der (fatale) Siegeszug der Mathematik

Wenn es in der Schule nicht gelingt, die "reine", also nicht-angewandte Mathematik attraktiv erscheinen zu lassen, fragen Schüler gerne entnervt:

"Wozu braucht man eigentlich den ganzen [Mathematik-]Scheiß?!"

Das ist natürlich

"Zu nichts!"
("damit kann man nichtmal einen Nagel in die Wand schlagen") 

(Die Frage nach der Brauch- = Anwendbarkeit stammt allerdings wohl auch daher

[das haben die Schüler sehr gut begriffen:],

dass heutzutage alles [s.u.] ökonomisch nutzbar sein muss.)

Auf solch einen die Lehrer durchaus auch persönlich treffenden Anwurf antworten viele Lehrer, dass heutzutage

  1. alles

    (von Suchmaschinen bis zur Konstruktion von "smartphones")

mathematisch sei und man deshalb

  1. doch wohl Mathematik können müss(t)e.

Zu 1., dass also "alles" Mathematik sei:

ob die Mathematik inzwischen tatsächlich ausnahmslos "alles" durchdringt, sei hier erstmal dahingestellt

(und weiter unten diskutiert).

Kaum ein Zweifel kann aber wohl daran besteht, dass die Mathematik

(und zwar zunehmend)

große Teile der Wirklichkeit - was immer das sei: - beherrscht.

Vgl. :

 "Unsere heutige Gesellschaft entfaltet sich in vollständiger [?] Abhängigkeit vom wissenschaftlich-technischen [ und das heißt eben auch mathematischen] Fortschritt."

Zu 2., dass man also "deshalb doch wohl Mathematik können müss(t)e":

das ist zumindest auf den ersten Blick ein Rohrkrepierer-Argument: um beispielsweise Suchmaschinen und Smartphones benutzen zu können, braucht man ja eben keine Mathematik! Erst umgekehrt "wird ein Schuh draus": Suchmaschinen und Smartphones können überhaupt nur deshalb so weit verbreitet sein, weil

Kurz und gut: ein Durchschnittsschüler braucht im späteren Leben nie wieder Mathematik!

(Belügen wir die Schüler also bittschön nicht!)


Nun ist es allerdings trotzdem so einfach nicht: der Hauptzweck des (klassischen) Gymnasiums ist (war mal?) Allgemeinbildung und die Allgemeine Hochschulreife.

wir wissen ja noch nicht, was die Schüler später (nach dem Abitur in einigen Jahren) studieren werden (wenn sie dann überhaupt studieren).

Vor allem aber wissen die Gymnasiasten selbst es nicht, bzw. wir Lehrer sollten sie geradezu ermutigen, sich alle Möglichkeiten offen zu halten

(und dankbar dafür zu sein, dass sie im Gegensatz zu Haupt- und Realschülern diese Chance bzw. diesen Luxus haben).

Ein gutes Beispiel bin ich selbst: gegen Ende der Mittelstufe hätte ich es doch für unmöglich gehalten, dass ich mal Spaß an Literatur oder gar an einem Germanistik-Studium finden könnte

(und inzwischen Deutschlehrer bin).

Es ist also durchaus denkbar, dass einige Schüler, die derzeit noch keinen Draht zur Mathematik haben, später dennoch etwas Mathematisch-Naturwissenschaftlich-Technisches studieren werden - oder ein Fach, in dem zumindest indirekt Mathematik benötigt wird (z.B. Wirtschafts-"Wissenschaften")

(und dann brauchen sie natürlich dringend eine mathematische Grundbildung!).

Weil wir aber noch nicht wissen, was aus unseren Schülern mal "wird", ist so wichtig:

vornehmste Aufgabe des Gymnasiums ist es, den Schülern Einblicke in die wichtigsten "Betrachtungs-, Erklärungs- und damit auch Handlungsweisen" der Welt zu geben, also

(um nur mal beim gängigen Fächerkanon zu bleiben)

in

Mit Recht darf in Gymnasien keiner (?) dieser Bereiche in der Oberstufe komplett abgewählt werden

(wohl aber darf man z.B. Physik abwählen, wenn man dafür Chemie oder Biologie wählt, also anderweitig naturwissenschaftliches Denken "mitbekommt").

