woher wissen die das?

 

(vgl. 3/2004)

 

"Mein eigener [...] Ausgangspunkt war ein illustriertes Buch über Naturwissenschaft, das uns in der vierten oder fünften Klasse als Unterrichtsmaterial diente. Es war ein ganz normales Schulbuch im Stil der fünfziger Jahre - zerfleddert, ungeliebt, schrecklich dick -, aber fast ganz am Anfang enthielt es eine Abbildung, die mich fesselte: ein Schnitt-Bild des Erdinneren; es sah aus, als hätte jemand mit einem großen Messer in den Planeten geschnitten und dann vorsichtig einen Keil herausgezogen, der ungefähr ein Viertel der Gesamtmasse ausmachte.
[...] es dauerte nicht lange, dann wandte sich mein vernünftigeres Interesse dem wissenschaftlichen Gehalt der Zeichnung zu, und mir wurde klar, dass die Erde aus drei Schichten besteht, mit einer glühenden Kugel aus Eisen und Nickel in der Mitte, die der Bildlegende zufolge so heiß ist wie die Sonnenoberfläche. Ich weiß noch, wie ich mich mit echtem Erstaunen fragte: »Woher wissen die das?«
[...]  um nichts in der Welt konnte ich mir vorstellen, wie der Geist eines Menschen herausfinden kann, was sich Tausende von Kilometern unter uns befindet, wie das aussieht und aufgebaut ist, was noch kein Auge gesehen hat und kein Röntgenstrahl durchdringen kann. Das war für mich ein echtes Wunder. Und die gleiche Einstellung zur Naturwissenschaft habe ich noch heute.
Aufgeregt nahm ich das Buch an jenem Nachmittag mit nach Hause, und vor dem Abendessen schlug ich es auf - wobei ich damit rechnete, dass meine Mutter mir die Hand auf die Stirn legen und sich erkundigen würde, ob mit mir noch alles stimmte.
Auf der ersten Seite fing ich an zu lesen.
Jetzt kommt's. Es war überhaupt nicht spannend. Es war nicht einmal verständlich. Und vor allem gab es keinerlei Antwort auf die Fragen, die eine solche Zeichnung für jeden normal denkenden Geist aufwarf: Wie kommt die Sonne in die Mitte unseres Planeten? Und wenn sie da drinnen brennt, warum ist der Boden unter unseren Füßen nicht so heiß, dass wir ihn nicht anfassen können? Und warum schmilzt das übrige Erdinnere nicht - oder schmilzt es vielleicht doch? Und wenn der Kern eines Tages ausgebrannt ist, stürzt die Erde dann in den leeren Raum, sodass an der Oberfläche ein riesiges Loch entsteht? Und woher weiß man das? Wie hat man es herausgefunden?
Was solche Einzelheiten anging, hüllte der Autor sich in ein seltsames Schweigen - er schwieg eigentlich über alles außer Antikline, Synkline, Axialbrüche und ähnliches. Es war, als wollte er das Beste für sich behalten, indem er alles völlig unergründlich machte. Im Laufe der Jahre schöpfte ich den Verdacht, dass er damit nicht nur einem persönlichen Impuls folgte. Anscheinend gab es unter den Lehrbuchschreibern eine geheimnisvolle, allgemeine Verschwörung: Sie wollten dafür sorgen, dass ihre Themen nie auch nur entfernt in die Sphäre des mäßig Interessanten gerieten, und vom Hochinteressanten waren sie erst recht stets meilenweit entfernt.
[...] Meine Bücher waren stets von Männern (Männer waren es immer) verfasst, die eine interessante Vorstellung hatten: Sie glaubten, alles werde klar, wenn man es in eine Formel fasst, und sie gaben sich der amüsanten Täuschung hin, [...] Kinder würden es zu schätzen wissen, wenn am Ende jedes Kapitels ein Abschnitt mit Fragen stand, über die sie in ihrer Freizeit grübeln konnten. Deshalb wuchs ich in der Überzeugung auf, Naturwissenschaft sei ausgesprochen langweilig; gleichzeitig hatte ich den Verdacht, dass es nicht unbedingt so sein musste [...]"

