Lehrer als Befehlsempfänger?!
Andreas Schleicher, der Chef der PISA-Tests, hat sich anlässlich in einem Zeitungsinterview mal wieder gründlich in die Nesseln gesetzt.
Das vollständige Interview ist ursprünglich in der "Stuttgarter Zeitung" erschienen:
Im Internet ist das Interview aber nur komplett einsehbar, wenn man die Online-Ausgabe der "Stuttgarter Zeitung" kostenpflichtig abonniert - was ich mir nur für das Schleicher-Interview nicht antun wollte.
Mir bleibt also nur, mir kurze Ausschnitte aus diesem Interview aus anderen Quellen zusammenzuklauben. Alles, was ich im Folgenden sage, ist also ohne Gewähr.
Das Interview hat bei den "üblichen Verdächtigen", also Lehrerverbänden, einen reflexartigen Sturm der Entrüstung ausgelöst
was wohl auch daran lag, dass Schleicher teilweise pauschal von "den" = allen Lehrern gesprochen hat.
Es waren vor allem drei Stellen des Interviews, die für Empörung bei den Lehrerverbänden gesorgt haben:
„»Die deutschen Lehrer sind im internationalen Vergleich sehr gut bezahlt. Lehrkräfte können sich nicht einfach darauf zurückziehen, dass sie viel zu tun haben - und dass sie sich deshalb nicht gemeinsam mit Kollegen treffen könnten, um bessere Unterrichtskonzepte zu entwickeln.« Sein [= Schleichers] knallhartes Fazit: »Eine solche Haltung würde in keinem anderen Job akzeptiert werden.«“
(Meint Schleicher damit, dass in keinem anderen Job Mehrarbeit [über sowieso schon schwer erträgliche Belastung hinaus] verweigert werden dürfte? Und kann / darf man das überhaupt [egal, in welchem Beruf] verlangen?)
"Die Verteidigung der Lehrer, man habe zu wenig Zeit und zu große Klassen, um den hohen Anforderungen an den Beruf zu entsprechen, lässt er nicht gelten. Gegenüber der »Stuttgarter Zeitung“ wird Schleicher hier deutlich: »Ich habe, ganz ehrlich, wenig Verständnis für Lehrer, die nur darauf pochen, dass sie überlastet seien.«“
"»Zu viele Lehrer sehen sich in erster
Linie als Befehlsempfänger, die im Klassenzimmer statisch einen Lehrplan
abarbeiten müssen.«“
(Quelle für die drei Zitate:
;
nebenbei: hat sich überhaupt jemals ein Lehrer gegenüber Schleicher
ausdrücklich als "Befehlsempfänger" bezeichnet, oder hat er
überhaupt erst diese Zuschreibung kreiert, weil viele Lehrer sich über
allzu viele Vorschriften beklagt haben? [Aber Lehrer klagen ja immer.])
Mich interessiert hier aber
weder die kontroverse Diskussion
noch das erste und zweite,
sondern nur das dritte Zitat.
Dafür, dass Schleicher in dem Interview frei spricht, ist der Satz
"Zu viele Lehrer sehen sich in erster Linie als Befehlsempfänger, die im Klassenzimmer statisch einen Lehrplan abarbeiten müssen.“
bewundernswert raffiniert gebaut:
: zwar nicht alle ("die") Lehrer, aber eben doch "zu viele", wobei unklar bleibt, welcher Anteil mit "zu viele" gemeint ist: 3 % ? 51 % ?, 98 % ?
: kritisiert werden nur diejenigen Lehrer, die sich "in erster Linie" als Befehlsempfänger sehen - und nicht jene, die sich auch (aber eben nicht "in erster Linie") oder gar nicht als Befehlsempfänger sehen;
: Schleicher lässt (vordergründig?) offen, ob die Selbsteinschätzung der Lehre "objektiv" richtig ist, ob Lehrer also
Von diesen drei Punkten interessiert mich im Folgenden aber wiederum nur c.
