von Pfosten- und von Lückenmenschen

Mut [!] zur Lücke!

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"Wer Ähnlichkeiten zwischen einem Charakter [im folgenden Essay] und sich selbst oder ihm bekannten Menschen zu erkennen glaubt, sei auf den merkwürdigen Mangel an Eigentümlichkeiten verwiesen, der dem Verhalten vieler Zeitgenossen anhaftet. Man müßte die Verhältnisse beschuldigen, weil sie Verhaltensweisen hervorbringen, die man wiedererkennt."

   


„»Ach« , sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.«  - »Du musst nur die Laufrichtung ändern« , sagte die Katze [...]"
(Franz Kafka)

Es gibt - grob eingeteilt - zwei Arten Menschen:

   Der Panther
    Im Jardin des Plantes, Paris
 
    Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
    so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
    Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
    und hinter tausend Stäben keine Welt.
 
    [...]
  
    Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
    sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
    geht durch der Glieder angespannte Stille -
    und hört im Herzen auf zu sein.
  
    (Rainer Maria Rilke)

Wenn Sie zu den Pfostenmenschen gehören, werden Sie am besten (verbeamteteR!) LehrerIn, denn in diesem Beruf treiben sich massenhaft solche Wesen rum

... und genau das sorgt dafür, dass sich in den Schulen so schnell nichts ändern wird.

 


Auf die Frage an einen Chemielehrer, der bei den SchülerInneN gerade wegen seiner gelungenen Vermittlung des Fachlichen sehr angesehen war, was sein "Geheimrezept" sei, antwortete dieser: "Ich habe nie die Lehrpläne gelesen."

... und als diese Anekdote erzählt wurde, brach ein Schrei der Empörung aus: das sei ja eine glatte Aufforderung zum Rechtsbruch!

Oder man denke gar (selbstverständlich voller Grausen!) an Hans-Magnus Enzensbergers Aufforderung an LehrerInnen:

"Sabotieren Sie die Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Kultusminister, wo immer Sie können!"
(zitiert nach Bild )

Kleiner Einschub:

selbstverständlich liegt mir jegliches destruktive Verhalten fern

("Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß. Der destruktive Charakter ist jung und heiter. Denn Zerstören verjüngt, weil es die Spuren unseres eigenen Alters aus dem Weg räumt [...]“.
[Walter Benjamin]):

Mal ernsthaft: natürlich muss man auf die Pfosten achten, um nicht gegen sie zu laufen und sich dabei nur den eigenen Kopf einzurammen.

(Merke: insbesondere bürokratische Pfosten sind aus Urgestein!)

Oder anders gesagt: man muss gewisse Regeln einhalten - und in jedem Beruf gewisse Kompromisse machen

(was eben nicht heißt, dass man da schon seine Seele verkauft).

Ich kann mich beispielsweise im Lehrerberuf

(wenn ich denn Lehrer bleiben möchte)

nicht einfach weigern, Klassenarbeiten schreiben zu lassen und Zeugnisnoten zu vergeben

(obwohl ich beides - zumindest in der derzeitigen Form - für oftmals kontraproduktiv halte).


  "Warum kümmerst du dich um den Splitter im Auge deines Bruders oder deiner Schwester
  und bemerkst nicht den Pfosten in deinem eigenen?"
  (frei nach Lukas, 6, 41)

Ein Beispiel für Pfosten und Lücken:

Im neuen Kernlehrplan Deutsch für das Gymnasium – Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen werden "nur" noch zu erreichende "Kompetenzen", nicht aber irgendwelche Inhalte (Texte, Bücher ...) vorgegeben. Und dann folgt diese Passage:

"Der Kernlehrplan bildet einerseits die verpflichtende Grundlage für die überarbeitung der schuleigenen Lehrpläne. Andererseits eröffnet er Lehrerinnen und Lehrern weitgehende Freiheiten für die inhaltliche, thematische und methodische Gestaltung von Unterrichtsabläufen. Hier können die Lehrkräfte Schwerpunkte setzen, thematische Vertiefungen und Erweiterungen vornehmen und dabei die Bedingungen der eigenen Schule und der jeweiligen Lerngruppe berücksichtigen."

(Nebenbei: von den schuleigenen Lehrplänen ist im Kernlehrplan ansonsten nie wieder die Rede.)

Der Pfostenmensch liest da nur die rote (kürzere) Passage, der Lückenmensch hingegen labt sich an der grünen (längeren) Passage.

Der Pfostenmensch hört da nur raus: Wir müssen jetzt

  1. mindestens zehn Fachkonferenzen abhalten und

  2. zu jeder einzelnen im Kernlehrplan genannten Kompetenz einen Inhalt festlegen (die Kompetenzen "implementieren") und den dann natürlich für alle KollegInnEn und alle Zeiten verbindlich machen

(... und so setzen sich nun hunderte von Fachkonferenzen zu mühsamster Arbeit zusammen und erfinden alle jeweils das Rad neu).

