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In der Schule hat man ihr gesagt, es sei wichtig,
Zusammenhänge zu verstehen - dann kam unsere Autorin an die Universität.
Ein Brief an den Lehrer von einst
Sehr geehrter Herr Bode,
dreieinhalb
Jahre ist es nun her, dass Sie mein Lehrer in Geschichte und Deutsch
waren. In der Zwischenzeit habe ich ein komplettes Bachelor-Studium
absolviert. Ich sehe gerade vor meinem inneren Auge, wie Sie dieses Wort
höhnisch als Bätschler ausspucken. Ihr Bart bebt dabei vor Lachen. Aber
wissen Sie, man hat da heute ja nicht mehr die Wahl. Auch wenn das
Diplom in manchen Bundesländern wieder eingeführt werden soll, mir
persönlich hilft das nicht mehr. Ich bin schon durch mit der ganzen
Sache.
Ich erinnere mich, wie ich Sie mit dreizehn Jahren das
erste Mal als Lehrer bekam. Sie wurden vorgestellt als der neue junge
Kollege. Und kaum war unsere alte, konservative Lehrerin aus der Tür
gegangen, machten Sie uns erst einmal ein paar Dinge klar. Sie sagten,
dass hier nicht jeder das Abitur schaffen könne. Denn auch wenn Sie
Fleiß belohnen würden, so sei es doch das eigene Denken, das am Ende
zählen würde. Ein Tuscheln ging durch die Klasse. Doch schon kurz danach
fand ich Fabian aus der zweiten Reihe wieder interessanter. Und das Abi
war damals ja auch noch weit entfernt. Ich hatte dann nahezu jedes
Schuljahr bis zum Abitur das Vergnügen mit Ihnen. Das Wort
T-R-A-N-S-F-E-R schlugen Sie uns täglich um die Ohren. Am Anfang waren
alle froh, als Sie im Geschichtsunterricht ankündigten, keinen Wert auf
Jahreszahlen zu legen. Stattdessen ginge es um die größeren
Zusammenhänge. Dementsprechend schlecht fielen die ersten Arbeiten bei
Ihnen aus. Ein Großteil von uns Schülern hat Ihre Ansprüche später
allein aus ökonomischen Aspekten akzeptiert: Auf Transferaufgaben gab es
immer die doppelte Punktzahl. Wissensaufgaben wurden hingegen einfach
bewertet. Vielleicht gehöre ich damit zu einer Minderheit, aber mir
gefielen ihre Lehrmethoden. Spätestens in der Oberstufe fruchtete ihr
Werk und ich schaute auch mal über den Tellerrand hinaus. Vielleicht,
weil ich auch die Erniedrigung nicht mehr ertragen konnte, wenn sich mal
wieder niemand auf Ihre Frage meldete, was das Thema der aktuellen
Nahost-Verhandlungen sei. So jedenfalls begann ich zu lesen.
Nun
tut es mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, Herr Bode. Aber leider muss
ich Ihnen mitteilen, dass Sie uns völlig falsch aufs Studium
vorbereitet haben. Es scheinen nämlich doch die Jahreszahlen zu sein,
die Aufschluss über unsere Intelligenz geben. Nicht die
Transferleistung. Wie ich zu diesem Fazit komme? Begründe argumentativ!
würden Sie sagen. Das werde ich gerne tun. Ich bitte Sie, sich einmal
meine Anfänge im Kommunikationswissenschaftsstudium vorzustellen: Am
ersten Tag erzählte mir ein höherer Semester stolz, er habe noch nie im
Studium ein Buch lesen müssen. Meine Kommilitonen jubelten. Ich war kurz
ernüchtert und fragte mich, was das denn für ein Studium sein sollte,
ganz ohne Bücher? Aber sicher war der Typ einfach nicht sehr ehrgeizig.
Auf die erste Prüfungsphase bereitete ich mich vor, wie ich es in der
Schule gelernt hatte: Ich besorgte mir Literatur und verfolgte das
Zeitgeschehen (schließlich studierte ich was mit Medien). Zwar fand ich
acht Prüfungen in drei Wochen heftig, aber ein Studium soll ja auch
anspruchsvoller sein als die Schule. Umso überraschter war ich von den
Prüfungen und von meinen Noten. Wo ist denn die Eigenleistung, wenn ich
fünf Theorien nenne und erläutere? Und warum waren meine Noten trotzdem
so schlecht? Ratlos ging ich in die Klausureneinsichten, fand aber keine
inhaltlichen Fehler. Irgendwann erbarmte sich eine Dozentin und
erklärte mir mit einem strengen Blick über ihre halbmondförmigen
Brillengläser: Wissen Sie, was Sie da schreiben . . . das mag ja
inhaltlich richtig sein. Aber es ist nun mal nicht mein Wortlaut. Sie
entließ mich völlig perplex mit einem zuckersüßen Lächeln. Ich wollte
zuerst Frau Schavan persönlich darüber informieren, was für ein Unding
da gerade in der deutschen Universität geschieht. Aber ich musste
ziemlich schnell einsehen, dass ich kein Einzelfall war. Egal ob
Hannover oder Heidelberg, überall kämpfen Studenten mit derartigen
Problemen. Viele gingen deswegen demonstrieren.
