den AbiturientInnEn - mit Verlaub - ein Arschtritt

vgl. auch Bild
(fragt sich nur, ob die Schule überhaupt leisten kann, was Juletschka vermisst)

Mein Gott, der arme Goethe, was ist er nicht alles in Abiturreden rauf- und runterzitiert und zum Gewährsmann des (vermeintlich) "Wahren, Guten, Schönen" gemacht worden.


Ich halte zwar reichlich wenig von punktuellen (also auch Abitur-)Prüfungen

(und schon gar nichts vom "Zentralabitur"),

habe aber dennoch Verständnis dafür, dass das Abitur eine Art "Initiationskult" bzw. "Mann(?)barkeitsritual" ist und deshalb bitter ernst genommen und später
, falls bestanden, höchst feierlich begangen wird. Das Publikum verlangt dann nunmal nach "gesalbten" (ergo nichtssagenden) Worten

("eine Rede unter drei Stunden ist gar keine Rede"; vgl. die Reden des Großen Vorsitzenden des Zentralkomitees der KPdSU bzw. CSU).

Dennoch:

in von LehrerInneN gehaltenen Abiturreden

(also nach den bestandenen Abiturprüfungen)

ist es nicht mehr an der Zeit, den AbiturientInnEn irgendwelche

(wie damit unterstellt wird: bislang nicht erreichten)

tiefsinnigen "Lebensmaximen" mit auf den Weg zu geben: wenn die AbiturientInnEn "es" bis jetzt nicht begriffen haben, werden sie's auch jetzt nicht begreifen - oder höchstens sehr viel später

(wohinter oftmals wiederum die Unterstellung steckt: "irgendwann, wenn sogar du noch ein bisschen Verstand bekommen haben solltest, wirst du uns schon zustimmen" bzw. "wir hatten schon immer Recht und werden auch immer Recht behalten").

Fräher gab's mal das schöne Wort "Reifezeugnis". Bzw. ein Lehrer hat mal ironisch zu SchülerInneN

(also Noch-nicht-AbiturientInnEn!)

gesagt:

"Mensch ist man erst mit Abitur"
(Ihr seid also noch keine Menschen!),

Aber man kann doch nicht den AbiturientInnEn

Oder man zieht (stillschweigend) eine ganz andere Konsequenz: das Abitur hat mit "Reife" (was immer das sei) rein gar nichts zu tun

(nicht mehr - bzw. hatte es jemals?).

Aber egal, ob man (so pauschal) "die" AbiturientInnEn nun für "reif" hält oder nicht:

die LehrerInnen haben jahrelang (Trocken-?)Schwimmanleitungen gegeben - jetzt müssen die AbiturientInnEn ins kalte Wasser springen und (viel zu spät?) selbst schwimmen - oder untergehen.

Man kann's ihnen nicht ersparen, bzw. man hätte sie höchstens besser vorbereiten (und früher selbst schwimmen lassen) können.

In eine Lehrer-Abiturrede passen also höchstens:

(und vielleicht auch - einfach nur ehrlich - der Unmut über Fehlverhalten einiger SchülerInnen; obwohl mir das im Nachhinein kleinlich bis geradezu feige rachsächtig erscheint

[wie z.B. auch bösartige Abiturzeitungen; wobei SchülerInnen allerdings oftmals vorher nicht ehrlich sein durften];

sowas hätte man vorher regeln bzw. sagen müssen - oder kein Abitur vergeben sollen?),

(vgl. Bild ).

Man kann's aber auch sein lassen.

(allerdings:

  • war denn "uns" jemals Spaß anzumerken?
  • mit Spaß meine ich auch Engagement, also nicht nur [das gute Recht der Jugend] den Spaß von Disco, Saufen, Klamotten ...),

(denn zumindest mir ist da oftmals ein wenig wehmätig wie einem Vater, dessen Kinder das Haus verlassen, wobei LehrerInnen - anders als normalerweise Eltern - ihre "Schützlinge" nie wieder sehen, also auch kaum jemals erfahren, ob und wie ihre "Saat" aufgegangen ist).


Man kann sich den Mund fusselig reden

(aber der reine Hinweis ist auch nicht gerade eine Hilfe; und permanente Hinweise sorgen vielleicht nur für Angst und - daraus folgend - Entscheidungsschwäche),

dass die (zukünftigen) AbiturientInnEn sich lange vor dem Abitur nach passenden Berufs- und Studienmöglichkeiten umschauen mögen, aber viele tun's einfach nicht.

(Hab' ich seinerzeit auch kaum getan; wie ich ja überhaupt immer erst mit voller Kraft einen Abschluss angesteuert und danach dann daran gedacht habe, was ich mit ihm anfangen könnte - und ob überhaupt).

