Bildung ist ... sexy

... und sex sells everything

 

Schock' deine Freunde

- mit Bildung!

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"Mit fünfzehn war ich das Leben leid. [...]
Ohne die Hand, die mich zurückhielt, hätte ich irgendwann Selbstmord begangen. Ein Tod, der mich unwiderstehlich anzog, mir Linderung versprach, eine geheime Zuflucht, die mir erlaubte, unbemerkt Schluß zu machen mit meinem Schmerz. [...]
In dieser Verfassung wohnte ich eines Nachmittags Proben an der Oper von Lyon bei. Unser Musiklehrer hatte erreicht, daß seine besten Schüler in den Genuß dieses Privilegs kamen. [...]
Da erschien eine Frau auf der Bühne. Zu dick. Zu viel Schminke. Zu unbeholfen. Verzweifelt wie ein gestrandeter Walfisch, versuchte sie sich auf der Szene zurechtzufinden. [...]
Mit ihren kleinen Patschhänden, ihren hölzernen Bewegungen, ihrem steifen Kostüm, ihrer maskenhaften Schminke und ihrer starr gelockten Perücke glich diese Frau einer überdimensionalen, pathetischen Puppe. [...]
Die Frau begann zu singen.
Und plötzlich wurde alles anders. [...]

Figaros Hochzeit
KV 492
Arie der Gräfin
Dove sono i bei momenti"

(aus: Eric-Emmanuel Schmitt: Mein Leben mit Mozart)


"Ich stürme von der Mathematik und Technologie zur Philosophie, von dort weiter zu unseren alten Freunden, den Poeten; und dann – überbeansprucht von soviel Idealismus – habe ich Lust, wieder praktisch zu werden, und kehre zurück zur Technik. Haben Sie jemals versucht zu begreifen, wie viel es in unserer Welt gibt und wert ist, mehr darüber zu wissen? Es gibt soviel zu studieren, nichts ist unwürdig dazu – einfach unglaublich, es geht über meinen Verstand!"
(Karl Pearson)


"Jeden Tag denke ich unzählige Male daran, daß mein äußeres und inneres Leben auf der Arbeit der jetzigen und der schon verstorbenen Menschen beruht, daß ich mich anstrengen muß, um zu geben im gleichen Ausmaß, wie ich empfangen habe und noch empfange."
(Albert Einstein)
 


"für sich genommen beschwört »Bildung« [...] nicht das Bild einer Unterrichtssituation mit Lehrern und Schülern herauf, sondern eher die eines Individuums, das sich aktiv - etwa durch Lesen [!] oder Reisen [!] - Wissen aneignet. Man »wird ausgebildet«, aber man »bildet sich [!]«."
(
Bild  Ulf von Rauchhaupt)

Wenn die Weiber halbwegs bei Verstand sind,

  1. suchen sie sich sanfte südländische Jünglinge mit Waschbrettbauch und knackigem Po, schauen ansonsten aber auf

  2. die "inneren Werte"

("ich liebe nur [???] deine inneren Werte")

und

  1. gediegene Bildung :-)


Als ich letztens beim Friseur ein wenig warten musste, habe ich mangels besserer Alternativen ein wenig im "Stern" geblättert - und den Leitartikel gelesen:

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(Andreas Petzold, Stern 11/05)

Ich muss gestehen, dass ich ein wenig "menschlich enttäuscht" war, dass mir Petzold da (fast) den Titel für einen Essay weggenommen hatte, den ich schon seit langem plante - und jetzt wohl endlich schreiben muss.

Der "Stern"-Leitartikel bietet allerdings immerhin die Folie, auf der meine allemal abweichende Meinung nur um so deutlicher hervortritt.


 

Wie bei Büchern und Computerzubehör gibt es auch in Sachen (Klassik-)"Schallplatten" fast nur noch mainstream-Läden. So gibt es z.B. in Münster nur noch einen einzigen "richtigen" Klassik-Laden.
Das Publikum da kam mir immer - wie zu erwarten - ein wenig bieder und langweilig vor

- bis ich mitten in all der Klassik eines Tages eine kleine, irokesenhaarschnittbewehrte Punkerin traf.

Ich war so perplex, dass ich sie fragte: "Was hast du denn hier verloren?", worauf sie antwortete: "Letztens habe ich ein Stück im Radio gehört, das ich irre fand: das Violin-Doppelkonzert von Bach." Und sie schloss mit der Bemerkung:

"Bach ist geil!"

(Wir "zu meiner Zeit" haben auf klassische Adagios geschwoft - und fühlten uns damit haushoch jenen überlegen, die mit "Rockballaden" Vorlieb nehmen mussten.
Zudem hatten die klassischen Adagios den Vorteil, dass sie viel länger waren [Mahlers Adagietto 13 Minuten!], man also auch länger schmusen konnte.)

Der zeittypische Fehler des "Stern"-Leitartikels ist, dass er Bildung nur als Mittel zum Zweck sieht:

  1. und durchaus wichtig: "Investition in Bildung schafft Wachstum und Arbeitsplätze." "Mehr Geld in Bildung zu stecken [...] ist eine hochrentable Investition."