Der von mir ansonsten ja hochgeschätzte Physiker Niels Bohr (vgl. ) hat mal gesagt:

"Die Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, tiefe Wahrheiten auf Trivialitäten zurückzuführen."

Ich glaube es ihm nicht, dass er das ernst gemeint hat - oder er hat es in einer sehr resignierten Stunde ausgesprochen.

Denn ein Naturwissenschaftler, der tatsächlich so wie in diesem Zitat dächte, würde seine eigene Arbeit entwerten oder wäre ein Fliegenbeinzähler und Kleingeist. Und gerade letzteres kann man Bohr ja nun wahrhaft nicht nachsagen.

  1. ergeben sich ja aus jeder Teilantwort gleich auch wieder unendlich viele spannende neue Fragen

(so wird die Wissenschaft gerade derzeit nur immer spannender!),

  1. verschwindet hinter allen wissenschaftlichen Antworten ja keineswegs das Staunen

(und seis darüber, wie wunderbar der "Schöpfer" all das gefügt hat;
bzw. nicht mehr staunen können nur die Billigmechanisten [oder z.B. auch Billiggenetiker]),

  1. macht ja gerade die Frage "woher wissen die das?" bzw. "wie hat man es herausgefunden?" alles überhaupt erst so spannend.

Ohne diese Fragen bleibt es allein bei wissenschaftlichen Fakten (oder Theorien?!), bzw. umgekehrt: erst mit diesen Fragen kommt der Mensch (kommen die Entdecker) ins Spiel.

Und "der Mensch", das bin ich bzw. sind SchülerInnen. Sie müssen dringend die (Irr-)Wege der Forschung kennenlernen, d.h. die Mühen und Heureka-Erlebnisse. Denn nur so wird auch simuliert: "Wie hätte ich es herausfinden können?"

(Vgl. auch )

Für Bryson (s.o.) war der Erdaufbau die Initialzündung. Für mich ist es eher der (physikalische) Atom- oder der (chemische) Molekülaufbau: Wie ist es überhaupt gelungen, da Ein"blicke" zu gewinnen, wo doch von prinzipiell Nichtsichtbarem die Rede ist?

Man wird da die entscheidenden ersten Ein"blicke" unter einer dicken Schicht von Selbstverständlichkeiten

(und Halbverstandenem)

hervorkratzen müssen.

Ein Beispiel:

ein entscheidendes Foto, aus dem Crick & Watson die Struktur der DNA herausgelesen haben, war Rosalind Franklins

  1. Wie genau ist dieses Foto überhaupt aufgenommen worden?

  2. Was genau zeigt es?

  3. Wie - zum Teufel - konnten Crick & Watson darin die

(jenseits aller Wissenschaft einfach wunderschöne!)

Struktur

entdecken?

Oder ein weiteres, astronomisches Beispiel:

wichtige Grundbegriffe der Astronomie wie etwa

lassen sich ja einfach anlesen und auswendig lernen. Aber wieder: "woher wissen die das?" bzw. "wie hat man es herausgefunden?"

Die Begriffe stehen ja nicht "am Himmel dran", sondern sind nur durch langwierige, aufmerksamste Beobachtung des Sternenhimmels herausfindbar. Und alles ist sowieso ganz einfach, wenn man - wie in der Grafik - von außen schaut (nach einer sogenannten "Koordinatentransformation"), während die Menschen ursprünglich alles von der Erdoberfläche aus entdeckt haben.

Bzw. wenn man sie erst mal kennt, "sieht" man sie auch allüberall. Aber wie sind Menschen "drauf gekommen", die vorher noch nichts von ihnen wussten?


Ich fordere ja gar nicht, dass die Fragen "woher wissen die das?" bzw. "wie hat man es herausgefunden?" bei jeder wissenschaftlichen Erkenntnis gestellt werden. Aber man sollte ihnen doch ab und zu bzw. an entscheidenden Stellen nachgehen.

Und könnte es sein, dass SchülerInnen (und "wir" auch") so wenig begreifen, weil solche Fragen nie gestellt wurden, sondern alles fertig vorgesetzt wurde?


Die Fragen "woher wissen die das?" bzw. "wie hat man es herausgefunden?" sind in der Mathematik mindestens ebenso wichtig wie in den Naturwissenschaften!