Anfrage an die Stochastik

 

"Wir werden mit Fragebögen und Statistiken überhäuft. Computer [...] spucken Standardabweichungen und Korrelationskoeffizienten aus. Diese werden dazu verwendet, uns in Übereinstimmung mit den Schlussfolgerungen der Befrager zu bringen."

"Eine faire Münze wird geworfen. Ein bestimmter Vorgang gilt als Ergebnis des Wurfes; dies ist ein Ereignis von vollkommener Unbestimmtheit.
Der Wurf zeigt keinerlei Neigung, und dieses Fehlen von Neigung läßt ihn zu einem Ereignis höchsten ethischen Niveaus werden.
Durch seine Unbestimmtheit beweist der Wurf, daß er von der Welt der Bedeutungen vollständig getrennt ist; deshalb ist er ein Ereignis auf niedrigstem ethischen Niveau.
Diese Zweideutigkeit der Ebenen verleiht dem Wurf Bedeutung."

"Trotz der Tatsache, daß wir heute in einer stochastisierten Welt leben, ist das Verständnis, das der Stochastisierung zugrunde liegt, schwer erfassbar und umstritten geblieben. Die Mathematik darin ist streng genug, was das Formal-Deduktive anbelangt. Aber welchem Aspekt der wirklichen Welt entspricht sie nun? Ist die Wahrscheinlichkeit real oder ist sie nichts als ein Feigenblatt der Unkenntnis? Die Frage, was real sei, ist selten einfach zu beantworten. Ist der Teufel ein realer Aspekt der Welt? In vergangenen Jahrhunderten lautete die Antwort wie selbstverständlich ja. Der Teufel hat sich heute zumindest in der zivilisierten Welt auf eine bescheidenere und eher metaphorische Rolle zurückgezogen. Der Zufall wird für vieles in Anspruch genommen, was früher dem schmutzigen Geschäft des Teufels zugeschrieben worden ist."

(Philip J. Davis, Reuben Hersh)

In NRW ist vor einigen Jahren die Stochastik in der gymnasialen Oberstufe zum verbindlichen Stoff gemacht worden.

Natürlich ist das mal wieder nach dem alten Schema gelaufen:

(selbstverständlich gibt es auch in der Mathematik Moden; vgl. nur etwa die Chaostheorie mit ihrem "Schmetterlingseffekt"!),

(Man denunziert ja immer nur die [vermeintlichen?] ehemaligen, ist aber blind für die derzeitigen Modetorheiten und Patentrezepte. Vgl. auch seinerzeit die schulische Mengenlehre, die ja durchaus wichtigen fachmathematischen Trends folgte.)

Ich kann da mitreden, weil mein Studium inzwischen auch 20 Jahre her ist

(ich also inzwischen auch zur potentiellen "Führungsgeneration" gehöre :-)

und damals gerade die Wahrscheinlichkeitstheorie an den Universitäten "in" war.

Man könnte also auch böse sagen:

(vgl. etwa: "die neueste Musik kriege ich eh nicht mehr mit [bzw. sie lässt mich einfach kalt], also ist die letzte "richtige" Musik von Bob Dylan [der inzwischen auch 60 ist] und müssen ab jetzt alle zwangsweise Bob Dylan hören"; aber nichts gegen Bob Dylan!).

Das größte Problem bei der Stochastik ist: wie immer (Profilbildung, Schulprogramm, Facharbeiten usw. usf.) wurde da etwas in bürokratischem Aktionismus oder aber frohgemuter kultuspolitischer Naivität holterdiepolter vorgeschrieben ("wir machen heute mal wieder einen netten Erlass"), statt es vorerst mal mittelfristig schulpraktisch zu erproben bzw. zu ermöglichen.

Aus all dem sollte man doch immerhin (wieder: wie immer) schließen: bitte (die Stochastik) nicht so heiß essen, wie es gekocht wurde; bzw. "der Hund bellt, die Karawane zieht weiter". Sowas nennt man "Dienst nach Vorschrift", d.h. man tut nur das absolut notwendige Minimum (die minimalste "Obligatorik").


