Beweisverfahren

Beweise sind das Herz der Mathematik

(und überhaupt kann die Mathematik als einzige Wissenschaft hieb- und stichfeste Beweise führen, und das oftmals sogar für unendlich viele Fälle).

Da ist es doch schade, dass Beweise im heutigen Schulunterricht kaum mehr vorkommen

(schon gar nicht in einer übergeordneten Unterrichtseinheit "Beweisverfahren")

und den Schülern somit die eigentliche Mathematik vorenthalten wird.


Wann immer im Folgenden von Zahnradkonstellationen die Rede ist, sollte man Schüler zumindest anfangs mit echten, also z.B.


Lego®-Zahnrädern

hantieren lassen

(vgl. ).

Und am besten bauen die Schüler die unten gezeigten Konstellationen nicht einfach nur nach

(denn damit sind die wichtigsten Gesetze schon allzu suggestiv ausgewählt),

sondern probieren selbst verschiedene Kombinationen aus und entdecken dabei vielleicht auch Gesetze selbst

(evtl. wird man da als Lehrer vielleicht ein wenig nachhelfen müssen:

  1. "kombiniert erstmal nur zwei und danach auch drei, vier, fünf ... Zahnräder!",
  2. "betrachtet mal die Drehrichtungen von zwei benachbarten und danach auch von drei, vier, fünf ... Zahnrädern!",
  3. "vergleicht mal die Drehgeschwindigkeiten benachbarter Zahnräder [und auch die Anzahl ihrer Zähne]!",
  4. "vergleicht bei einer langen Reihe nacheinander gelegter Zahnräder mal die Geschwindigkeit des ersten Zahnrads mit der des letzten!"

[evtl. gefolgt von dem Tipp, für das erste und letzte Zahnrad gleichgroße Zahnräder zu wählen, die sich dann leicht erkennbar gleichschnell drehen;

allerdings spielen die Aspekte c. und d. unten keine Rolle mehr;

und ebenfalls sei hier mal davon abgesehen, dass man Zahnräder auch


Eine mögliche Kombination von Zahnrädern ist

.

Von diesen zehn Zahnrädern wählen wir erstmal nur zwei aus:

oder kurz.

Dabei sei hier mal angenommen, dass Zahnrad 1 von einem Motor angetrieben wird und dann Zahnrad 2 mitdreht.

Aus beiden Fällen zusammen ergibt sich:

Zwei benachbarte Zahnräder drehen sich in entgegengesetzte Richtungen.

Wir werden darauf bald zurückkommen, aber vorerst noch etwas Anderes:


die Laufrichtung von Zahnrad 2 folgt (automatisch) aus der von Zahnrad 1. Genau solches "Folge(r)n" macht aber gerade mathematische Beweise aus:

(und evtl. unter Zuhilfenahme bereits anderweitig bewiesener mathematischer Sätze)

(und dann immer so weiter bis zum vollständigen Beweis).


Damit aber schon wieder zurück zu den Drehrichtungen von Zahnrädern:

sehen wir uns als Nächstes in der oben bereits gezeigten Konstellation

eine beliebige Kette vieler nebeneinander liegender Zahnräder an, also z.B.

oder kurz (und schon durchnummeriert):

Nun ist es für die Funktionsweise des Zahnrad-Ensembles eigentlich unerheblich, ob die Zahnräder

Hauptsache, sie greifen nacheinander ineinander. Aber für


ordentliche Leute

ordnen wir die Zahnräder trotzdem mal horizontal an

(nebenbei: wenn uns im Folgenden die Drehrichtungen interessieren

[nicht aber die Drehgeschwindigkeiten],

könnten wir sogar alle Zahnräder sogar gleich groß machen - oder genauer: mit derselben Zähnezahl versehen):


Damit haben wir schon eine erste, wenn auch noch ziemlich langweilige Metapher für mathematische Beweise: hier wird in sieben (Zwischen-)Schritten aus der Tatsache 1 die Tatsache 8 hergeleitet, also Tatsache 8 bewiesen:

Allerdings sind Beweise nicht immer so linear (horizontal) hintereinander, sondern in einen Beweis können mehrere vorher bereits bewiesene mathematische Sätze eingehen:

 

Und so kann sich aus wenigen Anfangsvoraussetzungen (Fundamenten, Axiomen) ein immer komplexeres Geflecht von nacheinander bewiesenen Sätzen ergeben:

Nun gibt es sehr lange mathematische Beweise, die aus mehreren hundert Zwischenschritten bestehen, aber Beweise sind natürlich notgedrungen endlich, denn sonst würde man ja nie mit ihnen fertig (und würde also auch nichts bewiesen).