Bei einer Kurzrecherche zum Begriff "Befehlsempfänger" bin ich prompt auf die beiden folgenden Belege gestoßen:
Das Kölliker-Zitat "Deutsche sind oft nur Befehlsempfänger" kann zumindest auf die (Nach-)Kriegsgeneration vergiftet wirken:
"Wer zuerst Auschwitz sagt, hat
gewonnen!"
(Wiglaf Droste)
: in Deutschland hat(te) es eben auch Tradition, sich
Bei meinen Recherchen habe ich aber noch keinen gefunden, der den Begriff "Befehlsempfänger" auf diesem historischen Hintergrund gelesen hat, und auch bei Schleicher gibt es keinen Hinweis darauf.
Damit aber zurück zu
Ich behaupte hier glatt mal, dass viele deutsche Lehrer
(und das bedauern oder sogar als empörend empfinden). |
(Natürlich nicht alle Lehrer: es gibt natürlich auch welche, die das sogar begrüßen, weil sie dann nicht selbst denken müssen.)
"Mr Phillips ist der
schlechteste Lehrer, den wir je hatten. Er kann keine Ordnung halten.
Außerdem vernachlässigt er die Kleinen und widmet fast seine ganze Zeit
den großen Schülern, die er auf die Aufnahmeprüfung am Queen’s College
vorbereitet. Er hätte die Stelle gar nicht erst bekommen, wenn sein
Onkel nicht so einen großen Einfluss bei der Schulbehörde hätte.
Ehrlich – ich frage mich, wie das mit der Schulbildung hier auf der
Insel noch enden soll.« Mrs Rachel schüttelte den Kopf, als wollte sie
zum Ausdruck bringen, dass die Dinge sehr viel besser laufen würden,
wenn sie in der Schulbehörde das Sagen hätte." "Voller Ehrgeiz machte sie [= Anne] sich daran, die weiten Felder unerforschten Wissens für sich zu erobern. Vieles von dem hatte sie Miss Stacys taktvoller, weitsichtiger Führung zu verdanken. Sie leitete ihre Schüler dazu an, sich ihr Wissen selbst zu erschließen und die alten ausgetretenen Pfade hinter sich zu lassen. [...] die Mitglieder der Schulaufsichtsbehörde beobachteten misstrauisch all die Neuerungen, die sie in der Schule von Avonlea einführte." (Quelle: ; das Original ist erstmals 1908 erschienen) |
Es gibt sogar Indizien dafür, dass auch Schleicher die Befehlsempfängerei für real hält
(und es tut mir fast leid, ihm hier ein wenig gerecht werden zu müssen).
"In den Niederlanden treffen die Schulen fast
90 Prozent aller Entscheidungen selbst, in Deutschland sind es 17 Prozent."
"Wer nur lernt, Hamburger zu braten, wird nie
zum Meisterkoch. Ähnlich ist es mit Lehrkräften. Sie sollten einen
Arbeitsplatz bekommen, der innovativ ist - und nicht dazu ausgebildet
werden, vorgefertigte Lehrpläne wieder und wieder aufzuwärmen."
(Quelle der ersten beiden
Zitate.:
)
"[...] Lehrerinnen und Lehrer [bräuchten]
Freiräume, eigene Ideen zu entwickeln und kreative Unterrichtskonzepte zu
erproben."
(Quelle:
)
"Verbesserungsbedarf für den Alltag der Lehrer sieht Schleicher ebenfalls reichlich. Gegenüber der »Stuttgarter Zeitung« sagt er: »Ich bin allerdings dafür, die Arbeitszeit von Lehrkräften anders zu organisieren und sie insbesondere von Verwaltungsaufgaben zu entlasten«".
„Meine Bitte an die Lehrer ist: Machen Sie
sich auf den Weg! Schauen Sie nicht nach oben, sondern im Lehrerzimmer
direkt zur Kollegin oder zum Kollegen neben sich. Lehrer können gemeinsam an
Schulen viel zum Guten verändern. Dafür braucht es keinen Erlass aus dem
Kultusministerium.“
(Quelle:
)