  2. und noch viel wichtiger: "Bildung hilft auch gegen Armut."

Wenn aber

(zudem nie inhaltlich gefällte)

"Bildung" nur Mittel ist, dann ist sie in der Tat "nicht sexy, aber [vielleicht] wirksam".

(Mir scheint allerdings sogar die Wirksamkeit fraglich. Allzu oft läuft man doch heutzutage in Sonntagsreden der Chimäre "Vollbeschäftigung" hinterher, obwohl doch jeder weiß, dass gleichzeitig der Mensch systematisch aus der Produktion eliminiert wird.)

Um in der Sex-Metaphorik zu bleiben: wozu denn eigentlich ist Sex da?:

  1. die katholisch-evolutionäre Erklärung: nur als Mittel zum Zweck der Fortpflanzung,

  2. als Selbstzweck bzw. zur Freude der ihn "betreibenden" Partner.

Bildung muss also

(vor und neben jeder ökonomischen Inanspruchnahme)

als Selbstzweck gesehen werden:

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Wilhelm von Humboldt
lässt grüßen!

In der derzeitig grassierenden Phantasielosigkeit ist es schon gar nicht mehr verwunderlich, dass keiner der ungebildeten Bildungsplaner mehr dem "sex-appeal" der Bildung vertraut - sondern nur der kompletten Regulierung

(Bildungsstandard, Kernlehrpläne, zentrale Abschlussprüfungen, Vergleichstests ...: ein lückenloses überwachungssystem à la Margret Honecker!).


Ach, ich komme erahnbaren Einwänden schon zuvor:

es kann nicht immer alles nur Spaß machen, sondern um wieder (ironisch!) die sexuelle Metaphorik zu bemühen: es gibt auch "eheliche Pflichten"!


Ich rede nur deshalb von Deutschland, weil ich nunmal da lebe und mich am besten auskenne:

Was in Deutschland fehlt, ist ein Respekt vor Bildung und kulturell-wissenschaftlichen Leistungen. "Intellektueller" ist

(wie in den USA - und dort auch "Liberaler")

geradezu ein Schimpfwort - und jede Dumpfbacke meint

(um es mit meinem ehemaligen Deutsch- und Englischlehrer zu sagen),

"Schiller an die Karre pinkeln" zu dürfen.

wenn's hoch kommt, so herrscht in Durchschnitts-Deutschland ein Bildungsbegriff à la "Wer wird Millionär?" , und wenn da Faktenwissen mit Bildung verwechselt wird, dann ist das das glatte Gegenteil von Bildung:

"Die Festschreibung einiger (notwendigerweise spezieller) Inhalte als »allgemeinbildend« verkehrt den Sinn von Allgemeinbildung. Denn eine inhaltlich kanonisierte »allgemeine Bildungä, die erstrebt wird, um gebildet zu sein und um vor anderen gebildet zu erscheinen, deformiert die Bildung zum Statussymbol, ist ungehemmte Begierde, ist mithin ein Nichts."
(Georg Wilhelm Friedrich Hegel)

Aber ich will nicht depressiv werden:

(wie auch die die vorgeschlagenen Lösungen; vgl. etwa  Bild

DIE ZEIT

10/2005 

Das hat Humboldt nie gewollt

Weil wir uns nur für den wirtschaftlichen Nutzen interessieren, verkennen wir den Wert der Bildung [!!!]. Das muss sich ändern. Aus Deutschland sollte wieder eine Kulturnation [???] werden. Ein Plädoyer

Von Julian Nida-Rümelin)

viel zu national gedacht ist. Und Nation wird da immer nur in Konkurrenz gesehen.

Zudem hilft Klagen allein nie: wenn denn meine "deutsche" Diagnose stimmt, so wäre doch zu fragen, wo ihre Ursachen liegen.

(Nur ein Beispiel: was mir neben den direkten Verbrechen der Nazis an Menschen doch oftmals zu kurz kommt, ist, wie sie sofort ab Januar 1933 die deutsche Kultur und Wissenschaften von einer Welt-Spitzenposition auf unteres Mittelmaß gebracht haben. Die Nazis waren eben auch ein elendes, ressentimentbeladenes Dumpfpack.)


Dass Bildung keineswegs Luxus ist, zeigt beispielsweise der

Human Development Index

Mit Hilfe des Human Development Index (HDI, Index der menschlichen Entwicklung) wird seit 1990 versucht, anhand einer Maßzahl den Stand der menschlichen Entwicklung in den Ländern der Welt zu verdeutlichen. Der HDI wird jährlich im Weltentwicklungsbericht (Human Development Report, HDR) veröffentlicht, welchen das United Nations Development Programm (UNDP), das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, herausgibt.
[...]
Anders als der Ländervergleich der Weltbank berücksichtigt er nicht nur das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Einwohner eines Landes [...], sondern ebenso die Lebenserwartung und den Bildungsgrad mit Hilfe der Alphabetisierungsrate (siehe Analphabet) der Bewohner.
Der Faktor Lebenserwartung gilt dabei als Indikator für Gesundheitsfürsorge, Ernährung und Hygiene; das Bildungsniveau steht für erworbene Kenntnisse und das Einkommen für einen angemessenen Lebensstandard.
(zitiert nach
Bild )

Wenn dabei Bildung mittels der Alphabetisierungsrate gemessen wird, so heißt das eben "nur", dass die Alphabetisierung der Anfang aller Bildung ist

(immerhin können die Leute dann schon mal lesen)

und die eigentliche Bildung dann überhaupt erst beginnen kann. Dass Deutschland weitgehend alphabetisiert ist, ist also ein schöner Anfang, aber kein Grund, sich jetzt geruhsam zurückzulehnen.