Das wahrhaft Erstaunliche an der Mathematik ist aber, dass sie

(nochmals: als einzige Wissenschaft)

führen kann.

Beispiel sei da der Beweis des "Satz des Thales", der für

gilt. In der folgenden Version dauert der Beweis aber nur ein bisschen mehr als drei Minuten:


Interessanter wird's, wenn wir nun die Drehrichtungen in

betrachten.

Wieder sei davon ausgegangen, dass Zahnrad 1 angetrieben wird und dann sukzessiv die Zahnräder 2 bis 8 mitdreht.

Gehen wir nun von Folgendem aus:

 
  1. : Zahnrad 1 wird im Uhrzeigersinn gedreht,
  2. : wie oben gezeigt:
  Zwei benachbarte Zahnräder drehen sich in entgegengesetzte Richtungen.

Nun folgt immer mit 2.:

Zusammengefasst:

Oder anders gesagt:

 
  • alle Zahnräder mit ungeraden Nummern drehen sich in dieselbe Richtung wie das Zahnrad 1,

  • alle Zahnräder mit     geraden Nummern drehen sich in die entgegengesetzte Richtung.

(Diese allgemeinere Formulierung hat den Vorteil, dass sie auch gilt, wenn das Zahnrad 1 gegen den Uhrzeigersinn gedreht wird. Aber wir bleiben im Folgenden erstmal bei dem Fall, dass das Zahnrad 1 im Urzeigersinn gedreht wird.)

Das Spielchen lässt sich natürlich immer weiter, also bis ins Unendliche

(bzw., wie es in dem Buch heißt, Aschgraue)

fortsetzen:

Der Vorteil der gefundenen Regel

 
  • alle Zahnräder mit ungeraden Nummern drehen sich in dieselbe Richtung wie das Zahnrad 1,

  • alle Zahnräder mit     geraden Nummern drehen sich in die entgegengesetzte Richtung

ist, dass wir wissen, wie sich jedes beliebige Zahnrad dreht, dafür aber nicht mehr herausfinden müssen, wie sich alle vorherigen Zahnräder drehen

(was nicht nur ewig lang dauern könnte, sondern ab einem Fehler bei einem einzigen Zahnrad zu Fehlern bei allen folgenden Zahnrädern führen könnte).

Das Verfahren  

 
Zahnrad 1 wird im Uhrzeigersinn gedreht,
Zwei benachbarte Zahnräder drehen sich in entgegengesetzte Richtungen

ist aber nichts Anderes als die sogenannte "vollständige Induktion", die eines der wichtigsten Beweisverfahren der Mathematik ist:

 
  1. : man kennt den Anfangswert,
  2. : man kennt die Regel, mit der aus einem beliebigen Wert auf den nächstfolgenden geschlossen werden kann.
  3. : und so kann man auf alle (unendlich viele) folgende Werte schließen.

Wenn man in

alle Drehpfeile oben zeichnet, werden die entgegengesetzten Drehrichtungen schön deutlich, weil die orangen Pfeile nach rechts, die violetten Pfeile hingegen nach links zeigen.

Nicht so schön deutlich wird das, wenn man die orangen Pfeile oben und die violetten Pfeile unten einzeichnet:

Nun zeigen sowohl die orangen als auch die violetten Pfeile nach rechts, was auf den ersten Blick zu dem Trugschluss führen könnte, alle Zahnräder würden sich in dieselbe Richtung drehen.

Dafür hat diese zweite Darstellungsweise einen anderen Vorteil:

angenommen, wir zeichnen nun die Pfeile näher an die Zahnräder dran

und lassen nun erst die Zahnräder weg

und dann auch noch alle Pfeile bis auf den letzten ganz rechts:

Dann zeigt sich, dass sich die Pfeile wie eine


Schlange

zwischen den Zahnrädern durchwinden, und zwar immer hübsch abwechselnd

Das Sich-Durchwinden erinnert an die berühmte Maschinen-Szene aus Charlie Chaplins Film „Modern Times“:

An diesem Filmausschnitt wird deutlich: damit sich etwas zwischen den Zahnrädern durchwinden kann, dürfen sie sich nicht direkt berühren, d.h. die Zähne benachbarter Zahnräder dürfen nicht ineinander greifen. Dass aber die Kraft dennoch von einem Zahnrad auf das nächste übertragen wird, lässt sich mit einer Kette erreichen:

Mit Lego® ausgedrückt sieht

dann so aus:


Der interessanteste Aspekt von Zahnrad-Anordnungen im Hinblick auf mathematische Beweise ergibt sich aber, wenn man an der ursprünglichen Anordnung

folgenden Ausschnitt betrachtet:

oder kurz .


