voreilige Antworten in Frage stellen

Bild ?

 

"Wenn SchülerInnen und Schüler in den Unterricht hineinkommen, so haben sie in der Regel bereits in vielfältigen Alltagserfahrungen tief verankerte Vorstellungen zu den Begriffen und Phänomenen und Prinzipien entwickelt, um die es im Unterricht gehen soll. Die meisten dieser Vorstellungen stimmen mit den zu lernenden wissenschaftlichen Vorstellungen nicht überein. Hier liegt eine Ursache vieler Lernschwierigkeiten. Die Alltagsvorstellungen bestimmen das Lernen, weil die SchülerInnen und Schüler das Neue nur durch die Brille des ihnen bereits Bekannten »sehen« können. Sie verstehen häufig gar nicht, was sie im Unterricht hören oder sehen und was sie im Lehrbuch lesen. Lernen [...] bedeutet, Wissen auf der Basis der vorhandenen Vorstellungen aktiv aufzubauen. Der Unterricht muß also an den Vorstellungen der SchülerInnen und Schüler anknüpfen und ihre Eigenaktivitäten fordern und fördern. Er muß darüber hinaus für die wissenschaftliche Sicht werben, d.h. die Schüler davon überzeugen, daß diese Sicht fruchtbare neue Einsichten bietet."
(Reinders Duit in Bild )

Einerseits suchen Jugendliche spätestens in der Pubertät

(dieser äußerst schmerzhaften, aber zu 100 % heilbaren Krankheit, die vieles erklärt, aber nichts entschuldigt)

zwecks Herausbildung ihrer Individualität(en) klare Positionen und Rollen

(z.B. "gilt" dann nur eine Musikrichtung, und alles andere wird verdammt),

brauchen sie also Sicherheiten und darf Schule diese nicht leichtfertig untergraben.

Andererseits:

eine gute Schule bestünde geradezu darin, andauernd fast schon anarchistisch die Sicherheiten zu untergraben:

"how can you be so sure?"

und das keineswegs nur aus ideologischen, sondern auch aus rein "wissenschaftlichen" Gründen:

(Nebenbei: es widerspricht sich keineswegs, einerseits nach den Einseitigkeiten und Gefahren solcher Rationalität zu suchen und andererseits dennoch an sie [oder aufgeklärte Rationalität; was immer das sei] zu "glauben".)

Gerade die Naturwissenschaften sind Kronzeuge dafür, dass die vorschnellen Antworten  oftmals nicht richtig liegen. Nur ein Beispiel:

entgegen aller alltäglichen Erfahrung dreht sich nicht die Sonne um die Erde, sondern die Erde um die Sonne

(wobei ich hier die - ebenfalls in Schule zu vermittelnde - eingeschränkte Bedeutung von Theorien mal weglasse).

Das Beispiel zeigt nicht bloß eine Ausnahme (einen "Schönheitsfehler"), sondern geradezu eine spezifische Eigenart der Naturwissenschaften: der Schein trügt oftmals, der "gesunde Menschenverstand" liegt leider oftmals falsch, und Wissenschaft ist Um-die-Ecke-Denken - und Abstraktion (vom ersten Eindruck):

Bild vgl. auch Bild

Auf "Geisteswissenschaften" übertragen:

vorschnelle und einseitige Ansichten bzw. Maßnahmen berücksichtigen oftmals nicht

und führen damit oftmals zum Gegenteil des anfangs Beabsichtigten.


Keine Ahnung, wie man die Lust (!) daran, voreilige Antworten in Frage zu stellen, vermittelt (vorlebt?!).

Bzw. hier nur zwei erste Antworten:

Bild Bild

oder beispielsweise Bild

oder Bild


Das übliche Bild von Schule ist, dass sie den SchülerInnen Neues, ihnen bis dahin Unbekanntes bei(!)bringt. Was darüber aber meist vergessen bzw. ignoriert wird, ist, dass sie schon Vieles mit(!)bringen, nämlich


Das sagt sich so einfach (und gerne überheblich): "voreilige Antworten in Frage stellen": wir alle (also auch LehrerInnen) haben unsere biografisch und historisch bedingten "Denkraster", aus denen wir nur schwerlich (wenn überhaupt) heraus können:

"Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein."

(Und dennoch erleben wir SchülerInnen oftmals als "festgefahren", uns selbst aber als "unheimlich offen" - und verbitten es uns "von Amts wegen" [trauen es uns aus Angst vor Autoritätsverlust nicht], uns von SchülerInneN in Frage stellen zu lassen.)

