das Staunen bewahren

"Der normale Mensch staunt über ungewöhnliche Dinge,
der weise Mann staunt über das Alltägliche."
(Konfuzius)

Die Banalität vorweg: Natürlich kann Mathematik nicht immer prickelnd interessant und staunenswert sein (die SchülerInnen würden es einem auch gar nicht abnehmen, wenn man es so "verkaufen" wollte). Sondern

Dennoch wird im Mathematikunterricht viel zu wenig gestaunt, sondern das Allermeiste nur hingenommen, weshalb es kein Wunder ist, dass Mathematik

Nur ein bewusst einfaches Beispiel, um zu zeigen, dass selbst das Einfache bzw. Alltägliche (mit Konfuzius) erstaunlich ist:

Die Winkelhalbierenden eines jeden Dreiecks schneiden sich in genau einem Punkt (nebenbei dem Mittelpunkt des Inkreises). Der Beweis dazu hat einen für mathematische Beweise geradezu typischen Nachteil: Man akzeptiert zwar die durchaus überzeugenden Einzelschritte, aber sie setzen sich nicht zu einer anschaulichen Gesamtheit zusammen. Nach dem Beweis ist man in seiner Anschaulichkeit genauso weit wie vorher: Man mag es kaum glauben (und dann auch noch bei allen, also z.B. extrem flachen Dreiecken?).
Der Effekt kann da wie immerhin bei Arthur Schopenhauer sein, dass man sich durch die Mathematik reingelegt fühlt. Sie kommt einem vor wie ein unerbittlicher, aber auch undurchschauberer Rechthaber, der einen beschämen will.
Ein anderer denkbarer Effekt ist, dass einen all das kalt läst ("was hab´ ich davon?").
Da stellt sich doch die Frage, weshalb der Beweis denn überhaupt durchgenommen wird.

Wohlgemerkt: Hier wird nicht gefragt, was man vom Schnittpunkt der Winkelhalbierenden "hat", und auch nicht, warum in der Mathematik überhaupt alles bewiesen werden muss bzw. soll.

Vielmehr soll vielleicht exemplarisch gezeigt werden, dass die Mathematik erstaunlicherweise auch da noch weiter führen kann, wo die Anschauung längst versagt; dass die Mathematik also (wie etwa in der Relativitätstheorie, nur hier auf viel einfacherem Niveau) eine Sonde in eine durchaus existente Wirklichkeit ist, die allerdings der Anschauung bzw. den Sinnen unzugänglich ist.

D.h. nach dem Beweis ist auch mal zu "problematisieren", dass er zwar funktioniert, aber letztlich doch nicht überzeugt.

Und hier wäre es dann an der Lehrkraft, mit- bzw. vorzustaunen:
"Kein Wunder, dass sich zwei Winkelhalbierende schneiden. Aber woher wusste die dritte, als sie doch eben gerade erst in ihrer Ecke »loslatschte«, schon, dass sie auch durch den Schnittpunkt der ersten beiden gehen musste."

Staunen und Sich-Wundern sind vielleicht die besten Anlässe, um sich mit einer Sache zu beschäftigen, also aus einem "Geheimnis" ein "Problem" (Noam Chomsky) zu machen, es zu lösen - und am Ende stolz zu rufen: "Heureka!"

Staunen ist also eine Grundvoraussetzung von Selbstlernen, und dieses Staunen muss man - wenn es verschütt gegangen ist - lernen bzw. durch die Lehrkraft vorgemacht bekommen.

Ich staune zumindest noch andauernd im Matheunterricht. Z.B. verstehe ich natürlich die Herleitung der Polynomendivision und weiß sowieso, wie sie durchgeführt wird - und staune doch immer wieder "andächtig"

"Staunen" impliziert eine gewisse Ungläubigkeit, ja geradezu einen leisen Widerspruch: "Das kann und darf doch eigentlich nicht wahr sein."

Man muss sich diese Ungläubigkeit ein wenig bewahren, um die ganz normalen Schwierigkeiten der SchülerInnen halbwegs voraussehen und auffangen zu können. Und umgekehrt sind vielleicht am schlimmsten LehrerInnen, die sich überhaupt nicht mehr wundern können, sondern für die alles - nach ewiger Wiederholung - schon selbstverständlich ist ("das ist nun mal so, das kommt halt raus").