eine romantische Geschichte

Frühjahr 1831
Berkeley County, West Virginia

Die Farm war in vielerlei Hinsicht etwas Gutes. William Ferrels Vater hatte sie vor zwei Jahren gekauft, und das Leben dort war ruhiger als im unsteten Holzhandel. Auch hatte Ferrel dort viel Platz, um sich fortzustehlen und nachzudenken. In seiner lärmenden Familie mit sechs Brüdern und zwei Schwestern geschah es leicht, dass er unbemerkt blieb, der Stille in der Ecke, der seinen eigenen Gedanken nachhing.
Der Haken war nur, dass es für ihn nichts zu lesen gab. Ferrel war vierzehn. In den beiden letzten Jahren hatte er zusammen mit den anderen Bauernkindern in der eiskalten Schulhütte alles, was er an Lesen, Schreiben, Rechnen und Grammatik lernen konnte, mitgenommen. Im Sommer wäre es vielleicht angenehm gewesen, aber da waren die Stunden, in denen es hell war, zu lang und zu kostbar, um mit Lernen vergeudet zu werden, wo doch selbst die jüngsten Kinder auf den Feldern gebraucht wurden. Lernen gehörte in den Winter, wenn der eisige Wind unter dem Ölpapier durchdrang, mit dem anstelle von Glas die Fensteröffnungen bespannt waren, und durch die Lücken zwischen den roh behauenen Stämmen der Hütte kroch.
Die Kälte hatte Ferrel nicht viel ausgemacht. Viel mehr störte ihn, dass die Schule jetzt für ihn vorbei war. Nun galt es, mit der Farm voranzukommen und nicht länger zu grübeln. Aber er konnte seine Gedanken nicht abstellen. Er brauchte unbedingt etwas zu lesen, egal was. Die Familie bezog eine kleine örtliche Zeitung, den Virginia' Republican, der allwöchentlich im nahen Martinsburg erschien. Wenn sie kam, machte Ferrel sich gleich darüber her, auf der Suche nach einem seltenen Artikel, über den er nachdenken konnte. Da entdeckte er ein Buch, das er sogleich begehrte. Es hieß Parks Arithmetic, und es enthielt verlockende Zeichnungen für die Berechnung des Umfangs und der Fläche von Formen. Das musste er unbedingt haben.
Ferrel war jedoch zu schüchtern, seinen Vater um das Geld zu bitten - ausgerechnet für ein Buch. Er wartete ab, bis es ihm gelungen war, als Erntehelfer bei einem Nachbarn 50 Cent zu verdienen, und machte sich dann auf zu dem Buchladen in Martinsburg. Dort stellte sich heraus, dass das Buch 62 Cent kostete, aber der Ladenbesitzer war so freundlich, es ihm auch für 50 Cent zu überlassen.
Parks Arithmetic war der unwahrscheinliche Anfang von Ferrels lebenslanger Liebesaffäre mit Büchern. Er verschlang den Text, arbeitete die Aufgaben eifrig durch und freute sich über jede Lösung, die er fand. Das Rechnen fiel Ferrel leicht. Es war theoretisch, vielleicht sogar imaginär und ohne erkennbaren Zusammenhang mit der natürlichen Welt auf der Farm, in der er lebte und atmete. Aber er liebte es so, wie die Süchtigen ihre Kreuzworträtsel lieben. Man konnte ihm jede Aufgabe stellen - er fand die Lösung.
Da passierte am Morgen des 29. Juli 1832 etwas Wichtiges, das zwischen diesem Rätsellösen und seiner Umwelt einen Zusammenhang herstellte. Ferrel war unterwegs zu den Feldern, als er Zeuge einer Sonnenfinsternis wurde. Damit hatte er nicht gerechnet, aber ihm war klar, dass irgendjemand gewusst haben musste, dass sie kommt. Der Mond zog ständig über seinem Kopf vorüber, und gelegentlich musste er sich zwischen Erde und Sonne schieben und deren Scheibe für kurze Zeit verdecken. Nicht anders musste es sich bei einer Mondfinsternis verhalten, nur dass es hier der Schatten der Erde war, der das Bild des Mondes verdeckte. Auf jeden Fall musste das kosmische Ballett der Planeten vorhersehbar sein.