Hier könnte einem auffallen, dass die drei Zahnräder in

eine Schlaufe bilden

(während die Zahnräder in

bzw.

alle hübsch brav hintereinander lagen:

).


Bevor wir uns nun aber überlegen, wie sich die Zahnräder in bewegen, bauen wir uns einfach mal solch eine schlaufenförmige Anordnung dreier Zahnräder mit Lego®, also z.B. oder .

Beim Versuch, bei diesen Lego®-Modellen eines der drei Zahnräder zu drehen, werden wir (bzw. Schüler) merken:

Gerade der Umstand, dass es auf praktischem Weg nicht möglich ist, die Zahnräder zu drehen, könnte aber dazu motivieren, sich mal theoretisch zu überlegen, warum das nicht möglich ist.


Nehmen wir bei wieder an, Zahnrad 1 werde durch einen Motor in Drehung versetzt und dann würden nacheinander auch benachbarte Zahnräder angetrieben, also z.B. so:

(Von wegen "z.B.": genauso gut könnten wir die umgekehrte Reihenfolge, betrachten.)

In erfolgt der Antrieb also in der Reihenfolge

  1. : Zahnrad 1,

  2. : Zahnrad 2,

  3. : Zahnrad 3,

  4. : wieder Zahnrad 1

(Zahnrad 1 treibt sich über Zwischenstufen also selbst an, wobei hier noch unklar ist, was dieser "Selbst-Antrieb" bedeutet).

In diesem Sinne ist Zahnrad 1 also identisch mit Zahnrad 4:

Erinnern wir uns nun an unsere obige Erkenntnis

 

alle Zahnräder mit geraden Nummern drehen sich in die entgegengesetzte Richtung [zur Drehrichtung des Zahnrades 1].

Daraus folgt insbesondere:

 

Zahnrad 4 dreht sich in die entgegengesetzte Richtung [zur Drehrichtung des Zahnrades 1].

Da nun aber Zahnrad 1 und Zahnrad 4 identisch sind, dreht sich also Zahnrad 1

- und das heißt eben: Zahnrad 1 dreht sich gar nicht

(und in Folge davon drehen sich auch Zahnrad 2 und Zahnrad 3 nicht).

Bislang hatten wir offen gelassen, in welche Richtung das Zahnrad 1 durch den Motor gedreht wird

(es ist auch egal).

Um nun aber besser zu verstehen, was in unserer Argumentation eben passiert ist, sei hier mal vorausgesetzt, dass das Zahnrad 1 vom Motor im Uhrzeigersinn gedreht wird. Daraus hatten wir gefolgert, dass es (dann als Zahnrad 4) über die Zwischenstufen von Zahnrad 2 und Zahnrad 3 gegen den Uhrzeigersinn gedreht wird.  

Unsere Folgerung widersprach also unserer Voraussetzung . Da aber unsere Argumentation durchaus logisch war, muss schon unsere Voraussetzung falsch gewesen sein.

Das aber ist eine schöne Metapher für den mathematischen "Widerspruchsbeweis", bei dem man von einer (vermeintlich richtigen) Voraussetzung ausgeht und sie logisch zu einem Widerspruch zur Voraussetzung oder einer anderen mathematischen Tatsache führt, woraus folgt, dass die (vermeintlich richtige) Voraussetzung in Wirklichkeit falsch war.

Vielleicht der berühmteste Widerspruchsbeweis wird benutzt, um zu zeigen, dass die eine irrationale Zahl ist

(vgl.  Bild ).

In diesem Beweis wird aus Unkenntnis oder einfach mal probeweise vorausgesetzt, dass eine rationale Zahl, also als Bruch zweier ganzer Zahlen darstellbar ist. Außerdem wird als zweite Tatsache vorausgesetzt, dass dieser Bruch bereits vollständig gekürzt ist. Daraus wird logisch gefolgert, dass der Bruch nicht vollständig gekürzt war. Da man aber unzweifelhaft jeden Bruch vollständig kürzen kann, muss schon die Anfangsvoraussetzung (dass also rational ist) falsch gewesen sein.

