NACHentdecken VORmachen
(der gelungene Lehrervortrag)

"Engagierte Lehrer und gute Geschichten [...] erwecken die Neugier wieder zum Leben."
(Stern 37/2003)

"Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn" (Jorge Louis Borges),
und bei einem guten Lehrervortrag denken die SchülerInnen mit dem Gehirn des Lehrers

"Was lange gährt, wird endlich gut": ich weiß ja selbst nur allzu gut, dass auf meinen Internetseiten viele Dinge bislang nur angedacht sind, damit aber auch arg unverbindlich-allgemein und allzu wohltönend bleiben: eine pädagogische Idee, die nicht wirklich ausprobiert wurde, ist zwar keineswegs überflüssig, muss aber früher oder später doch zeigen, ob sie in freier Wildbahn (im konkreten Unterricht) tauglich ist - oder nicht.

(Und sowieso ist sie nicht immer tauglich.)

Bislang nur angedacht bzw. nur aus dem hohlen Bauch heraus behauptet war z.B. .

Ich hoffe, hier einen kleinen Schritt weiter zu kommen. Gleich vorweg sei allerdings auch eingestanden, dass ich noch nicht in der Lage bin, einen echten gelungenen Lehrervortrag zu dokumentieren

(bzw. zur Diskussion zu stellen, ob er gelungen ist):

natürlich halte ich "vor" Klassen so einige (zu viele?) Lehrervorträge, aber leider (glücklicherweise?) ist dann nie ein (altertümlich gesagt:) Tonbandgerät zur Hand.

Und es reicht auch nicht die Planung/das Manuskript eines Lehrervortrags, denn ein Lehrervortrag lässt sich nur bedingt planen, bzw. ein guter Lehrervortrag wäre immer flexibel genug, je nach den Publikumsreaktionen zu variieren

(ja, Publikumsreaktionen sogar zu provozieren).


Letztens hat mich im konkreten Unterricht schockartig die Erkenntnis überfallen, dass das "nachentdeckende" Lernen für viele SchülerInnen keineswegs so einfach und vor allem wünschenswert ist, wie es sich (etwa in  ) behaupten lässt

... weshalb ich (wie oft auch bei anderen Aufsätzen) eben in einen kleinen Nachtrag einfügen musste.

In diesem "PPS:" hatte ich dann ganz nebenher und unbedacht geschrieben, dass man SchülerInnen ab und zu das Nachentdecken vormachen müsse.


Sogar ein "native linguist" kann nicht andauernd mimosenhaft sprach"sensibel" durch den Sprachdschungel pirschen

(er müsste Autist sein oder es prompt durch solche Daueraufmerksamkeit werden).

Und doch ist es schade, dass man oft so sprachlich betriebsblind (oder eher taub?) ist und sich dadurch allerlei Kleinodien entgehen lässt.

Ein Beispiel:

da beschäftige ich mich seit 40 Jahren mit Mathematik

(erst als Schüler, dann im Studium und immerhin auch schon seit 20 Jahren mehr oder minder [weil ich Lehrer bin] professionell),

aber erst vor zwei Jahren habe ich mich gefragt, was das Wort "Mathematik" denn eigentlich(?)/ursprünglich(?) bedeutet:

"Mathematik: [...]  wurde im 15. Jh. aus [...] lat. (ars) mathematica entlehnt, das seinerseits aus griech. mathematike (téchne) übernommen ist. Das zugrundeliegende Adjektiv griech. mathematikós »lernbegierig; wissenschaftlich; mathematisch« ist von griech. máthema "das Gelernte, die Kenntnis" abgeleitet [...]. Stammwort ist griech. manthánein (Aorist: mathein) »[kennen]lernen, erfahren« [...]
(Duden)

Das hätte ich doch früher wissen müssen, denn das hätte doch die stärkste Waffe in all meinen Argumentationen zur Schulmathematik sein können.


Erst einige Tage, nachdem ich das "PPS:" in geschrieben hatte, stieß es mir plötzlich auf:

"das NACHentdecken VORmachen"???

Meine erste Reaktion:

LehrerInnen sollen VORmachen, wie die SchülerInnen [selbst!] etwas NACHentdecken?!

(Neudeutsch gesagt: lässt sich die Konstruktion der SchülerInnen durch LehrerInnen instruieren?

Erst im NACHhinein fällt mir auf, dass hier gleich ein Missverständnis aufkommen könnte: wenn der Lehrer etwas VORentdeckt, können die SchülerInnen es eh nur noch NACHentdecken

[was kein Widerspruch, sondern durchaus logisch wäre].

Gemeint war aber, dass der Lehrer das NACHentdecken VORmacht, also - wie meistens die SchülerInnen - selbst schon NACHentdeckt. In dieser Logik dürften die SchülerInnen also dann das NACHentdeckte nur nochmals NACHentdecken, also sozusagen - igitt! - das bereits Wiedergekäute nochmals wiederkäuen, was in unserem Bildungssystem eine reale Gefahr, wenn nicht sogar Alltag ist.)

