was bedeutet "(gleich-)wahrscheinlich"?

 

Wahrscheinlichkeit [...] Einstufung von Aussagen oder Urteilen nach dem Grad ihres Geltungsanspruchs zwischen Möglichkeit und Gewissheit; insbesondere in der Mathematik der Grad der Möglichkeit beziehungsweise Voraussagbarkeit des Eintretens eines Ereignisses (Wahrscheinlichkeitsrechnung).
(Brockhaus multimedial 2002)

"Es [ist] nicht Aufgabe des Dichters [...] mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt [...]; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere was geschehen könnte. Daher ist die Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit."
(Aristoteles)

 

Ich bin zwar ein wenig allergisch gegen die "katholische Bindestrichtheologie"

("In dieser Kirche sein - geht das noch?" oder "Zeiten des Lebens - Sitzen und Sinnen")

bzw. eine gewisse penetrante Überbetonung der Wortherkunft durch Bindestriche

(wer permanent beim "Begreifen" das "Be-GREIFEN" vermisst, tut das meist mit antiintellektuellem, also dumpfbackigem Unterton).

Aber ab und zu kann solch eine Wortzerlegung bzw. das Wieder-Farbig-Machen verblasster Metaphern aber nicht schaden - und allemal bei Begriffen, die man seit Ewigkeiten benutzt, ohne jemals darüber nachzudenken, was sie eigentlich bedeuten bzw. zumindest ursprünglich bedeutet haben mögen.

Denn ich find's eben doch ein wenig merkwürdig, dass ich seit Ewigkeiten Mathematik an einer Schule unterrichte, mich aber bis vor Kurzem nie gefragt habe, was "Mathematik" und "Schule" denn nun eigentlich ursprünglich bedeuten (wenn's denn stimmt):

"wahrscheinlich" heißt also ursprünglich "wahr-scheinlich", d.h. "es scheint wahr zu sein".

Nun ist allerdings "scheint" doppeldeutig:

  1. "es ist anscheinend wahr", d.h. es spricht alles dafür, dass es tatsächlich wahr ist (wenn es auch einen "Unsicherheitsfaktor" gibt),

  2. "es ist scheinbar wahr", d.h. es sieht nur auf den ersten Blick wahr aus, aber in Wirklichkeit ist es unwahr.

Im normalen, laienhaften Sprachgebrauch scheint mir aber 1. gemeint zu sein: "wahrscheinlich" heißt "so gut wie sicher", also - in mathematischer Sprache - "mit hoher Wahrscheinlichkeit"

(wobei die Annahme hoher Wahrscheinlichkeit völlig subjektiv sein und aller Realität widersprechen kann).

Zwar gibt es in normalen Sprachgebrauch auch - selten - "geringe Wahrscheinlichkeit", aber das nennt man doch lieber "unwahrscheinlich" im Sinne von "nahezu ausgeschlossen".

Den Begriff "unwahrscheinlich" gibt es aber in der Mathematik überhaupt nicht, sondern für sie ist - abgesehen von der Sicherheit - alles "wahrscheinlich" (nur eben mehr oder weniger).

Der Mathematikunterricht hat aber mit dem normalen Sprachgebrauch zu "rechnen" - und bei ihm abzuholen, weil sich sonst von Anfang an massenhaft unerkannte Denkfehler einschleichen. Bzw. die Umgangssprache ist ungemein "klebrig", sie stellt sogar Fachleuten Fallen.