Oder genauer: viele (zukünftige) AbiturientInnEn erkundigen sich ja durchaus schon vor dem Abitur nach Berufs- und Studienmöglichkeiten, aber "sie sehen vor lauter Bäumen [durchaus interessanten Möglichkeiten] den Wald nicht mehr":

Die neue Freiheit nach dem Abitur wird keineswegs nur als positiv empfunden, sondern teilweise auch als sehr beängstigend: ich habe schon AbiturientInnEn auf Abiturfeiern stramm sentimental werden sehen über das, was sie nun leider hinter sich ließen, und sie zitterten regelrecht vor der offenen Zukunft. Ja, Abiturfeiern sind ein "point of no return", denn da verbrüdert man sich gerade noch mit allen Con-AbiturientInnEn

("we are the champions"; wofür ich "nach getaner Sache" allemal Verständnis habe!)

und weiß doch gleichzeitig ganz genau, dass man 98 % davon nie wieder sehen wird.

Heutzutage kommt bei der Studien-/Berufswahl wohl mehr als "zu meiner Zeit" hinzu

(da sind die meisten AbiturientInnEn viel realistischer als "wir damals"):

die AbiturientInnEn wissen ganz genau, dass sie verzweifelt ökonomisch "Erfolg" haben, d.h. dass sie

Anders gesagt: Spaß

(gar das Studium eines "Orchideenfachs" bzw. von "Diplomarbeitslosigkeit")

kann (scheinbar?) kein ausschlaggebendes Argument mehr sein.

Und drum studiert, wem sonst eh nichts einfällt

(oder aber wer sowieso starr ökonomisch bzw. in Regeln denkt),

BWL oder Jura

(... Fächerwahlen, die mir insbesondere bei intelligenten SchülerInneN massiv gegen den Strich gehen: da trauere ich um jeden, der der echten Wissenschaft abhanden kommt;

und überhaupt: nächstens wollen alle verwalten, aber keiner will mehr arbeiten [sagt ausgerechnet ein Lehrer]).

Letztlich kann (und darf?) man den AbiturientInnEn die Übergangs- und Entscheidungsschwierigkeiten wohl kaum ersparen, zumal letztere ja

(außer bei den Betonköpfen, die schon immer wussten, wo der Weg sie hinführen wird)

auch eine "Selbstfindungs"- und Bildungschance sind.

Nur passt "ein Jahr »Philosophicum«" natürlich nicht mehr in unsere "output"-orientierte Zeit

(mit ihrem kastrierten "Bildungs"-Begriff),

in der Jugendliche am besten schon mit 16 ihr Abitur machen und mit 20 ihren Doktor, um dann bis 75 durchzuschuften

("heute war ein guter Tag, da nur drei Kollegen tot über ihrem Schreibtisch zusammengebrochen sind").

Ein freiwilliges soziales Jahr oder "ein Jahr auf dem Zahnfleisch von Alaska bis Feuerland"

(hab' ich damals ja leider auch nicht gemacht, sondern immer bestens "funktioniert")?

für solche Sperenzien haben wir heute keine Zeit mehr!


Insbesondere zwei Sorten von AbiturientInnEn bedürfen besonders dringend eines "Arschtritts":

  1. diejenigen, bei denen

(wie bei mir seinerzeit)

die Erziehung sowohl im Elternhaus als auch in der Schule gut (!?) funktioniert hat, also die

(glücklicherweise!)

Wohlbehüteten

(es wird Zeit, dass sie ihre Käsesocken selbst waschen!);

  1. jene intelligente Sorte AbiturientInnEn, die andauernd im Clinch mit der Schule lag bzw. die EINFACH NICHT IN DIESES SCHULSYSTEM PASSTE.

(Ich bin mir durchaus bewusst, dass das Folgende [scheinbar] Spießersprüche sind, die die Opfer mit den Problemen allein lassen.)

Gerade diese zweite Sorte darf noch ein paar Wochen über die Schule schimpfen, muss sie dann aber hinter sich lassen.

Man darf (?) nicht sein Leben lang andere für die eigenen Probleme verantwortlich machen, bzw. nach vielem, das einem angetan worden sein mag, muss (?) man - notfalls mit dem aufgeladenen schweren Gepäck - seiner eigenen Wege gehen.

Und notfalls müssen sich solche SchülerInnen sagen:

"Ich hatte eine [vermeintlich oder tatsächlich] schlechte Schule.
Das war eine gute Lehre."
(Arnfried Astel)


Einfach nur schmunzeln muss ich über jene Ex-SchülerInnen, die in der Schule

(verständlicherweise!)

stinkend faul waren und im Nachhinein

(genauer: nach den allerersten Uni-Erfahrungen)

"uns" LehrerInneN vorwerfen, wir wären nicht hart genug gewesen und hätten "sowieso" viel mehr durchgreifen müssen.

