was ist Selbstlernen ?

 

"Zunächst einmal ist Bildung das, was man selbst gemacht hat [...]"
(Ernst Peter Fischer in )

"Es ist für jeden einzelnen Menschen [immer den anderen!] schwer, sich aus der ihm beinahe zur zweiten Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar liebgewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalesten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. [...] Daß aber ein Publikum [Schulklasse?] sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden sich immer ein paar Selbstdenkende, sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens, finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen, selbst zu denken, um sich verbreiten werden."
(Immanuel Kant)

"Wenn ich an die tüchtigsten Studenten denke, die mir beim Lehren begegnet sind, die sich durch Selbständigkeit des Urteils, nicht durch bloße Behendigkeit auszeichneten, so konstatiere ich bei ihnen, daß sie sich lebhaft um Erkenntnistheorie kümmerten."
(Albert Einstein)

"Wenn wir die Antwort nachschlagen oder uns von jemand anders holen, so erweisen wir uns damit einen schlechten Dienst; wir berauben uns der Freude und des Stolzes, die uns jede kreative Leistung schenkt, und bringen uns um eine Erfahrung, die, mehr als alle anderen Dinge im Leben, das Selbstvertrauen stärkt."
(Hans Christian von Baeyer)

Aber Vorsicht:

"IRRTUM 3
An die Stelle des mühsamen Wissenserwerbs sollte die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen, Medienkompetenzen und Lernstrategien treten.
[...] Kognitive Psychologie und Expertiseforschung haben inzwischen überzeugend nachgewiesen [???], daß Lernen, Problemlösen und die Verarbeitung inhaltsspezifischer Informationen keineswegs nur von allgemeinen "Schlüsselqualifikationen" abhängen. Entscheidend sind vielmehr die Kenntnisse, die ein Schüler in dem betreffenden Wissensgebiet angesammelt hat und geistig "verfügbar" hält.“
(Franz E. Weinert)

Begriffseingrenzung
selbstreguliertes Lernen

Begriffseingrenzung

In "Thesen und Fragen" waren schon differenzierende Fragen dazu gestellt worden, was Selbstlernen denn eigentlich sei.

Auch die meisten anderen Bezeichnungen wie etwa

lassen alles offen bzw. sind letztlich nur banal

(und meist synonym, auch wenn es da fanatische Sekten gibt, die aus minimalen Unterschieden ein Glaubensbekenntnis machen).

Deshalb wird hier vorgeschlagen, das denkbare Spektrum grob dreizuteilen in

  1. selbstentdeckendes Lernen,

  2. Alleinlernen
    (oder genauer: zwar in Gruppen, aber ohne direkte "Lehrereinwirkung"),

  3. selbstreguliertes Lernen.

Der zweifelsohne anspruchsvollste Teil in o.g. Begriffsdreiteilung ist sicherlich selbstentdeckendes Lernen. Ihm soll hier nicht weiter nachgegangen werden (vgl. weitere Gedanken dazu unter sowie ).

Auch nur kurz angeschnitten sei das "Allein"-Lernen":

Die Probleme dabei sind von mir anderweitig aufgezeigt worden (vgl. ). Dennoch macht solches "Allein"-Lernen natürlich oftmals Sinn:

Und "Allein"-Lernen ist sowieso erheblich häufiger möglich, als es üblicherweise praktiziert wird: Wenn die Lehrkraft sowieso nur (manchmal aus guten Gründen) am Lehrbuch entlang geht, kann sie auch genauso gut sagen: "Versucht doch bitte, euch die Lehrbuchpassage selbst aufzuarbeiten."

Zweierlei muss allerdings klar sein und bleiben:

Dennoch ist ab und zu die grundsätzliche Frage zu stellen, ob LehrerInnen dem Selbstlernen oftmals sogar eher im Wege stehen, als dass sie es befördern:

„Wenn die Meister aufhören zu lehren, werden die Schüler endlich lernen können.“ (Montesquieu)

Versuche in der Schweiz scheinen zu zeigen, dass die Abwesenheit des Lehrers sogar durchaus förderlich sein kann (vgl. „Mathematik im Selbstversuch“).