Die Stochastik (in der Schule) bringt ganz prinzipielle Schwierigkeiten mit sich:

  1. biografisch-berufliche Probleme:

(man kann also den ewig gleichen Standard hier also durchaus mal als Vorteil sehen).

Der Hinweis auf solche biografisch-beruflichen Probleme ist keineswegs so gemeint, dass "Neuheiten" wie die Stochastik LehrerInnen nicht (mehr) zumutbar sind. Und schon gar nicht sind diese Probleme ein schlagendes Argument gegen die Einführung der Stochastik in Schulen.

(Ich neige sogar dazu, die Einführung der Stochastik in der Schule für höchst sinnvoll zu halten, und zwar ausdrücklich nicht wegen der derzeit modischen Berufsvorbereitung, sondern weil da in der Tat mal eine ganz andere Art Mathematik betrieben und somit die sonstige Schulmathematik relativiert wird.)

Aber die (auch bei mir!) grassierende Unsicherheit ist immerhin zur Kenntnis zu nehmen: ich habe schon erlebt, dass "gestandene" MathematiklehrerInnen, die fachlich (ansonsten) bestens orientiert sind und so etwa das Selbstbewusstsein eines Kubikmeter Stahlbetons haben, vor einer Äußerung zur Stochastik in eine permanente captatio benevolentiae ("alles Folgende ist vermutlich falsch") ausbrachen.

  1. fachliche Probleme:

Bild,

bei der sich die Schwierigkeiten für viele SchülerInnen (und LehrerInnen?) schon geradezu stapeln:

  1. eine Wurzel
    (und das auch noch auf den ersten Blick doch immerhin widersinnigerweise aus einer Summe),

  2. eine umständliche Summe,

  3. Division nicht (wie zu erwarten) durch n, sondern durch n-1
    (und jetzt musste ich mir sagen lassen, in der "freien Wildbahn" verwende man eben doch immer nur n).

Schwierigkeiten bereiten also

  1. eine einsehbare Herleitung (statt "so ist das nun mal definiert"), d.h. auch eine Begründung der spezifischen Aussagekraft,

  2. die schlechte Merkbarkeit
    (vielleicht erfordert die Stochastik wie kein anderes Gebiet eine Formelsammlung),

  3. die teilweise enorme Rechenarbeit, die bei größeren Datensätzen hinter dem Summenzeichen steckt.
    (Gerade bei c. wird deutlich, wie hilfreich hier tatsächlich mal der Rechner sein kann. Das unterscheidet solche Formeln ja auch von denen etwa der Analysis, die an sich keinen großen Rechenaufwand fordern.
    Und dennoch besteht die Gefahr, dass gerade der Rechner von den "Grundideen" [s.u.] wegführt, weil er ja alles so eindeutig ausrechnet.)

(sich meist bewusst als InnermathematikerInnen verstehende)

MathematiklehrerInnen aber kaum gewohnt, ja das ist für sie überhaupt keine "richtige" Mathematik.

vgl.

Bild

Gero von Randow: Das Ziegenproblem; Denken in Wahrscheinlichkeiten; rororo

In der Stochastik gibt es prinzipiell nicht mehr die absolute Sicherheit der sonstigen (Schul-)Mathematik.

(fast könnte man sagen: gerade deshalb betreibt man ja Stochastik!)

Es kann also nicht deutlich genug darauf hingewiesen werden, dass die Stochastik derzeit

(zumindest meinem Eindruck nach)

in den Schulen zu ganz enormen Irritationen sowohl auf Lehrer- als auch (was viel schlimmer ist) auf Schülerseite führt.

Nur ein Beispiel: ein Freund (Mathematiklehrer), der nun wahrhaft "fit" in Stochastik ist, sah sich nicht in der Lage, die Übungsaufgaben seiner Tochter in einem Mathematikleistungskurs zu lösen, bzw. er kam da zumindest sowohl bei der Modellbildung als auch bei der Interpretation schwer ins Schlingern (während er natürlich die reine Mathematik mit "Links" erledigte).