(Ich werde eh nie jene Menschen verstehen, die nur unter Druck arbeiten können. Haben sie eigentlich eigene Interessen?)

Und noch lustiger finde ich es, wenn 19jährige meinen, die Kleinen (also 18jährigen) würden heutzutage total verhätschelt und seien "sowieso" alle halbkriminell und splitterfaserdoof (vgl. PISA):

"Ihr müsst mal alle einen Krieg mitmachen. Und überhaupt war Stalingrad doch eine feine Sache, hat uns [die 2 % Überlebenden] nämlich »richtig männlich« zusammengeschweißt."


Zuguterletzt zwei ungefragte Tipps:

  1. Jetzt sei endlich spontan! :-)

  2. Sei, wenn Du an eine Universität geht, aufgeschlossener und wohl auch mutiger als ich damals, steige gleich ins universitäre Leben ein

(Übungsgruppen, Erstsemestertreffs, Sport, politische Gruppen, Chöre ...; nur bittschön keine Studentenverbindungen).

Und gehe nochmals hin, auch wenn Du nicht gleich beim ersten Mal dicke Freundschaften geschlossen hast.

Merke: alle anderen StudienanfängerInnen sind genauso neugierig, unsicher und auf Freundschaften aus wie Du!


Versuch einer Abiturrede (je kürzer, desto besser):

Liebe Eltern,

verzeihen Sie mir, wenn ich Sie nur kurz anspreche und dann zu den wichtigsten Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser feierlichen Stunde, nämlich den Abiturientinnen und Abiturienten, übergehe.

Also nochmals: liebe Eltern,

meinen herzlichen Glückwunsch, dass Sie Ihre Kinder so weit gebracht bzw. begleitet haben. Ich weiß, welche Opfer oftmals damit verbunden waren, aber schauen Sie sich doch nur um: es hat sich gelohnt!

Vielleicht geht es Ihnen wie uns Lehrerinnen und Lehrern, dass sie nämlich ein bisschen Wehmut darüber empfinden, dass die Abiturientinnen und Abiturienten nun aus dem Haus gehen.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, 

jetzt ist es nicht mehr an der Zeit, Ihnen altersweise Tipps mit auf den Lebensweg zu geben, und ich spare mir auch jedes Goethe-Zitat.

Ich kann nur hoffen, dass wir, die Lehrerinnen und Lehrer, Ihnen einiges Lebenswertes mitgeben konnten.

Überhaupt scheint mir, dass unser Anteil nur bescheiden sein konnte: Wir konnten die Setzlinge nur gießen - oder verdorren lassen?

Ansonsten kann ich Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, nur sagen: da ist das Wasser, schwimmen Sie! Ich hoffe, Sie haben (vielleicht nicht von uns?) die wichtigsten Schwimmbewegungen gelernt - und Mut dazu.

Ich bitte Sie um Entschuldigung, falls wir Ihnen wissentlich oder versehentlich weh getan haben sollten.

Bleibt mir "nur", Sie von ganzem Herzen zum Abitur zu beglückwünschen und Ihnen alles nur erdenkliche Gute für Ihren Lebensweg zu wünschen.

Feiern Sie noch schön!

Diese Rede ist ohne Bezug zu einem konkreten Abi-Jahrgang natürlich arg allgemein gehalten - und damit floskelhaft?

Aber meistens geschieht eine Konkretisierung doch nur dadurch, dass man ein anderes Thema (Ausgangszitat) auswalzt - und den Teufel tut, auf den konkreten Abi-Jahrgang einzugehen, was ja auch heißen könnte, mit zumindest einigen SchülerInnen Tacheles zu reden und die feierliche Atmosphäre zu stören.

Rückmeldung einer SchülerIn

auf meinen Redevorschlag: "zu kurz". Also: ist doch egal, worüber und wie geredet wird, Hauptsache, die Rede ist dem feierlichen Anlass entsprechend lang.

Um also doch immerhin ansatzweise ein wenig konkreter zu werden

(ohne dass ich hier auf einen konkreten Abiturjahrgang eingehen kann),

so könnte ich mir vorstellen, meine (Lehrer-)Abiturrede um Bild zu "ranken", d.h. diese Abiturrede einer fiktiven SchülerIn

als Ausgangspunkt für selbstkritische, aber durchaus launige (statt selbstmitleidige oder -denunziatorische) Gedanken über Möglichkeiten und Grenzen der (konkreten!) Schule/LehrerInneN zu nutzen.