nordfriesische Bildung


(Schild am Hans-Momsen-Haus in Fahretoft)

Interessant an diesem Schild ist der Zusatz ganz unten:

Momsen hat in der Tat nichts zur „großen“ Wissenschaft beigetragen, aber er hat sich in seinen engen Verhältnissen auf wahrhaft erstaunliche Weise („Wie er es geworden ist“) selbst gebildet, und eben das kann bis heute vorbildlich sein:

„[...]
Als […] Hans Momsen am 23. Oktober 1735 geboren wird, zweites von sechs Kindern des Kleinbauern und Landmessers Momme Jensen, ist d[…]er einige Meilen nordwestlich von Bredstedt gelegene Fahretofter Koog rund fünfhundert Hektar groß und umfasst ein Dutzend Warften, darunter auch die Gabrielswarft. Dort steht Momsens Geburtshaus: die Welt des Hauke Haien, klein und ärmlich. Aber auch sie lässt wenigstens ahnen, dass es jenseits der Deiche auch noch eine andere Welt gibt. Die Mutter klöppelt Spitzen, eine holländische Kunst. Der Großvater Jens Jacobsen ist sogar selbst noch in Holland gewesen und hat dort Seefahrer in der Steuermannskunst unterwiesen. Von ihm stammen auch die auf Holländisch verfassten Bücher auf dem Dachboden, darunter ein Werk Euklids. […] So jedenfalls schildern es […] [die] »Blätter der Erinnerung« […]: »Eines Tages nämlich zeichnete sein Vater die Figur einer gemessenen Fläche Landes. Der kleine Hans Momsen betrachtete die Zeichnung und Berechnung sehr sorgfältig. Da fragte er den Vater, warum dies und jenes gerade so und nicht anders sein müsste. Dieser … erkannte die Richtigkeit der Frage, war aber nicht im Stande, dieselbe zu beantworten. Um aber seinem Kleinen doch ein wenig Licht über die Sache zu verschaffen, sagte er ihm: ›Suche dir unter meinen auf dem Boden liegenden Büchern Euklids fünfzehn Elemente. Dieselben werden dir die nötige Aufklärung bringen.‹ Mit hochschlagendem Herzen eilte der kleine wißbegierige Momsen auf den Boden, bestürmte die Bücherlade und fand den Euklid. Er schlug ihn auf. Doch, o weh, derselbe war eine holländische Übersetzung von Klaas Janß Vooght, also in einer Sprache geschrieben, die Momsen völlig fremd war. Das konnte ihn aber nicht zurückschrecken …« Wiederum tut Hans Momsen das Gleiche wie Hauke Haien. Beide bringen sich selbst Holländisch bei, das in beiden Fällen der Großvater noch beherrschte […]. Beide vertiefen sich in den Euklid. Er ist ihr erster Lehrer, bestimmt ihre geistige Welt. Um diese Zeit mag Hans Momsen zwölf oder dreizehn Jahre alt sein.
[…]
Hans Momsens […] [Schulzeit] ist belegt und entspricht getreulich dem allgemeinen Niveau des damaligen Schulsystems. Irgendein verkrachtes Subjekt, angeblich ein ehemaliger Lakai, ist sein Lehrer. Schon muss er sich über das altkluge Kind Hans Momsen ärgern, das im Rechenunterricht lästige, da logische Fragen stellt. Und dann entdeckt dieser Lehrer auch noch, dass dieser Junge Figuren des Euklid nachgezeichnet hat, statt den Katechismus zu büffeln. Das ist zu viel. Der Lehrer holt zur angemessenen Strafpredigt aus […] Noch zweihundert Jahre nach Kopernikus, ein Jahrhundert nach Kepler und Galilei wird dort gelehrt, die Sonne bewege sich um die Erde, und erst Jahre später ahnt Hans Momsen dumpf, dies könne vielleicht doch nicht stimmen. So ist er denn […] der Autodidakt par excellence. Was ihn interessiert, sind jene Künste, die zwischen Geest und Meer als brotlos gelten […] dass ihm der Junge vielleicht einmal auf der Tasche liegen könne, erschreckt den Vater tief. So reagiert er recht genau wie der Vater Hauke Haiens. Er schickt das schmächtige Bürschchen zur eigentlich für ihn viel zu schweren Deicharbeit hinaus […] »Momsens scharfblickendes Auge erkannte gar bald die Mängel und Fehler, welche man sich im Deichbau zu Schulden kommen ließ. In liebreicher, bescheidener Weise versuchte er seinen Mitarbeitern über diese Wahrnehmungen die Augen zu öffnen; er sagte ihnen, wie sie manches praktischer einrichten und zweckmäßiger ausführen könnten …«
[…]