Mein (sicherlich erst mal subjektiver) Eindruck ist da:

Es sind dringend GrundsatzÜberlegungen angesagt, was in der Stochastik vermittelt werden kann und soll, und das bedeutet für mich vor allem:

  • Reduktion auf minimale mathematische Grundlagen,

  • gründliche Problematisierung und "Erfahrung" des inhaltlich wichtigsten Punktes bzw. der Grund"idee", also des Wahrscheinlichkeits- bzw. Zufallsbegriffs,

  • Problematisierung der Modellierung echter Anwendungen und der Aussagefähigkeit von Statistiken,

  • Übergang zu einer ganz anderen Sorte von Mathematikbüchern, also z.B. den populärwissenschaftlichen Statistikbüchern von Walter Krämer oder Bild

(wobei natürlich keineswegs das Ressentiment herauskommen darf, dass [alle] "Statistiken ja sowieso lägen"; vielmehr soll natürlich

  • ex negativo [aus gefälschten oder unsauber erstellten und bewerteten Statistiken] geschlossen werden, wie solche Statistiken vermieden und im Gegensatz dazu "saubere" Statistiken aussehen sollten, wie also auch Fußangeln vermieden werden können;

  • positiv gezeigt werden, wie erstaunlich zuverlässig "saubere" Statistiken sind; was eben auch heißt, dass ihre Ergebnisse nicht banal, also auch ohne bzw. schon vor jeder Statistik klar sind.)

  • (wie in keinem anderen mathematischen Gebiet) LeistungsÜberprüfungen weit jenseits des Wahr-/Falsch-Schemas,

  • Übergang zu Bild mathematischen Aufsätzen,

  • dazu massive änderung bzw. Öffnung der Lehrpläne.

Ich will hier das Wort "Problem" allerdings im ursprünglich griechischen Sinne von "problema" verstehen, also als Aufgabe bzw. Herausforderung:

Z.B. lässt sich angeblich zeigen, dass es im Kreis Kleve die meisten Unfalltoten im Autoverkehr gibt. Nur weshalb (falls es überhaupt stimmt)? Und wenn's stimmt: was folgt daraus?

Rein innermathematische, uninterpretierte Ergebnisse können - etwa bei Untersuchungen zur Ausländerfeindlichkeit - dazu führen, dass entweder nur Banalitäten ermittelt oder nur Vorurteile zementiert werden.

 

Spätestens in der Stochastik ist auch und gerade die Innermathematik nicht mehr ideologisch "farbneutral", sobald sie auch nur einen Millimeter in die Wirklichkeit ausgreift.

Wollte man es böse formulieren, so könnte man prononciert sagen: MathematikerInnen verhalten sich manchmal wie Vampire, die einem Sachverhalt (soziale Problemen und teilweise auch Elend) nur das mathematische Blut aussaugen.
Da wäre es oftmals doch ehrlicher, rein innermathematisch zu bleiben (etwa beim reinen Urnenmodell) und die Wirklichkeit nicht als Vorwand für Anwendbarkeit zu missbrauchen.
Hier stellt sich allerdings auch die Frage, wie weit man schon allein innermathematisch kommen müsste, um halbwegs aussagekräftige Interpretationen aufstellen zu können. Sicherlich reicht nicht die reine Kombinatorik. Aber muss man bis zu Testverfahren kommen?

Es geht kein Weg um die grundsätzliche Problematik der Wahrscheinlichkeit, also um Philosophie oder schlichtweg die existentielle Unbestimmtheit und damit auch Verunsicherung eines jeden Menschen (also auch aller SchülerInnen) herum, d.h. Philosophie muss spätestens in der Stochastik untrennbar Teil der Mathematik werden.

Die Botschaft muss mehrdeutig sein:

Vgl. auch