(das mathematische Spezialgebiet) "Schätztheorie"? So weit sind wir noch gar nicht, so hoch wollen wir auch gar nicht hinaus! | |
"Wie viele Klavierstimmer gibt es in Chicago
Der absonderliche Charakter dieser Frage, die geringe Wahrscheinlichkeit, daß jemand die Antwort kennt, und der Umstand, daß [der Physiker und Nobelpreisträger] Fermi sie seinen Studenten an der University of Chicago gestellt hat - all das hat ihr einen legendären Ruf eingetragen. Es gibt keine Standardlösung (genau darum geht es ja), doch jeder kann Vermutungen anstellen, die zu einer ungefähren Antwort führen. Hier ist eine Möglichkeit: Wenn die Großstadt Chicago drei Millionen Einwohner hat, eine Durchschnittsfamilie aus vier Personen besteht und ein Drittel aller Familien ein Klavier besitzt, dann gibt es zweihundertfünfzigtausend Klaviere in der Stadt. Wenn jedes Klavier alle fünf Jahre gestimmt wird, müssen jedes Jahr fünfzigtausend Klaviere gestimmt werden. Wenn ein Stimmer vier Klaviere am Tag schafft, sind das bei zweihundertfünfzig Arbeitstagen pro Jahr eintausend gestimmte Klaviere. Folglich muß es in der Stadt ungefähr fünfzig Klavierstimmer geben. Die Antwort ist nicht genau, sie kann auch fünfundzwanzig oder hundert lauten, aber wie die Gelben Seiten des Chicagoer Telefonbuches bezeugen, kommt sie der Wahrheit recht nahe. (zitiert nach ) |
Natürlich geht es in der Mathematik auch und vor allem um absolute Exaktheit, die sie ja gerade von allen anderen (aus mathematischer Sicht deshalb fast Nicht-)Wissenschaften unterscheidet:
für einen Techniker reicht oftmals 1/3 = 0,3333, für einen Mathematiker ist das aber komplett falsch (und ich würde es SchülerInnen ja auch anstreichen);
exakt ist hingegen 1/3 = 0,3333333333333333... bzw. 1/3 = 0,3;
höchstens gilt 1/3 ≈ 0,3333;
dementsprechend ist auch der Beweis, dass die irrational ist
überhaupt nur (inner-)mathematisch interessant, aber außerhalb der Mathematik (bei jeder Anwendung) völlig uninteressant, ja sogar eher irreführend:
"Fragt man einen Techniker, was ist, nimmt der seinen Taschenrechner und sagt: 1,414214.
Der Physiker sagt einfach: Ja, so ungefähr 1,41.
Der Mathematiker geht weg, kommt nach zwei Stunden wieder und sagt: Ich weiß zwar nicht, wieviel ist, aber ich kann beweisen, dass es sie gibt."
Und dennoch sollte ein Mathematiker schätzen können:
vorweg eine Ahnung haben, in welcher Größenordnung ein späteres (exaktes) Ergebnis liegen könnte
(womit man sich allerdings mörderisch verschätzen kann, weil jegliche Anschauung versagt; vgl. ),
in Folge davon geeignete Maßeinheiten und Rechenverfahren wählen,
ein späteres (exaktes) Ergebnis an der anfänglichen Schätzung messen können, um eventuelle Rechenfehler zu erkennen,
sich durch Schätzungen einige überflüssige Rechnungen ersparen.
Im üblichen Mathematikunterricht an Schulen wird viel zu viel exakt (und ohne Sinn und Verstand) gerechnet und viel zu wenig geschätzt. |
Die Folgen sind:
viele SchülerInnen haben kein Gespür dafür, ob ihre Rechnungen stimmen können;
sie haben kein Gespür für Größenordnungen:
100 und 10 000 sind für sie dasselbe ("viel")
(den Unterschied muss man tatsächlich [passend zum Entwicklungsstand und der jeweiligen Auffassungsgabe] lernen; etwa so, wie SchülerInnen erst langsam historische Entfernungen einzuschätzen lernen: in der 5. Klasse sind für sie der Dreißigjährige Krieg und der Zweite Weltkrieg ununterscheidbar, nämlich beide "ewig lange her");
und sie sind deshalb regelrechte Zahlenanalphabeten
(vgl. ; solcher Zahlenanalphabetismus ist nicht mit der "Diskalkulie", also den Schwierigkeiten beim Rechnen zu verwechseln);
sie sind somit anfällig für alle gefälschten Behauptungen (und überhaupt allzu leicht durch große oder kleine Zahlen beeindruckbar).
Man darf sich nicht darauf verlassen, dass SchülerInnen das Schätzen schon irgendwann im Unterricht "von selbst" lernen werden. Sondern es sollte
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(Ausstellungsstück im Einwanderungsgebäude auf Ellis Island / New York)