Meine zweite Reaktion:

(und überhaupt sollte man vielleicht doch oftmals VORHER ÜBER  etwas NACHdenken: :-);

Erst dann aber, als dritte Reaktion, schlug bei mir der Blitz ein:

"das NACHentdecken VORmachen" ist ein wahrer (versehentlicher) Volltreffer!

Das VORmachen des NACHentdeckens ist der Schlüssel zum gelungenen Lehrervortrag!

 

Gerade wenn - wie oben gesagt - das NACHentdecken für viele SchülerInnen keineswegs wünschenswert ist, ja, wenn sie es eventuell gar nicht (mehr) können, muss man es ihnen eben VORmachen. Mehr noch: man muss ihnen zeigen, dass es wünschenswert ist, Spaß macht und "was bringt".

Letzteres heißt aber doch zu allererst, dass es dem vormachenden Lehrer Spaß macht und "was bringt".

 

Der einen Lehrervortrag haltende Lehrer sollte ausstellen, wie er selbst etwas nachentdeckt.

 

Der Lehrer lässt also keineswegs

(wie wohl sonst in Vorträgen und vor allem Vorlesungen üblich)

das fertige und von ihm selbst längst vollständig durchdrungene Wissen vom Himmel herabträufeln

(oder gar - noch häufiger - sturzregenartig herunterprasseln),

sondern:

"Vom Lehrer wird erwartet, dass er weiß, sonst könnte er nicht lehren. Vom Forscher wird erwartet, dass er weiß, was er nicht weiß, sonst könnte er nicht forschen. Ich möchte vorschlagen, den Lehrer zum Forscher werden zu lassen, der zusammen mit seinen Schülern versucht, die Schule, ja das Wissen, neu zu erfinden."
(Heinz Foerster)

Das sagt sich so leicht, dass der Lehrer das Präsentierte selbst noch nicht vollständig durchdrungen hat (haben sollte): es ist nunmal oftmals so, dass einem ein Sachverhalt irgendwann in Fleisch und Blut übergegangen und also absolut selbstverständlich ist (scheint?).

Und das muss auch so sein: beispielsweise wende ich, weil ich mit Wichtigerem/Fortgeschrittenerem beschäftigt bin, irgendwann besinnungslos das Assoziativgesetz an, ohne es noch zu hinterfragen

(hinterfragen zu müssen)

oder es mit irgendeiner

(für Anfänger ungeheuer hilfreichen)

Anschauung zu verbinden.

Der Zwiespalt ist nunmal oft unüberbrückbar, aber man sollte sich dieses Zwiespalts immer bewusst sein:

(wissen also auch noch nicht, wo der Weg hinführt),

Und dennoch kann ein "guter" Lehrer selbst zurückspringen, wobei man sich fragen kann, was eher war, das Ei oder die Henne:

  1. Muss man lange Lehrer gewesen sein, um all die lieben Probleme von SchülerInnen zu kennen, also auch intuitiv voraus zu ahnen, wo sie Probleme haben werden und was für sie eben nicht selbstverständlich ist?

  2. Kann (sollte) nur (guter) Lehrer werden, wem eben selbst noch nicht alles selbstverständlich ist oder wer sich zumindest bestens erinnern kann, dass ihm selbst früher mal nicht alles selbstverständlich war?

"zurückspringen" impliziert, dass ich schon weiter bin, aber dennoch probeweise

(den SchülerInneN zuliebe)

 hinter meine Erkenntnisse zurückgehe.

Solch probeweises zurückgehen ist also oftmals fiktiv - und wirkt deshalb häufig nur herablassend, wenn nicht gar (obwohl unausgesprochen) beleidigend: "Ich tue dümmer, als ich bin - weil ihr so dumm seid."

Letztlich reicht also wohl nicht das nur probeweise zurückgehen, sondern der Lehrer muss alternativ (oder abwechselnd) drei Wege gehen:

  1. muss er aus sich selbst sozusagen herauskitzeln, was eben - wieder: für ihn selbst! - keineswegs so selbstverständlich ist, wie er bisher gemeint hat

(beispielsweise wird sich doch jeder [???] Lehrer daran erinnern können, dass ihn mal eine scheinbar dumme Schülerfrage völlig aus dem Konzept gebracht hat und er urplötzlich auch an etwas zweifelte, was ihm bis da als längst gesichert erschien)

  1. sollte ein Lehrer bei der oben dargestellten Zwiespältigkeit

(dass SchülerInnen sozusagen blind für die Zukunft sind, während LehrerInnen schon den ganzen Weg kennen)

fähig sein, zumindest partiell die Perspektive von SchülerInnen einzunehmen

(was können sie noch gar nicht wissen?);

  1. sollte ein Lehrer aufgrund langwieriger Beschäftigung mit der

(im Lehramtsstudium verpflichtend zu machenden!)