Ja sogar die wirklich großen "Denk-Revolutionäre" hatten bei der Überwindung ihrer Denkmuster ihre lieben Schwierigkeiten (vgl. Bild ).

Vielleicht ist nicht mehr erreichbar, also eine gewisse Bereitschaft zum "Hinterfragen" vermeintlicher Sicherheiten - gemischt mit andauernder Neugierde.


Ein hübsches (keineswegs neues) Mittel, um gute pädagogische Ideen tot zu reiten, besteht darin, sie phasenweise als Patentrezept zu "verkaufen", also modisch zu überreizen. Heute ist das beispielsweise beim "Stationenlernen" der Fall - und vor einigen Jahren lief das so mit dem "problemorientierten Unterricht" und den "kognitiven Konflikten":

Definition und Variablen der kognitiven Dissonanz

Damit kognitive Dissonanzen, die einen Lernprozess anbahnen und fördern, konstruiert werden können, scheint es sinnvoll, folgende Definitionen zu nennen:

  • Zwei kognitive Elemente sind dissonant, wenn das Gegenteil des einen Elementes aus dem anderen folgen würde.
  • Ein kognitiver Konflikt tritt auf, wenn zwei gleich gefestigte, einander gegenseitig ausschließende kognitive Schemata gleichzeitig wirksam werden.

Im Wesentlichen lassen sich folgende didaktisch zu nutzende Formen kognitiver Konflikte unterscheiden.

  • Zweifel
    Konflikt zwischen der Tendenz zu glauben und nicht zu glauben.
  • Ungewissheit
    Mehrere einander ausschließende Möglichkeiten sind gleichermaßen wahrscheinlich.
  • Überraschung
    Ein beobachtetes Phänomen widerspricht den bisherigen Kenntnissen und Erwartungen.
  • Inkongruenz
    Zwei bisher als sicher geltende Überzeugungen werden so zueinander in Beziehung gesetzt, dass sie sich einander gegenseitig ausschließen müssten.
  • Irrelevanz
    Konfrontation mit kognitiven Einheiten, die scheinbar nicht zu den übrigen der gesamten Sequenz gehören.
  • Widerspruch
    Schließen zwei Behauptungen einander aus, so können nicht gleichzeitig wahr sein.
  • Mehrdeutigkeit
    Ein einzelnes Element kann mit gleicher Wahrscheinlichkeit in verschiedener Form gedeutet werden.

(zitiert nach Bild )

Andauernd wurden die SchülerInnen in (oftmals an den Haaren herbeigezogenen) "kognitive Konflikte" getrieben, bis sie vollends gaga waren, und "ihre" Konflikte wurden es in den allerwenigsten Fällen.

Und dennoch ist und bleibt der "kognitive Konflikt" noch immer das beste Mittel, um die SchülerInnen dazu zu "verführen", voreilige Antworten in Frage zu stellen.

Nur woher all die "kognitiven Konflikte" nehmen?

Kommt hinzu, dass "kognitive Konflikte"

  1. oftmals besserwisserisch sind ("ich, der Lehrer, weiß es besser")

(obwohl doch erste Schülererklärungen oftmals auch richtig sind; beispielsweise ist es an den Polen der Erde auch deshalb kälter als am äquator, weil sie weiter von der Sonne entfernt sind, nur ist dieser Effekt marginal),

  1. in den "Geisteswissenschaften" oftmals vor lauter Moral triefen ("ihr denkt falsch - und schlecht"),

  2. wiederum in den "Geisteswissenschaften" oftmals schizophren "gelöst" werden ("der Achmed von der Dönerbude umme Ecke ist ja ganz nett - aber ansonsten: Türken raus!")


Ich sagte oben erstens, Schule dürfe Sicherheiten (an denen Jugendliche Halt finden) nicht leichtfertig untergraben. D.h. sie darf SchülerInnen nicht bloß einsam zwischen den Trümmern des "Dekonstrukierten" stehen lassen, sondern muss gleichzeitig auch

  1. (ohne genauere Erklärung:) lebenswerte Sicherheiten bieten; oder besser noch: sie müssen vorgelebt werden,

  2. Freude am Auflösen vermeintlicher Sicherheiten "beibringen", so dass dieses Auflösen als Befreiung von Dogmatismus empfunden wird:

Bild

Und zweitens sagte ich oben in einer Mischung aus Konjunktiv potentialis/optativ/irrealis, Schule "bestünde" geradezu darin, Sicherheiten zu untergraben: mir scheint eher, dass sie im Regelfall das glatte Gegenteil tut, nämlich scheinbare (unverstandene) Sicherheiten verfestigt.