Zentralthema soll hier vielmehr sein:

selbstreguliertes Lernen

Nun wären zwar weitere Unterscheidungen denkbar wie etwa in

Autodidaktisches Lernen

Autonomes Lernen

Self-directed learning

Self-organized learning

Selbstbestimmtes Lernen

Selbstgestaltetes Lernen

Selbstgesteuertes Lernen

Selbstorganisiertes Lernen

Selbstreguliertes Lernen

(vgl. ), aber da steht zu befürchten, dass solch weitere Begriffsdifferenzierung letztlich nur spitzfindig wird (und dazu dient, nie zu Konsequenzen zu kommen?).

Vielmehr soll gefragt werden, was da denn von den Lernenden selbst reguliert werden soll bzw. welche Regulationsfähigkeiten sie erwerben sollen

(und nebenbei, was doch allzu oft übersehen wird: welche dieser Fähigkeiten sie vielleicht schon haben).

Schon vorweg ist klar, dass viele Fähigkeiten fächerübergreifend sind und eher ins Feld von "Lernen lernen" gehören. Bzw. jedes Fach (also auch die Mathematik) hat an diesem allgemeinen "Lernen lernen" mitzuarbeiten und darf nicht allein von der Fachlogik und den Fachinhalten aus gedacht sein.

Der Begriff des "selbstregluierten Lernens" ist zwar nicht neu, aber doch vor allem durch die -Studie ins Spiel gebracht worden

(beachte dazu

... und darin insbesondere Kapitel 6  "Selbstreguliertes Lernen" (S. 271 ff)

Eine erste Liste von Regulationsfähigkeiten

(wobei es natürlich keine Patentrezepte gibt:

  • Umgang mit den Ressourcen:

    • Informationsbeschaffung

    • der Umgang mit Medien (inkl. Büchern und überhaupt Texten)

      • Auswahl geeigneter, d.h. sachgerechter und dem jeweiligen Lernstand entsprechender Medien

      • struktureller und kritischer Umgang mit Medien (Texterschließung)

    • Informations- und Aufgabenauswahl

    • Eingrenzung und Auswertung des Materials

    • Lernort:

      • Rückzug

      • Abwechslung

      • Einrichtung des Lernorts

  • Reihenfolge:

    • Zeitplanung (Zeitpunkt des Lernens, Pausen)

    • Schrittfolge, Systematik, Herangehensweise

    • permanente Einordnung in die Reihenfolge

      • Ausgangspunkt

      • jetziger Stand

      • Ziel

  • Umgang mit dem Stoff:

    • Auswahl des Stoffs (in Grenzen?)

    • Übungs- und Wiederholungsstrategien

    • Rückgriff auf Bekanntes, Vergleich mit Neuem

    • Verbindung zu anderen Informationen (Fächern)

    • Hierarchisierung des Stoffs

    • Strukturierung des Erlernten

    • Übertragung auf ähnliche Beispiele

    • Erfolgskontrolle (eigene, äußere; kurz-/langfristig)

    • Sicherungsstrategien

    • Umgang mit Klausuren (Prüfungsdruck)

  • persönlicher Zugang:

    • selbst die Initiative ergreifen
      (andere tun das nicht für einen)

    • an einigen Stellen, die einen besonders interessieren, mehr als vorgeschrieben tun
      (Hintergründe erarbeiten, Exkurse ...)

    • Selbstmotivation
      (Klarstellung, warum man überhaupt lernt und ob man lernen möchte.
       Wann lerne ich am besten?:

      • unter Zensurendruck?

      • unter Zeitdruck?

      • rein praktisch?

      • wenn mir jemand etwas vormacht?

