eine mathematische Pfeife ist gar keine Pfeife

Rache ist süß: da mir die Verwendung des entsprechenden Bildes von René Magritte untersagt wurde, räche ich mich nun sozusagen an Magritte selbst:

er hat ein berühmtes, aber ästhetisch völlig uninteressantes Bild einer "Pfeife" gemalt, dessen einziger, auch ohne Bild, also ebenso gut nur sprachlich mitteilbarer Gag darin besteht,  dass unter der "Pfeife" der Text steht:

"Ceci n'est pas une pipe", also "Dies ist keine Pfeife".

(vgl. auch )


Nachdem die Malerei sich von der fotografischen Abbildung der Wirklichkeit abgewandt hatte

(als wenn solche reine Abbildung jemals ihre [einzige] "Absicht" gewesen wäre!),

musste sie sich zunehmend (und bis heute?) gegen empörte Einwände wehren.

Eine Anekdote bringt das schön auf den Punkt:

Vor einem  Bild des Malers Franz Marc soll ein Zuschauer mal empört gesagt haben: "Aber es gibt doch gar keine blauen Pferde", womit dann wohl auch gemeint war: "Das ist schlechte bzw. gar keine Kunst - und der »Künstler« ist irre."

Und der anwesende Franz Marc soll - so will es die Anekdote bzw. so habe ich sie zumindest in Erinnerung - geantwortet haben: "Das ist ja auch gar kein Pferd", womit er vermutlich meinte: "Das ist nur ein Bild von einem Pferd" bzw. "Das ist ein Bild von der Form eines Pferdes, das ich aber - ich bin so frei! - zusätzlich blau gefüllt habe."

Man könnte es in sprachwissenschaftlicher Terminologie folgendermaßen erklären: Da gibt es

(eigentlich eine Banalität, der wir alle uns aber im Alltag oft nicht bewusst sind)

natürlich nicht identisch mit letzterem.

(Es gäbe - nebenbei - noch eine intelligentere Antwort: "Aber selbstverständlich gibt es ein blaues Pferd, nämlich auf meinem Bild." Und wo ich´s so sage, frage ich mich, ob Franz Marc nicht doch diese Antwort gegeben hat.)

Was Marc noch implizit "gesagt" hat, sagt (!) Magritte mit  nun explizit

(und es ist ja wahrhaft außergewöhnlich, dass ein Satz auf einem Bild auftaucht):

"Das Bild einer Pfeife ist nicht die [eine bestimmte?] Pfeife selbst."

(Mir wäre es sogar noch lieber

[provokativer? banaler?]

gewesen, wenn Magritte statt

"Dies             ist keine Pfeife"

doch

"Diese Pfeife ist keine Pfeife"

auf das Bild geschrieben hätte.)


Was aber hat diese ganze Malerei-"Problematik" mit Schulmathematik zu tun?

Magrittes Bild scheint mir eine schöne Metapher für ganz grundsätzliche Probleme vieler SchülerInnen im Mathematikunterricht zu sein:

Wenn im Mathematikunterricht

(z.B. bei "Anwendungsaufgaben", aber auch in der "reinen" Mathematik, wenn da beispielsweise von einer "Drehung" die Rede ist)

Dinge aus der realen Außenwelt vorkommen, haben diese für viele SchülerInnen dennoch rein gar nichts mit den realen Dingen der Außenwelt zu tun.

Vielmehr wird im selben Augenblick, in dem irgendeine Sache aus der Außenwelt im Mathematikunterricht auftaucht, dieser Außenweltbezug in den Köpfen der SchülerInnen sofort (und reflexartig) radikal gekappt.

Es ist - so gesehen - also verlorene Liebesmüh´ der MathematiklehrerInnen, überhaupt Außenweltbezüge ("Anwendungsaufgaben") herzustellen: sie könnten statt "Pfeife" genauso gut "Gnulf", "Plorz" oder "z#3@" sagen

(was manchmal durchaus sinnvoll ist!: vgl. (klimm + bimm)2 = klimm2 + 2 klimmbimm + bimm2)

 - oder einfach ehrlich (wie in der Mathematik üblich) von "x" sprechen!

(Der Gerechtigkeit halber sei ergänzt, dass das keineswegs nur im Mathematikunterricht so ist: beispielsweise hat ein Liebesgedicht im Deutschunterricht für die SchülerInnen ebenfalls rein gar nichts mehr mit ihren eigenen, realen Liebeserfahrungen zu tun - und gefriert sowieso sogar das schönste Thema zu purer Langeweile, sobald es im Unterricht auftaucht?)

Wenn also in einer Mathematikaufgabe eine "Pfeife" auftaucht, so denken viele SchülerInnen keineswegs mehr an reale Pfeifen

(und können dann auch ihr durchaus vorhandenes Vorwissen [im vorliegenden Fall über Pfeifen] nicht "einbringen").

Zwei Beispiele:

  1. Nach einigem Hin- und Herrechnen kam eine Schülerin in einer Klassenarbeit zu dem Ergebnis, dass elf Flaschen Wein

-27,30 € (wohlgemerkt: minus!)

kosten. Das hat sie auch schön brav so hingeschrieben und ansonsten nicht weiter ["laut"] drüber nachgedacht.

