scheiß Zensuren

(was für eine merkwürdige und dennoch geradezu typische Doppelbotschaft:

 

Zen|sur die; -, -en: 1. Amt des Zensors (1). 2. behördliche Prüfung u. gegebenenfalls Verbot von Büchern, Theaterstücken u. ä. 3. a) kirchliche Prüfung religiöser Literatur von katholischen Verfassern; b) Verwerfung einer theologischen Lehrmeinung (kath. Kirchenrecht). 4. Note, Bewertung einer Leistung. 5. Kontrollinstanz der Persönlichkeit an der Grenze zwischen Bewußtem u. Unbewußtem, die Wünsche u. Triebregungen kontrolliert u. reguliert (Psychoanalyse).
© Dudenverlag

Einige Vorbemerkungen:

   0.  Keine Frage, dass gute oder - vielleicht sogar noch besser: - aufsteigende Zensuren auch
        motivierend wirken können, und zwar insbesondere dann, wenn viele Jugendliche vor
        allem eben doch "extrinsisch" motiviert sind, also äußere Anerkennung suchen.

(Wie fatal muss es aber im Gegenzug fürs Selbstbewusstsein sein, wenn jemand andauernd schlechte Zensuren einfährt oder immer gefährdet ist, "sitzen zu bleiben".)

  1. Ich bin mir durchaus bewusst, dass, was ich hier schreibe, vielleicht sogar gefährlich ist: ach herrje, SchülerInnen könnten aus dem Internet erfahren, dass sogar ein Lehrer Zensuren

ernst nimmt.

(Nebenbei: ich meine keineswegs den "Trost der Dummen" [?], dass Schulnoten wenig über den späteren "Erfolg im Leben" aussagen: etwa das Buch lässt vielmehr vermuten, dass diejenigen, die gute Schulnoten hatten, meist auch nach der Schule besonders "erfolgreich" sind. Ausnahmen bestätigen die Regel.)

  1. Damit hier kein falscher Eindruck aufkommt:

("Schade", sagte der Henker, als der Kopf gerade ab war;
und überhaupt schreibe ich ja vor allem für LehrerInnen, die sich zufällig auf diese Internetseiten verirren);

  1. "Ein bisschen schwanger gibt es nicht", oder auf LehrerInnen übertragen: wer LehrerIn wird/ist, muss notgedrungen

(wie jedeR andere Berufstätige auch)

teilweise im "System" mitmachen - also Zensuren vergeben: eine Erkenntnis, die von ewigen Skrupeln befreit, aber dennoch noch lange nicht bedeutet, dass man sich nun völlig verbiegt.

  1. Schulzensuren/-noten sollten zweifelsohne pädagogisch wohlüberlegt, mehrfach begründet und gerecht sein

(also z.B. in dem Sinne "ohne Ansehen der Person" vergeben werden, dass da, so weit irgend möglich, keine persönliche Sym- oder Antipathie eingeht;
und schon sind wir beim Problem: einE LehrerIn, die/der behauptet,  alle SchülerInnen gleichermaßen zu mögen, lügt sich nur etwas in die Tasche; die Frage kann nur lauten, ob man sich das Ungleichgewicht der Sympathie weitestmöglich bewusst macht und wie man damit umgeht).

Schulzensuren sollten also so objektiv wie möglich sein. Aber vollständige Objektivität

(d.h. auch der derzeit massiv wiederkehrende Messbarkeits- und ranking-Wahn)

ist ein regelrecht gefährlicher Mythos

(und völlig unpädagogisch gedacht):

LehrerInnen, denen bei jeder Notenvergabe nicht immerhin ein wenig unwohl ist, sind schlechte LehrerInnen, nämlich einfach nur Zensurmaschinen.

Für mich

(und, wie ich weiß, so einige KollegInnEn)

ist der Tag der Notenbekanntgabe der elendste im ganzen Schulhalbjahr, und zwar völlig unabhängig davon, ob da (einige) SchülerInnen laut meckern

(sich ungerecht behandelt fühlen oder vielleicht sogar tatsächlich ungerecht behandelt wurden)

oder nicht.

  1. Eigentlich zu blöd, es noch zu erwähnen: all das ist kein Eingeständnis, dass die vielen Zensuren, die ich als Lehrer vergebe

(vergeben muss),

höchst zweifelhaft sind.


Dafür, wie geradezu anti-pädagogisch Schulzensuren sein können

(immer sind?),

nur ein Beispiel, nämlich die Bewertung von "Literaturkursen" in der Oberstufe

(also "richtige", d.h. auch notgedrungen benotete Grundkurse und nicht notenfreie AGs),

in denen ein Theaterstück geprobt und aufgeführt wird

(ein weiteres mögliches Beispiel wären die "Facharbeiten", die ich gerne in zehnten Klassen schreiben lasse und bei denen oftmals auch ein unbändiger Stolz am Ende doch wieder durch Noten vernichtet wird).

Solche Theaterkurse sind als "Selbsterfahrung" enorm wichtig für SchülerInnen. Von was werden sie denn 20 Jahre später noch sprechen?: doch wohl kaum von Mathematikkursen, aber allemal von solchen eigenen Theater-Erfahrungen:

"Selbsterfahrung" hat es nicht nötig,

(gegen "richtige" Schulfächer)

pädagogisch verteidigt zu werden

(wie ja auch der Stundenausfall zugunsten von nicht direkt Fachlichem manchmal höchst sinnvoll sein kann!).