Ziel solch einer Vielfalt der "Betrachtungs-, Erklärungs- und damit auch Handlungsweisen" ist

(und keineswegs [wie heutzutage hauptsächlich] die ökonomische Verwertbarkeit des "Humankapitals"; vgl. "schola" = das Freisein von Geschäften),

"Grundlagen" bedeutet ab nicht bloß "Betrachtungs-, Erklärungs- und damit auch Handlungsweisen" (Schulfächer), sondern auch
Bleiben wir bei der Mathematik: Rechenverfahren sind gut und schön, aber meiner Meinung nach kommen in Schulen gerade wegen der fast vollständigen Konzentration auf diese Rechenverfahren andere wichtige "Dinge" viel zu kurz:
  1. die "Denkweisen" der Mathematik,
  2. (und das ist hier mein eigentliches Thema) die zunehmende gesellschaftliche Bedeutung der Mathematik

(was viel mehr ist als vermeintliche "Anwendungsaufgaben"):


Wo gibt es denn einen Mathematikunterricht, in dem diese zunehmende Bedeutung der Mathematik mal explizites Thema

(z.B. in einer dreiwöchigen Unterrichtseinheit)

oder zumindest ab und zu "Nebenthema" ist?

Nein, der übliche Mathematikunterricht bleibt

(mal abgesehen von einigen "Anwendungsaufgaben")

vollständig innermathematisch, tut also so, als wenn die Mathematik im luftleeren Raum schwebe, d.h. keinerlei gesellschaftliche Wurzeln und Relevanz hätte.

Gründe dafür mögen philosophische Naivität, Unwissenheit / Ignoranz oder Überheblichkeit der Mathelehrer (und Lehrplanmacher) sein

(welche Mathelehrer sind schon historisch bewandert?).

Weitere Gründe scheinen mir aber zu sein:

  1. verstehen sich wohl die meisten Mathelehrer (wie ich!) als "reine" Mathematiker - und was interessiert da die "unreine" Außenwelt?! Bzw. was kann die "reine" Mathematik dafür, dass sie "draußen" ab und zu missbraucht wird?!

(Dahinter steckt auch die naive Einstellung: "eine Atombombe ist ein Ding und damit moralisch neutral; es kommt halt drauf an, was man [= "der" Mensch] draus macht, und "menschliches Versagen" sowie kriminelle Energie sind nunmal leider Gottes nie vollständig zu verhindern.")

  1. liegt da eine "kleine" Verwechslung vor: die Mathematik handelt in der Tat von ewigen Wahrheiten - und steht damit (angeblich) über aller Geschichte und Gesellschaft.

(Genau das ist aber nicht der Fall, sondern schon am Anfang aller Mathematik standen menschliche Vorentscheidungen:

was beides doch allemal einen erheblich eingeschränkten und eventuell auch gefährlich falschen Eindruck von der "Gesamtwirklichkeit" erzeugt

[allerdings auch enorme Vorteile und somit den Siegeszug der Mathematik überhaupt erst ermöglicht hat].)

Ob's einem gefällt oder nicht: es kann kein Zweifel bestehen, dass die Mathematik enorm erfolgreich ist und spätestens seit der Frühneuzeit einen schier unglaublichen Siegeszug hingelegt hat

(unglaublich vor allem deshalb, weil zumindest ich es nach wie vor für erstaunlich halte, dass die Natur sich überhaupt [u.a.?] nach mathematischen Gesetzen verhält; oder sehen wir diese mathematischen Gesetze nur in die Natur hinein bzw. erhalten wir, weil wir mathematisch fragen, notgedrungen auch "nur" mathematische Antworten?: "wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus").

"Siegeszug"

(als handelte es sich um !)

meine ich durchaus auch positiv

(... wobei ich hier über die Schönheit der "reinen" Mathematik gar nicht reden will; ipso facto)!:

der auf Mathematik beruhende technische Fortschritt hat ja allemal auch einen humanen Fortschritt ermöglicht

(das kann nur leugnen, wer allzu selbstverständlich von diesem Fortschritt profitiert, also wie die Made im Speck sitzt - und was gegen Speck hat).

Diese positiven Beiträge der Mathematik zum Fortschritt sollten doch durchaus mal in der Schule gewürdigt werden - und zwar auch und gerade im Mathematikunterricht:

wenn z.B. in Geschichtsschulbüchern Newton gar nicht erwähnt oder nur auf einer drittel Seite abgehandelt wird, so wird es Zeit, dass u.a. die Mathematiklehrer dem beispielsweise folgende knackige These entgegensetzen:

waren genauso sehr (wenn auch auf andere Art) "wirkungsmächtig" wie z.B.