      • bei eigenem echtem Interesse?

      • wenn ich alle Freiheiten habe?

      Wie kann ich eventuell an meiner Motivation etwas ändern?)

    • realistische Selbstherausforderung (statt "billige" Erfolge zu erreichen)

    • realistische und produktive Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und des Lernerfolgs

    • Erkenntnis der eigenen und äußeren Möglichkeiten und Grenzen

    • Feststellung des eigenen Lerntyps und Konsequenzen daraus

    • eigene Festlegung des Lernziels (bzw. der Lernziele)

    • Suche nach motivierenden Beispielen und Veranschaulichungen

    • Ausdauer beim Vertiefen

    • Strategien in "Frustphasen"

    • Durchhalten langweiliger, aber notwendiger Übungen

    • Einsicht in (ungeliebte) Notwendigkeiten

    • Umgang mit Erfolg und Misserfolg

    • Eingrenzen von Schwierigkeiten, Aufstellen von Fragestellungen und Suche geeigneter Hilfen

    • Memorierstrategien

    • Umgang mit Ablenkendem

    • Umgang mit Konzentrationsproblemen

    • Umgang mit Prüfungsangst

    • Selbstbelohnung und "-bestrafung" (vgl. )

    • Erkenntnis, wann Rückgriffe nötig sind oder weiter gegangen werden kann

    • insgesamt: Erkennen persönlich (und fachlich) geeigneter Lernstrategien und deren Anwendung

  • soziale Planung:

    • Gruppenbildung und Gruppen"managment"

    • Umgang mit Gruppenkonflikten/-druck

    • eigene Verantwortlichkeit für das Hinzuziehen der Lehrkraft

Schon allein wenn man diese nur vorläufige und stichpunktartige Liste sieht, wird einem überdeutlich klar,

Bei allen genannten Punkten wäre zudem weiter zu fragen:

  • Begründung, Frage nach Notwendigkeit, Möglichkeit und Grenzen
    (ist es im laufenden Unterricht beispielsweise überhaupt wünschenswert und machbar, dass SchülerInnen alles selbst regulieren?)

  • Ergänzung der Liste, die teilweise Fremdtexten entnommen ist, teilweise von mir aufgefüllt wurde:

    Man ist ja blind für das einem selbst Selbstverständliche - und sowieso für die Ursachen der Probleme anderer (und ist dementsprechend fast unfähig, Auswege aufzuzeigen).

    Zu ergänzen wären insbesondere spezifisch fachliche (mathematische) Selbstregulationsfähigkeiten.

  • Selbstreguliertes Lernen will ernst genommen werden: z.B. muss es eine echte Stoffauswahl geben statt "ihr habt die Wahl zwischen Krebs und Cholera, und überhaupt ist alles nur Fassade, hinter der immer derselbe Kern lauert".

  • Damit es nicht bei Floskeln bleibt, wäre jede einzelne der o.g. Selbstregulationsfähigkeiten genauer zu erfassen.

Dafür nur ein Beispiel: "Strategien in »Frustphasen«":

  • welche einzelnen Frustrationen können auftreten
  • und wie (abgestimmte auf jede Einzelfrustration!) kann man strategisch mit ihnen umgehen?
  • Für alle genannten Selbstregulationsfähigkeiten wären jeweils (!) konkrete methodische Vorschläge zu entwickeln: wie kann innerfachlich und fächerübergreifend im Laufe der Schuljahre dafür gesorgt werden, dass alle o.g. Aspekte sukzessive (und explizit!) erarbeitet werden?