Der Lückenmensch hört da hingegen raus:

  1. werden im Kernlehrplan ganz bewusst nur (zu vermittelnde und oftmals ja sogar sinnvolle) Kompetenzen vorgeschrieben,

  2. herrschen bei den Inhalten alle Freiheiten dieser Welt,

  3. betont der Kernlehrplan in der grünen Passage ja bewusst die Freiheiten jenseits der "Kompetenzen-Obligatorik".

Und deshalb folgert der Lückenmensch:

  1. werden wir den Teufel tun, uns inhaltlich festzulegen, sondern in der Fachschaft "höchstens" - und das ist ja durchaus sinnvoll! - überlegen (uns da aber auch nicht festlegen), wie die Kompetenzen methodisch vermittelt werden können;

  2. machen wir uns ansonsten aber die "Implementierung" des Kernlehrplans in den schuleigenen Lehrplan einfach und legen nur fest:

"Der schuleigene Lehrplan ist identisch mit dem Kernlehrplan".

(Ein Problem ist nun aber die Schulbürokratie: weil Lehrpläne oftmals so unklar zwischen Freiraum und Obligatorik unterscheiden [so pseudo-windelweich sind?], erhebt die Bürokratie im Zweifelsfall alles Unklare immer doch zur Obligatorik.)


Nun gibt es noch zwei Untergruppen der Pfostenmenschen:

("Schlag' mich, hau' mich, beiß´ mich")

bzw. meint: "Regeln müssen sein - egal welche".

In beiden Fällen werden die gegebenen Regeln

(und seien sie noch so kontraproduktiv bis geradezu blödsinnig)

niemals diskutiert, was ja immerhin realistisch ist, denn wann wurden PraktikerInnen jemals in die Regelfindung einbezogen?


Der durchschnittliche Pfostenmensch stirbt vor Angst, dass er wegen Nicht- oder Halberfüllung einer der vielen Regeln "hingerichtet" werden könnte

(wen beängstigt die Vorstellung nicht?: ein Einlauf von der Schulleitung und Schulaufsicht oder gar ein Widerspruchsverfahren),

und deshalb hält er die Regeln sklavisch ein, vor denen er gebannt wie das Kaninchen vor der Schlange sitzt

(die Alternative bestünde darin, die Regeln zwar pro forma einzuhalten [Dienst nach Vorschrift], aber doch möglichst weit auszulegen; und Deutschlehrer sollten gut im Interpretieren sein :-).


Nun geht der Ehrgeiz des "richtigen" Pfostenmenschen aber weit über die Erfüllung der vorhandenen Regeln hinaus. Wo keine Regeln sind, führt er zusätzlich weitere ein

(wie viele Lehrer- und Fachkonferenzen haben sich schon weit über die bestehenden Regeln hinaus selbst gefesselt!).

Der typische Pfostenmensch braucht ein lückenloses Gitter, an dem er entlang hangeln kann, und am liebsten wäre ihm, was Margot Honecker als Volks"bildungs"ministerin in der ehemaligen DDR gemacht hat: eine Reglementierung jeder einzelnen Unterrichtsstunde und damit der gesamten Schulzeit.

Hauptgrund für die Regelungsgeilheit ist (neben überarbeitung) Phantasielosigkeit: wem selbst nichts einfällt, der braucht (angeblich qualifiziertere) andere Leute, die ihm permanent sagen, wo's langgeht.

Und ohne Schulbücher, die ihm sagen, was zu tun ist, kann der Pfostenmensch eh nicht. Gegenüber den SchülerInneN heißt es dann nur: "Buch auf S. 17 aufschlagen, Text bzw. Aufgaben lesen und dann alle abgedruckten Fragen beantworten bzw. alle Aufgaben rechnen!"


 

"Vernünfttig ist in dieser Situation [der Unklarheit, ob und wie die Rechtschreibereform verbindlich wird] nur eines: Die Lehrer müssen den Mut aufbringen, die Übergangsfrist von sich aus zu verlängern - stillschweigend, ein jeder in seinem Klassenzimmer, mit Umsicht und ohne Getöse [...]"
(Neue Zürcher Zeitung, 31.7.05)

... wobei ich ja gar keineswegs gegen die Rechtschreibereform bin.

Des weiteren zeichnet sich der typische Pfostenmensch durch vorauseilenden Gehorsam aus: da ist beispielsweise die neue Rechtschreibung noch gar nicht endgültig beschlossen, da kauft er schon den neuen Duden und unterrichtet die neue Rechtschreibung feste drauflos.

Zumindest aber wird der Pfostenmensch bei einer neuen Regelung sofort panisch hyperaktiv, statt erst mal

(auch die Vorarbeiten und [oft schlechten] Erfahrungen anderer)

abzuwarten:

"Was du heute kannst besorgen, das verschiebe schön auf morgen."

(Vgl. etwa seinerzeit die "Profilbildung" in der Oberstufe, die dann irgendwann vom Kultusministerium sang- und klanglos abgeblasen wurde.)


Wen wundert's: bei der Erziehung durch Pfostenmenschen kommen natürlich meist wieder Pfostenmenschen raus.