Wissenschaftsgeschichte ahnen, wie schwierig und langwierig die Geburt vieler Erkenntnisse war. Man macht es sich arg leicht

(und wird/wirkt schnell arrogant),

wenn man all diese Erkenntnisse

(wie in die Glühbirne)

im Nachhinein für selbstverständlich hält.

In einem gelungenen Lehrervortrag macht der Lehrer also VOR, wie "man" überhaupt zu (NACH-)Entdeckungen kommen kann.

Aber wer ist "man"? Zu allererst doch der Lehrer selbst!; er zeigt, wie er selbst sukzessive zu Erkenntnissen kommt. In der Regel wird der Vortragende zwar von seinen vergangenen Erkenntnisschritten berichten

(z.B. solchen, die er während der Planung des Vortrags erledigt hat),

aber aus rhetorischen Gründen sollte das wohl

(während des Vortrags)

im Präsens berichtet werden. Im idealen Lehrervortrag mag es aber sogar passieren, dass der Lehrer erst während des Vortrags auf etwas kommt

(und sei´s, dass ihm - z.B. auch durch Rückfragen des Publikums - urplötzlich während des Vortrags etwas nicht mehr so selbstverständlich scheint, was er während der Vorbereitung noch für völlig problemlos hielt).

Nur wenn der Lehrer sich selbst als (Nach-)Entdeckenden zeigt (outet?), kann das ansteckend wirken und mitreißen

(es den Zuhörern also auch vielleicht wünschenswert erscheinen lassen, ihrerseits entdecken zu wollen).

Im Idealfall

(das sagt sich so leicht und ist doch die größte Kunst!)

schafft der Lehrer es geradezu sokratisch-mäeutisch, in den Zuhörern Fragen entstehen zu lassen

(am besten sogar, ohne sie explizit zu stellen),

sie also zum Mitfragen und -denken zu verführen

(was eigentlich ist per se schlecht an Verführung?: ).

Wie solch mäeutisches Fragen funktioniert, kann man vielleicht auch aus Büchern lernen, die einen "ans Nachdenken" gebracht haben: in welche Richtung gingen meine Gedanken, und wie hat das Buch dafür gesorgt?

Und indem der Lehrer dann sukzessive zeigt, wie er zu Antworten gekommen ist, entsteht eventuell sogar eine "virtuelle Partnerschaft": der Zuhörer hat das Gefühl, selbst Antworten auf die selbstgestellten (suggerierten?) Fragen zu finden.


Hinter allem hier bislang Gesagten sollte längst hervorscheinen, dass der Lehrer nicht

(wie beispielsweise in Mathevorlesungen während meines Studiums üblich: "aus A folgt trivialerweise B, aus B folgt trivialerweise C ...)

nur die nackte Abfolge der (seiner) reinen Erkenntnisse darstellen darf, sondern auch den langen Prozess der (seiner) Entdeckung mit allen

(die der Lehrer also nicht selbst haben konnte),

Der Lehrer muss sich selbst als Lernenden zeigen.

(Und überhaupt hielte ich es für ein sinnvolles Lehrer-Fortbildungskonzept, wenn LehrerInnen sich da mal selbst beim Lernen von ihnen bis dahin weitgehend Unbekanntem [sei´s Quantentheorie, sei´s Tasmanien] beobachten würden.)

Der Lehrer macht "Selbstlernen" vor, und es macht Spaß, ihm beim Lernen zuzuhören und (ganz wichtig!) zuzuschauen.

Die SchülerInnen hören und schauen dem Lehrer beim Denken zu:


Zweifelsohne muss ein Lehrer immer wieder in der Lage sein, mal spontan, nämlich abhängig von der unvorhersehbaren Unterrichtsituation, einen Lehrervortrag einzuschieben.

Aber es könnte auch lohnend sein, solch einen Vortrag wirklich mal zu planen ... und dann erst abzuhalten

(... wobei ein guter Lehrervortrag garantiert teilweise von der Planung abweicht: am schlimmsten sind Vortragende, die an ihrem Konzept [z.B. Powerpointvortrag] kleben).

Bei solch einem geplanten Lehrervortrag mag es sinnvoll sein, dass der Lehrer Konzeptkarten dabei hat

(und sowieso vorbereitetes Veranschaulichungsmaterial),

aber dennoch sollte der Vortrag weitgehend frei gehalten werden, und zwar nicht nur, weil das lebendiger wirkt, sondern auch, damit der Vortragende sein Publikum "mitbekommt", also seinerseits auf dessen (vielleicht sogar bezweckte?) Reaktionen reagieren kann.

D.h. der Vortragende sollte (fast) jederzeit auf Zwischenfragen, Ideen oder auch einfach nur Gestik und Mimik des Publikums reagieren können, ja, ein Lehrervortrag kann durchaus bereits so geplant sein, dass er durch "Publikumsaktivitäten" (und sei´s eine "fragend-entwickelnde" Phase) unterbrochen wird.