(Nebenbei: die Große Gemeinsamkeit von Kopernikus, Columbus und Newton ist für mich die Öffnung der Welt ins Unendliche!)

Oder war es Whitehead, der gesagt hat, dass Pythagoras mit seinem Glauben, dass die Welt auf Mathematik beruhe, sogar "wirkungsmächtiger" als Jesus war?

(Dabei sei mal dahingestellt, ob

Mit

"[...] einen erheblich eingeschränkten und eventuell auch gefährlich falschen Eindruck von der »Gesamtwirklichkeit« [...]"

wurde aber auch schon die große Gefahr der (zunehmenden) Mathematisierung der Wirklichkeit angedeutet. Vgl.

 

und darin insbesondere

Die problematischsten Ausläufer der Mathematik sind dabei

  1. die Digitalisierung, also die Reduktion der Wirklichkeit auf die zweiwertige Logik von "Strom oder nicht Strom", "0 oder 1", "schwarz oder weiß", "wahr oder falsch", "Coca oder Cola",
  2. die Reduktion des Bildungswesens auf (lineare) "Rankings"

(das Äquivalent zu ökonomischen "Ratings")

sowie Mess- und Vergleichbarkeit

(bei gleichzeitigem "newspeak" von "Qualität" [obwohl doch immer nur Quantität gemeint ist] und "individueller Förderung"),

  1. dass oftmals nur noch als Wissenschaft gilt, was mathematisierbar ist, und damit die völlige Verwandlung etwa der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften;
  2. die durchgehende Ökonomisierung

(der Siegeszug des Kapitalismus, der alles frisst: (buch ökonomie der gefühle))

und das heißt eben die Reduktion auf Geld, das nichts anderes ist als Zahlen.

Oder kurz gesagt ein eigentlich längst überholter und dennoch fröhliche Urständ feiernder "Reduktionismus" der Dummfatzkes:

Problematisch ist daran vor allem zweierlei:

  1. , dass, wie schon gesagt, das (mathematische) Expertenwissen vollständig in den "Geräten" verschwindet;
  2. , wie schon angedeutet, dass die mathematische Betrachtungs- und Erklärungs- automatisch auch eine Handlungsweise ist: Philip Roscoe hat in seinem Buch gezeigt, dass insbesondere die (großteils mathematische) Ökonomie die (vollständig ökonomisch gedachte) Welt

    (welch schlauer oder naiver Schachzug:)

nur zu beschreiben sie vorgibt: dass die ökonomische Beschreibung also eine "selbsterfüllende Prophezeiung" ist.

Warum aber ist die (angewandte) Mathematik so erfolgreich? Vielleicht

  1. , weil sie es mit so einfachen "Weltsegmenten" zu tun hat, nämlich mit unbelebter Natur und als tot gedachter Ökonomie

(nicht aber mit hochkomplexem Leben inkl. Emotionen, Kultur und Gesellschaft),

  1. , weil die Mathematik durch die Beschränkung ihres Blickwinkels und ihre Abstraktion entgegen allen Unkenrufen so relativ einfach ist.

Aus all dem folgt, dass die (einseitigen) Denkweisen der Mathematik samt solchen Aufsätzen wie dem "Welt"-Artikel dringend in die Schulen gehören - und von beidem sollten alle Schüler gehört haben, also auch diejenigen, die niemals etwas Mathematisch-Naturwissenschaftlich-Technisches studieren, also niemals mehr Mathematik "brauchen" werden.

Denjenigen, die aber tatsächlich später etwas Mathematisch-Naturwissenschaftlich-Technisches studieren, kann ein wenig "kritische" Mathematik noch weniger schaden.


                                                                      

PS:

Nun sind die wirklich guten Mathematiker ja keineswegs so einseitig, wie es oben dargestellt wurde. Nur leider sind es oftmals die Kleingeister

(oftmals Ingenieure, Informatiker und Ökonomen),

die Mathematik anwenden.

PPS:

einen Fehler werde ich natürlich nicht machen: das Noch-nicht-Mathematisierbare für prinzipiell gar nicht mathematisierbar halten

(so wie die Theologie allzu lange in umgekehrter Salamitaktik das als Gotteswerk definiert hat, was noch nicht naturwissenschaftlich erklärbar war).