Momsen steht in seinem dreiundfünfzigsten Lebensjahr. Sein Weg nimmt sich bescheidener aus. Er hat den Beruf des Vaters ergriffen und ist Landmesser geworden. Er geht nach Dithmarschen, arbeitet dort einen Sommer lang. Das bringt gutes Geld. Der Vater atmet auf. Ganz so brotlos sind die Künste seines Sohnes also doch nicht. 1770 stirbt Momme Jensen. Er war Deichrichter und Bevollmächtigter gewesen. Der Sohn übernimmt seine Ämter. 1778 […] weist ihn eine Eintragung im Kirchenbuch als königlichen Landmesser aus. Das ist auch schon der Höhepunkt seiner Deichbau-Karriere. Aber vielleicht will er es gar nicht anders. Denn wenigstens einmal macht ihm ein Mann von Rang und Einfluss, der Graf Reuß […], das Angebot, seine nordfriesischen Besitzungen zu verwalten. Der Graf bemüht sich sogar höchstselbst nach Fahretoft. Momsen, geschmeichelt, lehnt dennoch ab. Er scheint seinen Weg gefunden zu haben: […] »Louk ast, louk west! Innen es best …«. […] Hans Momsen bleibt stets der kleine Mann von Fahretoft. Ein Leben lang schwärmt er von England, damals Inbegriff allen Fortschritts. Die dortigen Fabriken, ihre Maschinen und technischen Neuerungen einmal selbst zu sehen, ist Momsens Traum. Er soll es bleiben. Denn es reicht nur bis zur Reise nach Kopenhagen. […] Und dann kehrt er in seine Welt zurück, ein Weiser vielleicht, sicher aber einer, der sich seinen eigenen kleinen Kosmos zu schaffen weiß, unabhängig von Reichtum und Erfolg. Seine Eltern sind tot. Seine Brüder sterben während ihrer Militärzeit an Tuberkulose. Momsen ist nicht zu den Soldaten eingezogen worden. Er, der schwächlichste von allen, überlebt. Er wohnt nun im elterlichen Haus. Das dazugehörige Land hat er verpachtet. Später eröffnet er noch einen kleinen Kramladen. Von ihm bezieht er seine spärlichen Einkünfte, ein armer Mann, der später Schüler als zahlende Gäste aufnimmt, um einigermaßen bequem leben zu können. Noch der Vierzigjährige ist Junggeselle […]. 1780 heiratet Momsen […] die um zwanzig Jahre jüngere Tochter eines Arbeiters. Momsen hat Glück mit seiner Frau. Ein Eheleben lang schirmt sie ihn gegen alle Unbilden des Daseins ab. Der Mann soll ganz ungestört seinen Neigungen leben können [die leidige Rolle der Frau damals, die "ihm den Rücken frei hält"]. Und so sitzt er denn Tag um Tag an seinem Arbeitstisch in der Wohnstube, denn zu einem eigenen Studierzimmer reicht es im Hause Momsen nicht. Er treibt seine Studien, fast eine Fahretofter Institution […] »Momsen stand sommers und winters um 4 oder 5 Uhr auf und war ununterbrochen fleißig. Wenn die Tagelöhner morgens zu Felde gingen und an seinem Haus vorbeikamen, fanden sie immer den Alten bei der Arbeit; dann nickten sie freundlich hinein und sprachen vielerlei zum Ruhme des Wundermannes. Momsen hatte im Sommer seinen Platz an einem kleinen Tische neben dem Fenster; auf diesem Tische standen ein paar Schränkchen mit mehreren Instrumenten, und immer waren natürlich auch Bücher bei der Hand. Oft las er auch auf dem Bett, besonders im Winter. In dieser Jahreszeit saß er gewöhnlich am Ofen [...]. Einen großen Teil des Tages arbeitete er in einem Hause, welches in seinem Garten lag; da wurden seine künstlichen [= kunsthandwerklichen]  Sachen verfertigt, da wurden sie aufbewahrt, da waren alle Materialien und die meisten Instrumente. Auch sah man da eine Schmiede. In größter Zurückgezogenheit lebte er hier; höchst selten ließ er sich von jemandem, selbst von keinem aus seiner Familie, in diesem Haus auf längere Zeit besuchen; ihm war immer bange, dass durch das Gespräch zu viel Zeit verloren ginge und dass durch die Hereintretenden irgendetwas von seinen Sachen in Unordnung gebracht werden möchte …« […]: ein Grübler und Träumer, ein Mann der Bücher, der sich mit den Jahren eine Bibliothek von über sechshundert Bänden anschafft; einer, der nur gezwungenermaßen das Haus verlässt und sich an seinem Arbeitstisch am wohlsten fühlt; ein Mann des Wortes, der doch nie veröffentlicht