(Dass nicht rational ist, bedeutet aber noch lange nicht, dass eine irrationale Zahl ist. Es müsste nämlich noch gezeigt werden, dass es die überhaupt gibt [„Existenzbeweis“].)


(Fast) Jedes Modell bzw. jede Metapher

(wenn es bzw. sie denn überhaupt im Hinblick auf das "Original"

[in unserem Fall ein mathematisches Beweisverfahren]

hilfreich ist)

hat im Hinblick auf das gemeinte „Original“ seine bzw. ihre Nachteile:

Ein gutes Beispiel ist da als Metapher für den mathematischen Widerspruchsbeweis

(hier am Beispiel des Beweises, dass irrational ist).

Halten wir die Parallelen nochmals in einer Tabelle fest:

    Spalte 1 Spalte 2  
  erste Voraussetzung: Wenn in Zahnrad 1 sich in eine Richtung dreht, Wenn rational ist  
  zweite Voraussetzung:   und wenn der Bruch vollständig gekürzt ist,  
  erste Folgerung: dreht sich Zahnrad 4 (das identisch mit Zahnrad 1 ist) in die entgegengesetzte Richtung; ist der Bruch nicht vollständig gekürzt.  
  zweite Folgerung: Zahnrad 1 dreht sich gar nicht. ist nicht rational (also irrational?)  

Nun gilt Spalte 1

    Spalte 1a Spalte 1b  
  erste Voraussetzung: Wenn in Zahnrad 1 sich im Uhrzeigersinn dreht, Wenn in Zahnrad 1 sich gegen den Uhrzeigersinn dreht,  
  erste Folgerung: dreht sich Zahnrad 4 (das identisch mit Zahnrad 1 ist) gegen den Uhrzeigersinn ; dreht sich Zahnrad 4 (das identisch mit Zahnrad 1 ist) im Uhrzeigersinn ;  
  zweite Folgerung: Zahnrad 1 dreht sich gar nicht. Zahnrad 1 dreht sich gar nicht.  

Entsprechend könnte man vermuten, dass oben auch Spalte 2 in beiden "Richtungen" funktioniert, also

    Spalte 2a Spalte 2b  
  erste Voraussetzung: Wenn rational ist Wenn irrational ist  
  zweite Voraussetzung: und wenn der Bruch vollständig gekürzt ist, und wenn der Bruch vollständig gekürzt ist,  
  erste Folgerung: ist der Bruch nicht vollständig gekürzt. ist der Bruch nicht vollständig gekürzt.  
  zweite Folgerung: ist nicht rational (also irrational?). ist nicht irrational (also rational?).  

Wir hätten dann zwei Widerspruchsbeweise mit den Ergebnissen

Beides zusammen könnte aber nur bedeuten:

Nun ist in der Argumentation 2b aber ein Fehler:


Obige Gedanken zu  legen die Vermutung nahe, dass Zahnrad-Schlaufen immer zu Blockaden führen.

Schauen wir uns dazu nochmals die Zahnradkombination

an. Sie enthält noch eine andere Schlaufe, nämlich

oder kurz .

Angenommen wieder, dass Zahnrad 1 durch einen Motor angetrieben wird. Dann wird die Kraft über Zahnrad 2, Zahnrad 3 und Zahnrad 4 wieder zu Zahnrad 1 weitergegeben, das somit gleichzeitig Zahnrad 5 ist:

 

Nach der oben gefundenen Regel 

  alle Zahnräder mit ungeraden Nummern drehen sich in dieselbe Richtung wie das Zahnrad 1

dreht sich nun aber Zahnrad 5

(das identisch mit Zahnrad 1 ist)

in dieselbe Richtung wie Zahnrad 1, kommt also keine Blockade zustande.

Und in der Tat lässt sich

problemlos drehen.

Die Schlaufe wäre also nicht als Metapher für mathematische Widerspruchsbeweise geeignet.


Der Vorteil der Zahnradmetaphern ist, dass Schüler da mathematische Beweisverfahren wortwörtlich sehen und be-greifen können.

Und so können sogar schon Fünftklässler die Gedankengang der "vollständigen Induktion" und des Widerspruchsbeweises verstehen!