Produktes einzeln betrachtet. Manche Schüler multiplizieren hier aus (Standardform des Polynoms herstellen!) und müssen dann im ersten Fall die zeitraubende Lösungsgleichung für quadratische Gleichungen (Mitternachtsformel) anwenden und kommen bei der zweiten Gleichung zu einer Gleichung 4. Grades, die sie kaum richtig lösen können."

Allemal richtig ist da der erste Satz "Durch übertriebenes Training einzelner Lösungswege ...", denn der meiste Unterricht läuft ja nach wie vor darauf hinaus, idiotensichere Lösungswege durchzunehmen und in der dann folgenden Klassenarbeit genau diese abzuprüfen.

(Solche Schulmathematik ist doch derart verlässlich, dass man sich eigentlich wundern müsste, dass [aus guten anderen Gründen] so einige SchülerInnen dennoch schlechte Klassenarbeiten schreiben.)

Und dann folgt im Wikipedia-Text ein erstes (Standard-)Beispiel für eine umständliche Anwendung "ausgelatschter" Lösungswege statt eines Verständnisses der Struktur: ?

Da kann ein Schüler natürlich umständlich die Klammern "ausmultipizieren" und dann noch viel umständlicher eine "Lösungsformel" anwenden:

Lösungsformeln

Zum Finden von Lösungen einer quadratischen Gleichung kann man die quadratische Ergänzung benutzen. Da die quadratische Gleichung stets die gleiche Struktur aufweist, bietet es sich an, eine allgemeinere Formel herzuleiten. Es ergeben sich zwei Lösungsformeln, die als abc-Formel (auch Mitternachtsformel, weil jeder mitten in der Nacht geweckte Schüler diese Formel ohne nachzudenken aufsagen können soll) und als p-q-Formel bekannt sind.

(Quelle:  )

Beispielsweise anhand der ja doch schon "verdammt schwierig" aussehenden p-q-Formel wird da sofort eine Fülle potentieller Fehlermöglichkeiten deutlich:

Viel einfacher, schneller und weniger fehleranfällig ist da natürlich folgendes Vorgehen:

             (x - 2 )              (x+3) = 0 ?

Das Produkt zweier Faktoren (hier ganzer Klammern) ist genau dann gleich Null, wenn mindestens einer der beiden Faktoren (eine der beiden Klammern) Null ist.

(Man muss sich das mal in aller Drastik klarmachen: wenn der eine Faktor gigantisch groß ist, der andere aber "nix", hilft alle Größe des ersteren nichts, sondern setzt sich gnadenlos der letztere durch. Und das schafft beim Produkt so ratzeputz eben nur die ach so unscheinbare Null: die Null ist der große Gleichmacher und Vernichter wie sonst nur der Tod - und damit erstmals ein Jubellied auf die Null!:

Charles Seife: Zwilling der Unendlichkeit; Eine Biographie der Zahl Null; Berlin Verlag
Robert Kaplan: Die Geschichte der Null; campus
Brian Rotman: Die Null und das Nichts; Eine Semiotik des Nullpunkts; Kadmos )

Hier also:

     (x - 2 )              (x+3) = 0

(x - 2) = 0 oder (x + 3) = 0

  x       = 2 oder   x        = - 3

Fertig!

Viel interessanter ist allerdings das zweite Beispiel (x  -  1)2 (x2 - 4) = 0 , weil das sozusagen gleichzeitig

(dies ausmultiplizierte Gleichung 4. Grades ist nebenbei x4-2x3-3x2+8x-4 = 0, also schon ein ganz schön abschreckendes Monstrum!),

                  (x  -  1)2                               (x2 - 4) = 0

             (x  -  1)2            = 0 oder        (x2 - 4) = 0  

  (x - 1)              (x - 1 ) = 0 oder        (x2 - 4) = 0  

(x - 1) = 0 oder (x - 1) = 0 oder        (x2 - 4) = 0

   x       = 1 oder  x         = 1 oder x = 2 oder x = - 2

(Hier seien doch kurz einige interessante Aspekte erwähnt:

  1. dass bei (x  -  1)2 außerhalb, bei (x2 - 4)  hingegen innerhalb der Klammer quadriert wird, wobei auf unterschiedliche Arten jeweils zwei Nullstellen zustande kommen;

  2. die scheinbar überflüssige Dopplung in "x = 1 oder  x  = 1": ein Nichtmathematiker wird da nur

"das ist doch dasselbe und also ist eines von beiden überflüssig"

sagen, während ein Mathematiker aus "dasselbe" den zusätzlichen Schluss zieht, dass da eine "doppelte" Nullstelle, also ein Berührpunkt mit der x-Achse vorliegt.

Das "intelligente" Verfahren ist also nicht nur einfacher, sondern macht auch ausgehend von den überdeutlichen Nullstellen besonders gut deutlich, wie der Graph der zugehörigen Funktion aussieht, nämlich etwa so:

)

Allemal bemerkenswert ist aber, dass der Autor des o.g. Wikipedia-Artikels vorsichtig hinzugefügt hat:

"Manche Schüler [...] kommen bei der zweiten Gleichung [also (x  -  1)2 (x2 - 4) = 0 ]  zu einer Gleichung 4. Grades [nämlich x4-2x3-3x2+8x-4 = 0 ], die sie kaum richtig lösen können."

Dabei wäre zu ergänzen: "kaum mit den schulischen Bordmitteln", und in der Schule werden üblicherweise keine komplexen Zahlen durchgenommen.

