der mathematisch strukturierte Verstand

Wir (MathematiklehrerInnen) müssen uns immer wieder klar machen, dass unsere Denkweise ein kulturelles Spät- oder vielleicht sogar Dekadenzprodukt und keineswegs selbstverständlich ist. Bzw. auch wir selbst haben ewig lange gebraucht, um derart selbstverständlich "mathematisch" zu denken, wie wir es inzwischen tun.

Wir können und dürfen solches Denken also nicht problemlos bei anderen (SchülerInneN) voraussetzen, bzw. wenn wir es tun, scheitern wir regelmäßig - und sind dann völlig irritiert, warum die anderen nicht derart "mathematisch" denken können ("so dumm kann man doch eigentlich gar nicht sein").

Wir machen uns zudem oftmals nicht mal mehr klar, wie sehr das mathematische Denken inzwischen unsere Welt beherrscht:

beherrschen ↑ herrschen.

  1. Um beispielsweise mit Computern umgehen zu können, muss man schon vollständig in einer glasklaren Hierarchie denken können:

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für einen Laien hingegen ist die "Denkweise" eines Computers (die letztlich eine rein mathematische ist) eben nicht so einfach, wie die arroganten Computerfreaks es immer unterstellen

(auch sie haben ja längst vergessen, wie dumm sie selbst anfangs vorm Computer aussahen):

(vgl. Ober-/Teilmenge, Menge von Mengen, Element von ...;

und wer in einer Computerhilfe nach "Text" sucht, sieht alt aus; aber er kann ja gar nicht wissen, dass er nach "Datei" suchen muss);

Laien fühlen sich schnell durch Computer beschämt

("ich bin noch dümmer als solch eine simple Maschine": die endgültige Erniedrigung!),

und darüber erhaben zeigen kann sich vielleicht erst, wer den Computer halbwegs beherrscht, statt von ihm beherrscht zu werden

(und wer inzwischen weiß, dass 3/4 aller Fehler nicht an ihm selbst, sondern an der Instabilität von Windows liegen).

Computer richten sich ja nicht im mindesten nach dem "gesunden" (haushoch überlegenen!) Menschenverstand, sondern verlangen ein ausgesprochenes Schmalspurdenken.

  1. die krasse Ja-/Nein-Logik ("Benutzerführung" oder gar "intelligentes Hilfesystem" genannt) von

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(jede funktioniert anders, und außerdem muss man immer drei gleichzeitig bedienen; und zudem sind die wichtigsten Funktionen ganz tief hinter esoterischstem Schnickschnack verborgen)

und

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So verzweifelt einfach ist das: Bild

Insbesondere ältere Menschen sind da rettungslos verloren

(trauen sich dann gar nicht mehr auf Reisen),

worauf die Bahn, die ja nur Stellen abbauen will (und das als Kundenservice verpackt), natürlich keinerlei Rücksicht nimmt.

"Wenn ich den Selbstentwerter im Omnibus
nicht bedienen kann und wieder schwarz fahr'n muß
Wenn die Wasserwerke mir den Hahn abdreh'n,
weil ich's nicht lerne, die Computerrechnung zu versteh'n.
Wenn ich einseh'n muß, ich krieg den Hifi-Turm nicht an
weil ich die Einschaltautomatik nun mal nicht einschalten kann."
(Reinhard Mey)

  1. Das mathematisch-geometrisch strukturierte Gehirn lebt ganz klassisch newtonsch in einer absoluten (vierdimensionalen) Raumzeit, was sich besonders schön am Fach Geographie klarmachen lässt:

GeographielehrerInnen

(die genauso "verkorxt" sind wie MathematikerInnen, nämlich [von sich selbst] abstrahieren gelernt haben)

kämpfen immer wieder damit, dass SchülerInnen "links/rechts/oben/unten" statt "West/Ost/Nord/Süd" sagen

("wie kommt man nach China?" - "wenn man nach Russland reinkommt, nach rechts abbiegen!"

Und Neuseeland ist "down under", weil es unten an der Erde hängt und seine Einwohner deshalb alle mit den Füßen nach oben umherwandeln - also vermutlich doch andauernd einen Blutstau im Kopf haben.

Aber ich will mich über solch simple Anschauung nicht lustig machen: sie ist ja aller Sinneserfahrung nach durchaus richtig, und erst die Abstraktion ist unfassbar).

GeographInnEn haben zweierlei begriffen:

  1. die Nordung der Erde (auf Globen und Landkarten) ist - um es germanistisch zu sagen - arbiträr, aber konventionell, d.h.

  1. Geographen können die Nordung nach einiger Übung natürlich problemlos in subjektive Richtungen übersetzen.

Man kann das schön am Umgang mit Straßenkarten klar machen. In der Tat gibt es ja

  1. einerseits Leute (MathematikerInnen, GeographInnEn bzw. derart vorgebildete Menschen), die als helfende Beifahrer die Karte grundsätzlich genordet halten

(womit sich zudem einige Verrenkungen im engen Auto erübrigen)

und dennoch problemlos in subjektive Richtungen übersetzen können:

"jetzt links abbiegen", obwohl es doch auf der Karte nach rechts geht (weil man von Norden kommt);

  1. andererseits Leute, die die Karte immer derart drehen, dass sie in der jeweiligen subjektiven Fahrtrichtung liegt:

Oder anders gesagt:

Das sei an einer Fahrt von Warschau über Paris nach Rom verdeutlicht:

A-Wahrnehmung                         B-Wahrnehmung

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Man könnte auch sagen:

Oder (und da wird's mathematisch bezeichnend):

"Und sie [die Erde] bewegt sich doch nicht."
(und das aus dem Munde naturwissenschaftlich vorgebildeter Menschen!)

"Hier stehe ich, ich kann nicht anders."

Dabei wurden die Begriffe "subjektiv" und "objektiv" natürlich nur probeweise benutzt: die subjektive Fahrtrichtung sowohl eines A- als auch eines B-Menschen ist ja während der Fahrt tatsächlich, also objektiv seine Fahrtrichtung.

  1. Man muss sich nur mal anhand einer simpel mathematischen Gleichung wie z.B. y = x2 klar machen, was für ein irrwitzig langer Abstraktionsweg es bis dahin ist:

(und zwar aus purer Faulheit, weil man's nach 17 Quadrierungen von 17 Zahlen langsam satt hat bzw. sich zu schade für solch eine Stumpfsinnsarbeit ist)

von den Zahlen selbst abstrahiert:

"sei x irgendeine Zahl" bzw. "ab sofort ist x jede Zahl"

(wobei man nebenbei auf die Dauer gar nicht mehr weiß, um welche Zahl es eigentlich geht: 3 2 kann ja noch jeder rechnen, aber was ist 423 2 oder gar 1,4985398 2 ???)

man kann sich überhaupt nicht deutlich genug klar machen, wie erstaunlich und gleichzeitig doch erstmal gehirnausrenkend das ist: hinter dem klitzekleinen Ausdruck "x2" steckt in Wirklichkeit eine gigantische Maschine, die sämtliche, ja sogar unendlich viele Zahlen quadriert;

im Vergleich damit ist beispielsweise das 1,6 Quadratkilometer große Werksgelände von VW in Wolfburg winzig klein: da können täglich nur einige wenige tausend Autos produziert werden.

Und mit dem popeligen "y"

(einem einzigen Buchstaben!)

in "y = x2" haben wir nun sämtliche (unendlich viele!) Ergebnisse sämtlicher (unendlich vieler!) Rechnungen:

"egal welches Blech [x] vorne in die gigantische Maschine rein kommt, y ist das jeweilige Auto, das hinten raus kommt."