(Nun gäbe es für das negative Ergebnis vielleicht durchaus eine intelligente Lösung, also z.B., dass jemand für den Erwerb der Weinflaschen Schulden gemacht hat.)

Woran mag die ansonsten aber eigentlich doch eklatant widersinnige Antwort

(und dass das der Schülerin nichtmal aufgefallen zu sein scheint)

gelegen haben?

Mir scheint, da gibt´s zwei Gründe:

  1. die Schülerin hat nach (wie üblich) ellenlanger reiner Rechnung längst vergessen, dass anfangs (in der Aufgabenstellung) von Weinflaschen die Rede war

(gegen diesen Fehler lässt sich immerhin noch relativ leicht was tun: man verpflichtet die SchülerInnen bei Textaufgaben zu einer vollständig verbalen Antwort auf die anfängliche Fragestellung, also

  • nicht      "x = -27,30",

  • sondern "elf Weinflaschen kosten -27,30 €"

[woran zwecks Einschätzung des (falschen) Ergebnisses jede Einzelinformation wichtig sein kann:

  • dass es genau elf sind,

  • dass es Weinflaschen sind,

  • dass in Euro gerechnet wird.])

  1. und erheblich problematischer: die Weinflaschen in der Aufgabe hatten für die Schülerin rein gar nichts mit echten Weinflaschen zu tun.

(... wobei hier und im Folgenden mal weitgehend davon abgesehen sei, ob SchülerInnen überhaupt Vorerfahrungen mit Weinflaschen [oder anderen in Matheaufgaben auftauchenden Dingen] haben, also z.B. Wein- oder Biertrinker sind.

Das Problem ist viel grundsätzlicher, als dass man es leicht durch modisch "jugendnahe", also z.B. Handytarif- oder Skateraufgaben lösen könnte - die zudem oftmals nur anbiedernd sind und außerdem eine Halbwertszeit von etwa zwei Monaten haben.)

  1. Aus einem "staatlichen" Vorschlag für sogenannte "Parallelarbeiten" in der 10. Klasse:

"[Ein] Dach [muss] neu gedeckt werden. Dazu werden rechteckige Dachziegel von 30 cm Breite und 40 cm Höhe verwendet.

  1. Wegen der Dichtigkeit liegt jeder Dachziegel auf dem nächstfolgenden darunter liegenden ein Stück weit auf. Diese Überlappung macht 12,5 % der Ziegelfläche aus. Wieviel cm liegen die Ziegel demnach übereinander?

[...]"

Während einer "Parallelarbeit", in der diese Aufgabe auftauchte, ergab sich für die Aufsicht führenden LehrerInnen ein Problem, mit dem keineR von ihnen gerechnet hatte und das sie enorm irritierte, wenn nicht gar schockierte: mehrere SchülerInnen fragten

Nun ist vielleicht die Substantivierung "Überlappung" zum Verb "überlappen" ungewohnt

(man merkt als LehrerIn ja leider oftmals erst im Nachhinein, dass man ungewohnt bis geradezu irreleitend bzw. unverständlich formuliert hat; vgl. etwa auch die Wörter "Dichtigkeit", "nächstfolgenden darunterliegenden" oder "demnach" in der obigen Aufgabenstellung),

aber das eigentliche Problem scheint mir doch woanders zu liegen:

  1. entweder darin, dass SchülerInnen tatsächlich noch nie das Wort "überlappen" gehört haben???

  2. oder dass sie noch nie bewusst beobachtet haben, wie sich zwei Dinge überlappen??

(denn [unbewusst] gesehen haben sie sowas zweifelsohne schon zigtausend Mal)

  1. oder dass das Wort "überlappen" sofort rein gar nichts mehr mit durchaus vorhandenen Vorerfahrungen zu tun hat, wenn es in einer mathematischen Aufgabe auftaucht?

Die wichtigsten Gründe scheinen mir doch b) und c) zu sein, wobei ich allerdings b) nur ganz kurz abhaken möchte:

Stimmt überhaupt der Eindruck, dass SchülerInnen zunehmend in einer erlebnisarmen und unanschaulichen Welt leben? Wenn ja, so müsste Aufmerksamkeit ausdrücklich in Schulen geübt werden (vgl. ).

Hauptsächlich interessiert mich hier aber - meinem Thema entsprechend - natürlich c), d.h.

das Auseinanderklaffen von mathematischem Wort und Außenwelt.

Vielleicht liegt ja genau da das Problem:

Üblicherweise - so hatte ich schon gesagt - halten wir die Signifikanten und die Signifikate fast für identisch. Im Mathematikunterricht passiert hingegen etwas wahrhaft Außergewöhnliches:

Dinge (Signifikate) und Wörter (Signifikanten) werden vollständig voneinander getrennt, und übrig bleiben (ohne jeden "Weltbezug") nur letztere.