Astronomie hatte Ferrel natürlich nicht gelernt. Er kannte nicht die Form der Umlaufbahn des Mondes, und auf jeden Fall hatte er nicht genug Geometrie gelernt, um seine Bahn berechnen zu können. Aber er konnte nach Vorlagen suchen. Die einzigen Hilfsmittel, die er fand, waren eine Einführung in die Geographie mit Informationen über die Erde und ein Jahrbuch für den Farmer mit Angaben über die Stellungen der Sonne und des Mondes zu verschiedenen Zeitpunkten im Jahresverlauf. Wenn er sich nur genügend anstrengte, würde es ihm vielleicht gelingen, die Zeiten und Daten künftiger Finsternisse zu berechnen.
Das war eine fabelhafte neue Denksportaufgabe, die sowohl seine praktische Seite als auch den Theoretiker in ihm ansprach. Jeden Moment, den er von seinen gewöhnlichen Pflichten abzwacken konnte, arbeitete er daran, bei Tag und bei Nacht, und er hielt seine Bemühungen sorgfältig in einem Notizbuch fest. (Einmal hätte er beinahe aus Verzweiflung aufgegeben. Fälschlich hatte er angenommen, der Schatten der Erde habe immer denselben Durchmesser wie die Erde selbst, während er in Wirklichkeit mit wachsendem Abstand kleiner wird. Solange dieser Irrtum nicht behoben war, ergaben seine geometrischen Überlegungen einfach keinen Sinn. Da fiel ihm eines Abends auf dem Dreschboden auf, dass der Schatten, den eine Holzplanke warf, schmaler war als die Planke selbst, und er raste ins Haus, um seine Berechnungen zu überarbeiten.)
Nach zwei Jahren mühseliger Arbeit hatte Ferrel endlich seine Vorhersagen: Im nächsten Jahr, 1835, würde es eine Sonnen- und zwei Mondfinsternisse geben. Er brauchte nicht den genauen Tag und die Uhrzeit abzuwarten, um festzustellen, ob er recht hatte, denn im Jahrbuch für 1835 würden die Angaben stehen. Als es eintraf, jubelte er. Die drei Finsternisse wurden genau für die von ihm berechneten Tage angekündigt, und seine Uhrzeiten stimmten bis auf wenige Minuten.
Jetzt kam Ferrel nicht mehr davon los. Ein Junge aus der Nachbarschaft erzählte ihm von einem Buch, das er gesehen hatte, einem Buch, das »sehr viele Diagramme« enthielt und von einem Thema mit dem Namen »Trigonometrie« handelte. Im Buchladen von Martinsburg kaufte Ferrel etwas, was diesem Buch am nächsten kam - ein Lehrbuch über Vermessungskunde -, und begann es begeistert zu studieren.
Er konnte in diesem Sommer kaum einen Augenblick erübrigen - er sollte, solange es hell war, auf dem Dreschboden arbeiten und den Weizen von der Spreu trennen. Zum Glück hatte die Scheune auf beiden Seiten große Tore, die aus breiten Brettern von weichem Pappelholz bestanden. Daher brauchte Ferrel weder eine Tafel noch Papier und Bleistift. Er zeichnete seine Diagramme auf die Tore; Kreise machte er mit den Zinken einer Heugabel und Geraden mit einer einzelnen Zinke, wobei er ein kleines Brett als Lineal zu Hilfe nahm. (Die von ihm eingeschnittenen Linien überstanden mehrere Jahrzehnte lang Wind und Wetter, und auch als er schon ein berühmter Wissenschaftler geworden war, schaute er jedes Mal, wenn er auf der Farm zu Besuch war, nach ihnen.)
Im folgenden Winter borgte Ferrel sich von einem alten, in den Bergen lebenden Landvermesser ein anderes Lehrbuch über Geometrie und studierte es beim schwachen Schein einer Talgkerze und des Öfteren beim bloßen Schein des Kaminfeuers. Neben dem Kamin lag ein Stapel Kienholz, und sobald er eines ins Feuer warf, flackerte es auf, wenn auch nur für einige Minuten. Im Winter darauf unternahm er eine zweitägige Fahrt durch den Schnee, um sich aus Hagerstown in Maryland ein Exemplar von Playfair's Geometry zu beschaffen. Je mehr er lernte, desto größer wurde sein Hunger. [...]

(zitiert nach   , S. 142ff)