Aber in solchen Theaterkursen lernen SchülerInnen durchaus

(und ich möchte fast behaupten: mehr als oftmals im normalen Fachunterricht)

auch ansonsten, ja teilweise sogar "fachlich" Wichtiges:

(im "Normalunterricht")

"graue Mäuschen" urplötzlich aufblühen und ungeahnte Fähigkeiten offenbaren bzw. entwickeln.

Und das alles bemerkenswerterweise

(wiederum: anders als meistens im "Normalunterricht")

meist ohne jeglichen (auch Noten-!)Druck durch die Lehrkraft, sondern "aus der Sache heraus", d.h.

(man möchte sich und andere nicht [meist vor der "Schulgemeinde", also insbesondere Freunden und Eltern] blamieren),

Bzw. die Autorität des Lehrers ist völlig verlagert: er ist

(wie wir noch sehen werden: eine beidseitig üble Täuschung!)

nicht mehr der Notengeber, sondern der Regisseur.

All das führt zu einem ganz ungewöhnlich angenehmen "Arbeitsklima" in solchen Literaturkursen:

Nun ist dieses angenehme "Arbeitsklima" letztlich aber eine üble Täuschung, und zwar beider Seiten, also sowohl der SchülerInnen als auch des Lehrers:

(wichtig: ein persönlicher, aber auch ein Kollektivstolz, der sogar Aussetzer einzelner SchauspielerInnen übertüncht!),

die (individuelle) Notenbekanntgabe, die für so einige SchülerInnen all diesen Stolz wieder in den Dreck zieht und von ihnen als ein Vertrauensbruch durch den Lehrer empfunden wird.

In die Note geht dann beispielsweise ein:

(deren Benotung äußerst schwer zu vermitteln ist, und zwar auch deshalb, weil sie enorm schnell als Bewertung der Person ankommt),

(womit insbesondere auch diejenigen gewürdigt werden, die zwar [bislang] nicht gerade "große" Schauspieler sind, sich aber immerhin doch merklich weiter entwickelt haben;
anders gesagt: es zählt nicht nur das Können, sondern auch das Wollen),

(ist jemand vielleicht zwar schauspielerisch gut, aber doch eben eine "Rampensau" auf Kosten anderer; oder ist er nur in seiner Rolle gut, tut aber rein gar nichts für das Gesamtgelingen der Aufführung?),

(z.B. Teilgruppentreffen)

(Das hier verhandelte Problem liegt also keineswegs darin begründet, dass [individuelle] Leistungen in Literaturkursen gar nicht bewertbar wären.)

Weil nun aber bei fast allen SchülerInneN zumindest in Teilbereichen echtes, in der Schule geradezu ungewöhnliches Engagement deutlich wird, gibt´s in solchen Kursen kaum jemals schlechtere Zensuren (befriedigend und tiefer).

(... was sich beispielsweise bestens gegenüber dem Notenausfall in Mathematik-Klausuren verteidigen [!] lässt.)

Paradoxerweise fängt mit diesen guten Zensuren

(für viele SchülerInnen allemal die besten, die sie jemals in der Oberstufe erhalten)

das Problem aber oftmals überhaupt erst an: regelmäßig fangen dann einige SchülerInnen an zu feilschen, um beispielsweise statt "gut" doch ein "gut (p)" zu bekommen.

Nun werde ich zwar einerseits nie gewisse SchülerInnen verstehen, die immer

(nicht nur in Literaturkursen)

um Zensuren feilschen

(zumindest solange es nicht um das untere Ende der Zensurenskala, also ums "Sitzenbleiben" geht;
mir war´s - meiner Erinnerung nach - immer herzhaft egal, ob ich ein "gut" oder doch ein "gut (p)" bekam, und selbst einem "sehr gut" bin ich niemals hinterher gerannt).

Und dennoch kann ich  im Fach Literatur solche feilschenden SchülerInnen gut verstehen:

(wie teilweise auch in Facharbeiten, solange da - hübsch hinter Computerlayout verborgen - nicht nur irgendwas unverstanden abgeschrieben und zusammengestoppelt wurde)

enorm engagiert

(oftmals erheblich mehr als im "Normalunterricht"),

Geradezu gemein ist das auch deshalb, weil

(fast am wichtigsten in solchen Kursen - und ganz im Gegensatz zum meisten üblichen Unterricht)

die Kollektivleistung und damit das Gemeinschaftserlebnis bei der Notenvergabe dann doch wieder filettiert wird.


Nebenbei: man kann auf den unvermeidbaren End-Effekt der Benotung vorher noch so oft hinweisen: er tritt dennoch regelmäßig ein.


PS:

Ich bin der festen Überzeugung, dass die hier anhand des (scheinbaren) Sonderfalls "Literaturkurs" gezeigte Zensurenproblematik im Prinzip für alle Fächer zutrifft, bzw. die anderen Fächer könnten eine Menge vom Fach "Literatur" lernen

(so wäre ich beispielsweise dafür, einen nicht geringen Teil des üblichen Deutschunterrichts durch Literaturaufführungen zu ersetzen).