In
den besten Fällen gibt es einsichtige Professoren, die dafür
Verständnis haben, die sich auch nach den alten Zeiten zurücksehnen. In
jenen Zeiten hat ihnen niemand vorgeschrieben, dass sie alles Wissen nur
noch mit sechzigminütigen schriftlichen Prüfungen abfragen dürfen.
Lernbulimie nennt man das friss alles Wissen in dich hinein und spuck es
dann auf Befehl wieder aus. Aber es gibt Fälle, in denen dieses System
für die Lehrenden bequem ist. Nehmen wir an, ein Professor hat 1000
Studenten in seiner Vorlesung, in der eigentlich nur für 600 Platz
ist. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Professor in diesem
Umfeld über die Auslöser der Weltwirtschaftskrise diskutieren möchte?
Viel einfacher ist es da doch, die volkswirtschaftlichen Theorien nach
Keynes schriftlich runterleiern zu lassen. Lieber Herr Bode, Sie haben
Recht. Ich bin aufgebracht und subjektiv. Dabei schwimme ich
mittlerweile selbst in diesem System mit. Irgendwann im dritten Semester
habe ich einfach kapituliert. Der Dozent hatte zwar angekündigt, dass
die Prüfungen an seinem Lehrstuhl anders seien. Für diese Prüfungen
könne man nicht einfach nur stumpf auswendig lernen. Als ich dann in der
Klausur das dritte Schaubild eins zu eins wie das Original beschriften
musste, habe ich aufgegeben. Ich habe einfach kein Buch mehr in die Hand
genommen, sondern 200 Folien in mein Kurzzeitgedächtnis geprügelt. Ich
habe sogar ein halbes Jahr im Ausland verbracht und danach alle
Prüfungen mitgeschrieben, ohne je die Vorlesung betreten zu haben! Das
war ganz einfach, ich musste ja nur ein Skript auswendig lernen. Meine
Noten waren in jenem Semester gut wie nie zuvor. Meine Angst, wegen
schlechter Noten keinen Platz im Masterstudium zu bekommen, war am Ende
wohl doch größer als der Wille, dem System zu trotzen.
Erinnern
Sie sich noch, als wir in der Schule Theater gespielt haben? Es ging um
einen Bombenangriff auf Berlin, wir sollten uns vorstellen, in einem
Luftschutzbunker zu sitzen. Das war nicht im Lehrplan vorgeschrieben und
die meisten fanden die Schüler, die daran mitwirkten, eher peinlich.
Ich habe danach das erste Mal mit meinen Großeltern darüber geredet, wie
es denn für sie war, damals im Krieg. Ich habe angefangen Kästner,
Brecht und Tucholsky zu lesen, um zu wissen, wie Kritiker über diese
Zeit berichtet haben. Dazu hatte mich niemand gezwungen, es passierte
freiwillig, weil Sie, Herr Bode, mich motivieren konnten. Für die
kommenden Schülergenerationen muss ich Ihnen allerdings einen Rat geben:
Nehmen Sie Abstand von Ihrem Bildungsideal. Lehren Sie nur das
Vorgeschriebene und schwören Sie die Kinder möglichst früh darauf ein,
nichts mehr zu hinterfragen. Das ist sowieso eher lästig und obendrauf
noch anstrengend. Wenn Sie trotz alledem noch Theater spielen wollen,
dann lassen Sie die Schüler zumindest das komplette Drama auswendig
lernen. Notfalls auch häppchenweise in Form von Foliensätzen zum
Beispiel. Das soll einen nachhaltigen Lerneffekt haben.
Mit freundlichen Grüßen,
Ihre Charlotte Haunhorst
(Muss man es überhaupt noch erwähnen, dass
dieser Brief den ehemaligen Lehrer eher lobt als kritisiert
- und dass die Ex-Schülerin eine Menge bei ihm gelernt hat? Nur
der "Spiegel" - und mit ihm ein Großteil seiner Leser im
"Forum" - hat das [wieder mal] nicht begriffen und schreibt
: "Im Jugendmagazin »jetzt.de« rechnet sie mit Herrn Bode ab.")
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