(Ein - wie mir scheint: letztlich doch eher nebensächlicher - Grund für solch eine Trennung mag darin liegen, dass Fachsprachen oftmals verführerisch alltägliche Begriffe benutzen, sie aber vollständig anders definieren; z.B. hat die in der Mathematik rein gar nichts mit einer realen Wurzel zu tun - was nebenbei Enzensberger in wunderschön ironisiert hat, indem er die mathematische Wurzel einfach in "Rettich" umbenannt hat.)


Nun ist es natürlich leicht (gleichzeitig aber auch eine pädagogische Bankrotterklärung), sich über die "ach so dummen SchülerInnen heutzutage" aufzuregen, bei denen längst "Hopfen und Malz verloren ist".

Sondern wenn man nicht schon vollends resigniert (oder einfach nur voller Vorurteile) ist, stellen sich doch zwei Fragen:

  1. wie ist es zum beschriebenen Auseinanderklaffen gekommen

(wenn die Diagnose denn überhaupt stimmt),

  1. wie kann man (von der Problemdiagnose ausgehend) dazu kommen, dass die Kluft wieder überwunden wird?

(Kurzer Exkurs: vielleicht ist das gezeigte Problem im Fach Mathematik besonders eklatant. Aber wie schon oben angedeutet, ist es eben auch ein ganz grundsätzliches Problem von Schule.

Ich möchte versuchen, Gründe und daraus folgende Lösungsansätze "in einem Abwasch" zu behandeln:

Man muss sich nämlich mal klar machen, dass der "Durchschnittsmensch" im Alltag fast nie rechnet, und wenn doch, so addiert er fast nur.

(Nochmals eine kleine Invektive gegen "jugendgemäße" Aufgaben: die Jugendlichen haben zwar Handys, aber sie rechnen nie mit deren Gebühren. Und falls man den rechnerischen Vergleich von Handygebühren als erzieherische Maßnahme zum Wohle des Portemonnaies der Jugendlichen versteht, wird das ins Leere laufen, weil die Jugendlichen sicherlich nicht nachher mit der Handygebührenberechnung fortfahren werden.)

Das Problem ist, wie gesagt, fast unvermeidbar, aber eben nur fast: im Mathematikunterricht wird zu früh gerechnet

(es wird so getan, als sei die Welt überhaupt nur zum Berechnen da)

und fast nur gerechnet.

Nun ist es zwar nicht ganz zu vermeiden, dass Dinge urplötzlich mathematisch werden, wenn sie eben im Mathematikunterricht auftauchen

["wo steckt die Gleichung dahinter?"],

aber es müsste doch möglich sein und immer wieder versucht werden, die Dinge offener anzuschauen. Vgl. etwa .

(wogegen ja auch gar nichts einzuwenden ist; mehr noch: die Vermittlung der reinen Mathematik ist und bleibt das höchste Ziel des Mathematikunterrichts!).

Dementsprechend

(und in der Tat sind sie meist nur "eingekleidete" Mathematik),

(was ihnen oftmals allerdings selbst nicht bewusst ist; und genau daher rühren die leidigen "eingekleideten" Aufgaben)

die "Außenwelt" oftmals nur als eine Art willfähriger Lakai dazu, innermathematische Sachverhalte zu veranschaulichen (vgl. "Anschauung statt Anwendung").

Mir scheint allerdings, hier wäre Ehrlichkeit angesagt, und konsequente "Anschauung statt Anwendung" könnte sehr wohl helfen, die "Dinge" für SchülerInnen wieder "sichtbar" zu machen.

(und zwar weit über die Mathematik hinaus; und nur das ist überhaupt ein Grund dafür, die Mathematik in den Fächerkanon aufzunehmen!).

Aber für meine Begriffe

Um mit Martin Wagenschein zu sprechen: die SchülerInnen werden nicht bei den "Phänomenen" abgeholt.


Wenn denn die oben gestellte Diagnose

"Im Mathematikunterricht passiert [...] etwas wahrhaft Außergewöhnliches: Dinge (Signifikate) und Wörter (Signifikanten) werden vollständig voneinander getrennt, und übrig bleiben (ohne jeden "Weltbezug") nur letztere."

stimmt, so bleibt nur eins:

Man muss die realen Dinge (Signifikanten, Pfeifen, Weinflaschen ...) wieder (ab und zu) in den Mathematikunterricht holen und mit den Wörtern (Signifikaten) verbinden, indem man beim Aussprechen der Wörter auf die realen Dinge zeigt:


Zuguterletzt nochmals zu meinem Lieblingsfeindbild "eingekleidete" (Pseudo-)Anwendungsaufgaben

(und das sind etwa 90 % aller Aufgaben, die heute Anwendungsbezug vorgeben!):

sie sind im hier behandelten Zusammenhang allemal gefährlicher als die ach so harmlosen "reinen" Mathematikaufgaben, denn diese "eingekleideten" Aufgaben


PS: vgl. auch .
PPS:

im Deutschunterricht ist es nicht viel anders: man muss nur einen Satz aus vermeintlich abgehobener Literatur in einen alltäglichen Zusammenhang versetzen, und prompt verstehen die SchülerInnen ihn in all seiner Dramatik.