Damit wird klar:
  • Selbstregulationsfähigkeiten kann man nicht einfach implizit voraussetzen
    ("die SchülerInnen werden sie schon irgendwie von selbst lernen": wir merken andauernd, dass das nicht so ist, oder genauer: "einige können´s schon, andere lernen´s nie"),
  • es reichen sicherlich nicht einige "Pauschalmethoden",
  • unendlich viel Kleinarbeit kommt auf uns zu - und die ist nur durch viele zusammen zu erledigen;
  • und dennoch ist (selbstregulierter) Unterricht nicht vollständig planbar, sondern besteht die Begabung "guter" LehrerInnen auch darin, angemessen auf Unerwartetes zu reagieren;
  • mehr noch: eine totale Fixierung auf Einzelfähigkeiten könnte dafür sorgen, dass man „vor lauter Bäumen nicht mehr den Wald sieht“, will heißen: dass man blind für das Unerwartet-Individuelle wird und der „neue“ Unterricht sogar noch viel enggeführter als der „alte“ ist.

Aber nehmen wir uns nicht zu viel auf einmal vor, sondern fangen wir mit den wichtigsten Einzelfähigkeiten (dann aber konkret!) an!

Eine interessante Frage dabei ist: Wir bilden uns ja alle ein, dass wir (im Gegensatz zu vielen SchülerInnen) inzwischen in der Lage sind, selbstreguliert zu lernen (immer schon waren?). Wenn das stimmt, wenn aber gleichzeitig der Unterricht auch schon zu "unserer" Zeit kaum darauf abgestellt war: Wo haben wir es denn dann dennoch gelernt? Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir es erst im Studium gelernt haben, also dann, als wir ins kalte Wasser der Selbstständigkeit geworfen wurden. Aber muss das heißen, dass man es nur auf diese brutale Tour lernen kann? Haben wir nicht auch darunter gelitten? Umgekehrt ist aber die Fähigkeit zu selbstreguliertem Lernen anscheinend ein langwieriger (lebenslanger?) Prozess, der mit der Schule keineswegs abgeschlossen ist, was immerhin auch den Vorteil hat, dass Schule nicht alles leisten muss (was heute ja leider zunehmend von ihr verlangt wird).

Man muss sich nur mal klarmachen, was die Alternative zu (immerhin in Ansätzen) selbstreguliertem Lernen ist: nämlich der "real existierende" Mathematikunterricht, in dem die SchülerInnen keinerlei freie Wahl haben und alles (Stoff, Reihenfolge, Arbeitszeit, Lösungswege ...) vorbestimmt ist, in dem SchülerInnen also rund um die Uhr "versorgt" (gegängelt?) werden. Vgl. auch "die Selbstlernlüge".

Und da wundert es einen noch, dass sie mit ersten Selbstlernmöglichkeiten bzw. -anforderungen gar nicht mehr umgehen können?!

Gründlich zu erforschen wären auch die Grenzen der Selbstregulation:

Manchmal zeugt es nur von phantasielosen letzten Abwehrgefechten des Frontalunterrichts, manchmal wird damit aber auch auf den Kern des Problems hingewiesen, wenn es heißt, "Anleitung zum selbstregulierten Lernen"

Es muss also konkretisiert werden, wie den SchülerInnen Selbstregulationsfähigkeiten vermittelt werden.

Unterricht kann und soll nicht andauernd „selbstreguliert“ sein, bzw. andere (alte) Methoden (z.B. der gelungene Lehrervortrag, aber auch der „Frontalunterricht“) haben durchaus auch ihre Berechtigung.

Und es gibt auch notwendige (z.B. Übungs-)Phasen, in denen der Anspruch, sie seien ebenfalls „selbstreguliert“, nur eine Beschönigung wäre, die den SchülerInneN schnell als solche auffallen würde.


Weitere Quellen zu "selbstreguliertem" Lernen:

Tina Seufert: Seminar "Selbstreguliertes Lernen"
Eckhardt Wächter: Selbstreguliertes Lernen

Monique Boekaerts (Herausgeber), Paul R. Pintrich (Herausgeber), Moshe Zeidner: Handbook of Self-Regulation; Academic Press

Literaturliste Selbstbestimmtes Lernen