Ein Oberstufenschüler sollte die Gleichung x4-2x3-3x2+8x-4 = 0 aber sehr wohl lösen können, wenn auch

  1. arg umständlich,

  2. durch "unmathematisches" Probieren:

er wird untersuchen, ob er zwei Lösungen "auf Anhieb sieht", und da üblicherweise mit x = 0, x = 1, x = - 1, x = 2 und x = -2 anfangen - und dann evtl. entnervt aufgeben.

Mit x = 1 sowie x = 2 hätte er im vorliegenden Fall allerdings sofort zwei Lösungen gefunden und könnte dann die ursprüngliche Funktion vierten Grades mittels zweifacher Polynomendivision auf eine quadratische Gleichung reduzieren, die er wiederum mittels der p-q-Formel lösen könnte.

Das alles ist natürlich - wie schon gesagt - höchst umständlich und "unmathematisch", aber es funktioniert!

Überzeugender als (x  -  1)2 (x2 - 4) = 0 wäre also beispielsweise (x  -  5)2 (x2 - ) = 0, da "unser" Schüler, der ja von der ausmultiplizierten Gleichung ausgeht,

Mit (x  -  5)2 (x2 - ) = 0 hätten wir also endlich ein Beispiel, das


Das Fragezeichen in der Überschrift

(x - 1)2 (x2 - 4) = 0 ?

war durchaus mehrdeutig gemeint:

  1. : wann (für welche x) wird (x  -  1)2 (x2 - 4) Null?

(... eine Frage, die oben ja schon beantwortet wude.)

  1. : ist das Beispiel eigentlich günstig?

(Ich hatte soeben zu zeigen versucht, dass beispielsweise (x  -  5)2 (x2 - ) = 0 günstiger wäre.)

  1. - und davon soll das Folgende handeln -: ist die Unterscheidung zwischen

eigentlich überzeugend?


Wenn man´s erstmal weiß, dass das "intelligentere" Verfahren auf jeden Fall leichter, manchmal aber auch besser ist, und wenn man es vor allem schon längst kennt, neigt man allzu schnell dazu, sich über die "dummen" SchülerInnen aufzuregen, die umständlich (und teilweise aussichtslos) rechnen.

(Manchmal scheint mir sogar, dass solche Aufgaben gestellt werden, damit die SchülerInnen "drauf" reinfallen - und umständlich rechnen, auf dass man sie hinterher mit der viel schlaueren Lösung beschämen kann. Vgl. etwa   .)

Leute, die so reden, möchte ich aber doch gerne fragen, ob sie denn selbst auf das "intelligentere" Verfahren gekommen sind (wären).

Ist es nicht genauso ein Standardverfahren wie das (wenn auch häufigere) Ausmultiplizieren samt "Lösungsformel"? Müssen also beide ausdrücklich im Unterricht durchgenommen worden sein? Und benutzen SchülerInnen nur deshalb häufiger das "Ausmultiplizierverfahren", weil dieses eben viel häufiger (oder gar ausschließlich) im Unterricht "dran" war?:

wenn ich jemanden lange genug aufs Ausmultiplizieren trimme (ihm sage, dass er ein typischer Jude ist), wird er es auch tun (sich so fühlen und sogar verhalten; vgl. Max Frischs "Andorra").

Es sei hier mal dahingestellt, wie SchülerInnen evtl. selbst auf das "Produktverfahren" kommen können. Auf jeden Fall scheint mir dazu aber ein vollständig anderer "Struktur"-Unterricht nötig: einer, in dem sicherlich auch Termumformungen inkl. Ausmultiplizieren und p-q-Formel vorkommen, aber doch erheblich weniger als üblich, um strukturellen Betrachtungen Platz zu machen.


Ich könnte mir aber noch einen ganz anderen Grund dafür vorstellen, dass SchülerInnen selbst dann das Ausmultiplizierverfahren benutzen, wenn sehr wohl auch das "Produktverfahren" im Unterricht vorgekommen ist:

das Produktverfahren ist nämlich in gewissem Sinne sogar viel schwieriger als das Ausmultiplizierverfahren.


"strukturelle" Betrachtungen, d.h., sich in einer Art Zoom-Verfahren von grob zu klein klarzumachen, wie Terme bzw. Gleichungen ganz grundsätzlich aufgebaut sind - und dann zuerst das Grobe anzugehen, um vielleicht gar nicht mehr das Kleine machen zu müssen.

(Überhaupt werden mir ja im Standardunterricht zu viele Aufgaben komplett gelöst, statt dass man sich "nur" mal die Grobstruktur und prinzipielle Lösungswege [aber nicht -details] anschaut.)

Im vorliegenden Fall von (x  -  1)2 (x2 - 4) = 0 also:

  1. Hurra, auf einer (der rechten) Seite der Gleichung steht eine Null, was doch alles im doppelten Sinne erheblich vereinfacht:

  1. ist nur dann das Produktverfahren (so schön!) anwendbar,

  2. kann ich dann beide Seiten beliebig multiplizieren oder dividieren, rechts bleibt auf jeden Fall immer eine Null stehen.

(Wenn also rechts keine Null stünde, würde ich erstmal dafür sorgen!

Also zum zweiten Mal ein Tusch auf die Null!

  1. Die Grobstruktur von (x  -  1)2 (x2 - 4) = 0 ist schlichtweg

                                          (x  -  1 )   (x   - 4) = 0

(Vgl. )

Kleine Preisfrage: was gilt für x und y, wenn

gilt?

Mich interessieren nur die prinzipiellen Antwort, denn eindeutige Lösungen gibt´s da eh nicht (es bleiben zwei voneinander abhängige Variable).