Anschauung statt Anwendung


"Ich schau Dir in die Augen, Kleines."

vgl. auch

  Anwendung: Kurmittel, Verabreichung.
(Duden - Die sinn- und sachverwandten Wörter)

"Wenn Kinder fragen: »Wozu brauche ich denn diese Mathematik?«, dann heißt das in der Regel nicht, daß sie sich tatendurstig nach einer Anwendung umsehen, sondern, daß sie den Faden verloren haben, daß sie im Moment nichts mehr verstehen; oder - bei älteren kann das auftreten - , daß sie zwar formal, aber nicht inhaltlich, begrifflich verstehen. Kein Mensch fragt in dem Moment, in dem er vollinhaltlich, in dem er gründlich versteht: »Wozu ist das denn gut?« Jede noch so unscheinbare, alltägliche mathematische Kleinigkeit kann Anlaß sein zum gründlichen, inhaltlichen Verstehen."
(zitiert nach Volker Dembinski: "Wozu brauche ich denn diese Mathematik?")

"Dies ist der Hauptsinn der Seichtigkeit, die Wissenschaft statt auf die Entwicklung des Gedankens und Begriffs, vielmehr auf die unmittelbare Wahrnehmung und die zufällige Einbildung zu stellen [...]"
(Georg Wilhelm Friedrich Hegel)

Es geht um erheblich mehr als nur "Anwendungen":
"Rettet die Phänomene!"
( )

"Fast mühelos sperrt Fischer [in seinem Buch ] das wundersame Land der wissenschaftlichen Ideen ab gegen die Bulldozer der Macht, des Interesses, des Wettbewerbs, verschließt es gegen die schmuddeligen Sphären der Anwendung, des gesellschaftlichen Ge- und Missbrauchs von Wissen."
(Elisabeth von Thadden  in )

Lehrer: "Heute rechnen wir mit Computern." Schüler: "Also z.B.,  was 67 Computer minus 23 Computer sind."

Selbstverständlich ist das "statt" in "Anschauung statt Anwendung" hier provokativ, also nicht ausschließlich gemeint.

An anderer Stelle war schon auf die Problematik von Anwendungsaufgaben hingewiesen worden. Das soll aber natürlich keineswegs heißen, dass

Vielleicht sind sogar die vielgeschmähten "eingekleideten" (Pseudo-)Anwendungsaufgaben viel besser als ihr Ruf, nämlich in Wirklichkeit beste Veranschaulichungsaufgaben, bei denen beispielsweise eine technische Anwendung "nur" dazu dient, Innermathematisches besser zu verstehen (und nicht umgekehrt die Mathematik dazu, eine bessere Technik zu erhalten). Eine gewisse Betriebsblindheit

("wenn man ein Hammer ist, besteht die ganze Welt nur aus Nägeln")

bzw. wohl unvermeidbare Schwierigkeit, über den Tellerrand des eigenen Fachs zu schauen, zeitigt da manchmal durchaus schöne Erfolge: die ganze Welt (und sei es ein Baumarkt) ist geeignet, wenn nicht geradezu dazu geschaffen, die Mathematik zu veranschaulichen.

Denn letztlich scheint mir die (innermathematische) Anschauung wichtiger als die Anwendung, und ich wage mal die Behauptung, dass deutsche SchülerInnen (angeblich) in TIMSS und PISA nicht etwa deshalb "versagt" haben, weil sie nicht mit Anwendungen umgehen konnten, sondern weil sie keine Anschauung für die Aufgaben bekamen.

Denn die TIMSS- und PISA-Aufgaben sind ja großteils auch nur "eingekleidete" Anwendungsaufgaben gewesen.

Viele Schwierigkeiten scheinen sich für mich daraus zu ergeben, dass SchülerInnen (und LehrerInnen?)

(vgl. etwa die PISA-ähnliche Aufgabe

"Eine Pizzeria bietet zwei runde Pizzas in derselben Dicke an. Die kleinere hat einen Durchmesser von 30 Zentimetern und kostet 30 Zeds. Die größere hat einen Durchmesser von 40 Zentimetern und kostet 40 Zeds. Bei welcher Pizza bekommt man mehr für sein Geld?"),

sondern nur starre Rechenverfahren anwenden können;

"Wenn man normalerweise von Albert Einstein und der allgemeinen Relativitätstheorie hört, dann bekommt man einen Schreck und denkt sofort an irgendwelche komplizierten Formeln. Diese Formeln gibt es natürlich: Natürlich gibt es diese komplizierte Gravitationsgleichung. Aber diese Gleichung war doch nicht das Ziel von Einstein: Diese Gravitationsgleichung ist nur das Fenster, durch das Einstein schaute, um zu sehen, wie der Kosmos durch dieses Fenster, durch diese Gleichung aussieht.
[...]
Heisenberg hatte eine Gleichung auf dem Papier: Das waren nichts als mathematische Zeichen. Aber er sagt ausdrücklich, dass er durch diese Gleichung hindurchschauen kann."

Auf Naturwissenschaften bezogen heißt das: hinter den mathematischen Formeln erscheint ein neuer Aspekt der Wirklichkeit, der allerdings ohne die Formeln nicht zugänglich gewesen wäre.

Fischer zieht daraus (immer noch auf Naturwissenschaften bezogen) die Konsequenz:

"Wenn man [...] sagt, dass in [einer] mathematischen Formel eine Symbolsprache enthalten ist und ein Symbol immer dasjenige ist, was das rationale Verstehen in eine irrationale, bildhafte und anschauliche Tiefe führt, dann lässt sich doch auch noch ein anderer Weg, ein anderes Fenster finden: nämlich ein anderes Symbol. Dieses andere Symbol könnte z. B. ein Bild oder ein Zeichen sein. Das heißt, die Aufgabe des Fernsehens oder der Kunst besteht eigentlich darin, das, was Einstein berechnet hat, bildlich darzustellen. Dieses Bild wäre dann für denjenigen, der mit der Mathematik nicht so zurecht kommt, das passende Fenster, das er öffnen kann, um durch dieses Fenster hindurch in den Kosmos sehen zu können."

Wenn wir hier mal den Aspekt der anwendungsorientierten Mathematik hinter uns lassen, so wäre im Hinblick auf die "reine" Mathematik zu modifizieren:

Es müssen neben den mathematischen Verfahren (Konstruktionen, Gleichungen ...) andere Fenster geöffnet werden, die auch auf die Innermathematik verweisen.

Ein ganz simples Beispiel: natürlich braucht kein Mensch im "normalen Leben" Kongruenzabbildungen, bzw. wir alle wenden sie im Alltag problemlos und ohne jede Mathematik an, wenn wir z.B. intuitiv davon ausgehen: wenn man einen Gegenstand verschiebt, dreht oder spiegelt, verändert er weder Größe noch Form (sondern nur die Lage). Das ist so selbstverständlich, dass wir schon allein den Gedanken, Größe und Form könnten sich verändern, als geradezu absurd empfinden würden.

Nun kann man sich streiten, ob dann die systematisierte Kongruenzgeometrie überhaupt noch Sinn macht. Völlig fehl am Platz ist sie aber, wenn bei ihr (wie so oft!) vor lauter Problematisierung die intuitive Anschauung abhanden käme (vgl. ).

Weitere Überlegungen und Konkretisierungen zu diesem Thema finden Sie unter


"Leistungskurs Schönheit"
"Zuordnungen, Funktionen und Funktionenscharen"

Ein anderer Ausweg aus der geschilderten Problematik scheint mir in einer "Problem- statt Lösungsmathematik" zu liegen.