wissen will, was er schreibt. Denn er hört noch das Gelächter der anderen, das schon seine ersten Bemühungen begleitet hatte, er misstraut wohl auch seinem eigenen ungelenken Stil. Zumindest hält er ihn selbst für ungelenk: Albträume des Autodidakten, der Momsen sein Leben lang geblieben ist. Er ist unermüdlich in seinem Fleiß, unersättlich in seiner Wissbegierde. Außer dem Holländischen lernt er auch noch Dänisch und Englisch, Französisch und Latein. […] Er liest jede nur erdenkliche Fachliteratur über jedes nur erdenkliche Gebiet, zu Geografie und Geschichte, zu jeder Art von Mathematik, zu Mechanik und Optik, zur Astronomie und Navigationslehre. Er wäre gern Uhrmacher geworden. Das ist sein Traumberuf. Aber er zeichnet auch gern, er ritzt in Kupfer und schneidet in Holz. Er ist Modellbauer und Optiker, Kunstschmied und Mathematiker. Er kann eine Sonnenfinsternis berechnen. Er übersetzt ein Fachbuch für Astronomie. Er baut eine Orgel und schenkt sie der Kirche seines Heimatdorfes.
[…]
Momsen […] hat neun Kinder. Drei sterben schon in den ersten Jahren. […] Nur eines der Kinder, die Tochter Sophia Friederike, scheint etwas vom genialischen Höhenflug des Vaters geerbt zu haben. Sie zeichnet gut, ist eine geschickte Handwerkerin, interessiert sich für Astronomie und stellt dabei erstaunliche Beobachtungen an. Aber, wie es bei Petersen ganz im Geist des 19. Jahrhunderts heißt: »Schade, dass sie ein Mädchen war!« So ist er eine fast tragische Gestalt, dieser wunderliche alte Mann, der in seinen letzten Jahren fast taub wird und dennoch rastlos weiterschafft, wie im Wettlauf mit seinem einzigen Feind, der Zeit. Er hat Schüler. Er zwingt sie, sich ihr Wissen ebenso von Grund auf anzueignen, wie er es selber musste. Sein Ruf macht die Runde. Er empfängt viel Besuch, von Wissenschaftlern ebenso wie von durchreisenden Aristokraten. Er scheint eine Art nordfriesische Sehenswürdigkeit geworden zu sein, die man andächtig und vielleicht auch ein wenig belustigt anstaunt, ohne sie recht zu verstehen. Denn was immer er auch tut, so vieles er schafft, auf wie viel Gebieten er sich auch betätigt: Die eine Leistung, das eine Werk, das nur ihm gehört, das sich für immer an seinen Namen bindet und ihm vielleicht ein wenig Unsterblichkeit bringt, mehr jedenfalls als den Ruf, ein sicher achtenswerter, doch auch etwas seltsamer Sonderling zu sein — ein solches Werk fehlt im Leben dieses Mannes, der schließlich zu Fahretoft am 13. September 1811 stirbt.
[…]
Seine Schriften wurden nach seinem Ende allesamt verbrannt. Er selbst hatte das so verfügt, bis in den Tod hinein von der Furcht verfolgt, doch noch einmal als der im Grunde unwissende, jedenfalls ungebildete Autodidakt ohne akademische Weihen überführt zu werden. Wir wissen also nicht, ob sich unter diesen Schriften vielleicht wichtige Erkenntnisse, bedeutsame Forschungsergebnisse befanden. Der Rest ist mancherlei Kunsthandwerk: ausnehmend schön gearbeitete kleine Globen mit eingebautem Kompass, ein Fernrohr, eine Sonnentaschenuhr, ein lederbeklebter mathematischer Würfel, selbstgeschnittene Lettern, eine Brille mit vielleicht von Momsen selbst geschliffenen Gläsern, Werkzeuge, Rechenstäbe mit seinen Initialen, eine Kupferplatte mit der Darstellung Jesu, ein Kleinsthobel, ein Hämmerchen mit Horngriff … […] Momsens Ruf hat jedoch überlebt. Er ist ›unser‹ Hans Momsen geblieben, populär als der Bauernastronom, der Mann, der es vom Deicharbeiter zum Wissenschaftler brachte, als ein friesischer Bauer und Gelehrter, das »Genie von Fahretoft« schlechthin. Schon um 1800 war über ihn eine erste Publikation erschienen, als ein unbekannt gebliebener Reisender in seinen »Fragmenten aus dem Tagebuch eines Fremden« auch Momsen ein ausführliches Kapitel gewidmet hatte, und der Strom der Erinnerungen an Momsen, der Gedenkartikel und Würdigungen reißt nicht ab.
[...]“

(Quelle: das natürlich vor allem im Hinblick auf empfehlenswerte Buch )