Interessant an der (anders als bei der Weltbank) Einbeziehung u.a. der Bildung ist zweierlei:

  1. ergibt sich damit ein ganz anderes Länder-"Ranking" als bei der reinen Messung der Wirtschaftskraft;

  2. wird Bildung als eine zentrale Möglichkeit verstanden, Lebenschancen zu schaffen und sich frei zu entscheiden.

Es wird - um nochmals nationalistisch fixiert zu reden - dringend Zeit, dass Bildung in Deutschland wieder als erstrebenswert gilt und dass man für Bildungschancen dankbar ist.

Eine Bildungschance bietet zweifelsohne die Schule, die aber doch allzu oft auch den Spaß an Bildung austreibt.

Deshalb meine ich auch, dass vermehrt sonstige Bildung als erstrebenswert gelten muss.


Im PISA-Musterländle Finnland scheint hingegen Bildung sehr viel zu gelten und hoch geschätzt zu werden

(und als logische Folge ist der Lehrerberuf hoch anerkannt!

Kaum denkbar ist allerdings, dass die finnische Bildungsfreude national verengt ist: was - außer Nokia und Sibelius - und insbesondere welche "Weltkultur" ist jemals aus Finnland gekommen?).

Vielleicht liegt gerade im hohen Ansehen von Bildung

(und nicht im besseren Schulsystem oder leichteren sozialen Ausgangsvoraussetzungen)

der Schlüssel zum finnischen Erfolg?!


Sicherlich nicht "sexy" ist eine schnarchlangweilig "bildungsbürgerliche" "Bildung", wie sie oftmals von Studienräten und Kulturredakteuren abgesondert wird.

Dabei stören mich keineswegs leise Töne

(es kann und darf nicht immer alles "sexy" sein!),

sondern eine völlig unkritische Haltung à la "Goethe ist gut, weil er berühmt ist" sowie eine nostalgische bis geradezu reaktionäre Haltung: "Nach Brahms bzw. Dylan ist keine gute Musik mehr gemacht worden."

Vor lauter elaborierter Sprache wird da niemals ein eigener Bezug

(auch Begeisterung; und sei's begeisterte Ablehnung)

sichtbar.

(Ich mag nicht Marcel Reich-Ranickis fatalen Begriff von Literaturkritik, nämlich das systematische Verreißen; aber eins kann man ihm sicherlich nicht nachsagen: Begeisterungslosigkeit.)

Da ist mir in der Tat die kleine Punkerin mit "Bach ist geil!" lieber.


Bildung ist ...

Bild

(ohne

"was du ererbt von deinen Vätern [bzw. was du gelesen] hast,
 Erwirb es, um es zu besitzen",

bleibt das allerdings reine Vielwisserei);

"Ich hatte das Gefühl,
durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch
auf einen tief darunter liegenden Grund
von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen [...]."
(Werner Heisenberg)

(Hier beim "Heureka" passt in der Tat mal die sexuelle Metaphorik: es gibt sowas wie das Glücksgefühl eines geistigen "Orgasmus"! - das nie verstehen wird, wer's noch nicht hatte);

Bild UND (!)  Bild

(nur eben ohne dieses penetrante "wissen muß" bzw. "wissen sollte"; und schon gar nicht mit dem Anspruch "Alles", denn es macht Bildung ja gerade aus, dass sie nie abgeschlossen ist, sondern immer noch unendlich viel zu entdecken bleibt).

Bildung ist, wenn man in "Stimmung" (?) ist, eine jederzeit mögliche virtuelle Weltreise

(also keineswegs [nur] romantisch, behaglich etc.):

Bild

Mag zwar sein, dass Kant gebildet sein konnte, ohne jemals Königsberg zu verlassen. Ansonsten aber tut es jeder virtuellen Weltreise gut, ab und zu an Wirklichkeitserfahrungen (realen Weltreisen) "geerdet" zu werden.

 

"Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen nach unserem Bilde [...]"
(1. Mose 1,26)

Es gibt den altertümlichen Begriff "Herzensbildung", vor der ich sehr viel mehr Respekt habe, bzw. Herzensbildung ist überhaupt erst richtige Bildung.

Herzensbildung ist eine emotionale, soziale und "menschliche" Bildung, die durch Bücherwissen höchstens gefördert werden kann, oftmals aber völlig unabhängig von schulischer und akademischer "Bildung" ist.

Wer aber dürfte von sich behaupten, dass er Herzensbildung "hat"?