zweckfreie Forschung und Bildung
oder ein für alle mal:
Schule ist keine Wirtschaft!
"So ein Gänseblümchen, „... der Mensch spielt nur, "Wir fragen ja auch nicht,
welchen Nutzen sich das Vöglein vom Singen erhofft. Wir wissen, Singen
ist ihm eben eine Lust, weil es zum Singen geschaffen ist. Ebenso
dürfen wir nicht fragen, warum der menschliche Geist so viel Mühe
aufwendet, um die [astronomischen] Geheimnisse des Himmels zu
erforschen. Unser Bildner hat zu den Sinnen den Geist gefügt, nicht
bloß damit der Mensch seinen Lebensunterhalt erwerbe [...], sondern
auch dazu, dass wir vom Sein der Dinge, die wir mit Augen betrachten,
zu den Ursachen ihres Seins und Werdens vordringen, wenn auch weiter
kein Nutzen damit verbunden ist." |
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freie Künste |
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"Wenn der Organismus dies oder
jenes gelernt hat, dann ist sein Verhalten der Umgebung angepaßt, d. h.
dann hat er eine bessere Überlebenschance. [...] [Das Lernen] basiert
[...] darauf, daß Input-Output-Beziehungen immer wieder durchgespielt
werden und die Synapsenverbindungen im Netzwerk sich langsam so
verändern, daß der richtige Output mit immer größerer
Wahrscheinlichkeit hervorgebracht wird. |
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Ich weiß auch: Geschichte wiederholt sich nie identisch, und deshalb können Erfahrungen aus der Vergangenheit niemals Patentrezepte sein. Aus dem Buch habe ich nur zwei ungemein aktuell wirkende Thesen dazu behalten, weshalb das römische Reich untergegangen sei:
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Ich weiß auch:
Die völlige Zweckfreiheit ist also eine schlichte (naive) Utopie. |
Keine Ahnung, ob's stimmt:
"Zu den kulturellen Leistungen,
die die Wissenschaft vorantrieben, gehörte auch die hohe Wertschätzung
der theoretischen Neugierde [...] In der chinesischen Philosophie
dagegen herrschte die Tendenz, das Erkennen dem Handeln unterzuordnen.
Wissen sollte nahe am Menschen bleiben. Solche philosophische
Standpunkte begrenzen das Wissen [und haben China seit ca. 1500
zumindest naturwissenschaftlich zurück fallen lassen]."
(Jürgen August Alt)
"Einer der verläßlichsten
Gradmesser der wissenschaftlichen Überlegenheit Amerikas [...] ist
wahrscheinlich die Zahl der erhaltenen Nobelpreise.
Diese prestigeträchtige Würdigung, die auf das testamentarische
Vermächtnis des Industriellen Alfred Nobel zurückgeht, wurde erstmals
1901 verliehen, und während der ersten 50 Jahre, besonders deutlich in
der Dekade von 1921 bis 1931, waren es fast immer europäische
Wissenschaftler, denen der Preis zuerkannt wurde. In den ersten zehn
Jahren erhielten die Amerikaner nicht einen einzigen Nobelpreis. Der
erste Amerikaner, der nach Stockholm eingeladen wurde, war A. A.
Michelson im Jahr 1907, gefolgt von A. Carrel im Jahr 1912 (der
allerdings aus Frankreich stammte), und dann dauerte es noch weitere
elf Jahre, bis 1923 R. A. Millikan der Preis verliehen wurde. Nach 1931
erhielten die Europäer immer weniger Nobelpreise, während der
unaufhaltsame Aufstieg der Amerikaner begann, die zwischen 1932 und
1941 beinahe 20 Preise erhielten und im folgenden Jahrzehnt die
Europäer überflügelten. Ihr Aufstieg setzte sich trotz einer
merkwürdigen Abschwächung zwischen 1962 und 1971 fort, um in dem
Jahrzehnt von 1972 bis 1982 den absoluten Rekord von 45 Nobelpreisen zu
erreichen. Seither wurden die Preise jedoch wieder weniger, eine
Entwicklung, die für die gesamten 80er Jahre kennzeichnend war, während
die wieder aggressivere, konkurrenzfähigere europäische Wissenschaft in
dieser Zeit aufholte. Es ist bezeichnend, daß die Amerikaner 1991
keinen einzigen Nobelpreis erhielten. In Physik wurde ein Franzose
gewürdigt, in Chemie ein Schweizer und in Medizin zwei Deutsche. Etwas
Vergleichbares hatte es seit 1957 nicht mehr gegeben. Während man dies
damals jedoch angesichts des Aufstiegs der amerikanischen Wissenschaft
dem Zufall zuschreiben konnte, fällt das gute Abschneiden der Europäer
heute mit einem allgemeinen Niedergang auf US-amerikanischer Seite
zusammen und hat damit eine ganz andere Bedeutung: Es gehört zu den
unverkennbaren Zeichen einer Tendenzwende, die mit verschiedenen
Fehlentwicklungen in der amerikanischen Wissenschaft in Zusammenhang
gebracht werden muß. Diese Fehlentwicklungen scheinen zu zeigen, daß
das System heute nicht mehr in der Lage ist, den Fortschritt der
Forschung zu garantieren."
Eine Fehlentwicklung sieht Di Trocchio (neben dem Bürokratismus, der die Mittelmäßigen fördert) im amerikanischen Pragmatismus und insbesondere darin, dass die amerikanischen Wissenschaftler zunehmend an die Leine der Ökonomie gelegt wurden, statt zweckfreie Grundlagenforschung zu treiben.
Und als immer noch vorbildlich sieht Di Trocchio die ehemalige deutsche Universität an, die
Forschung und Lehre verband
und ihren Professoren den Luxus weitgehend zweckfreier Forschung ließ.
(Nebenbei: Di Trocchio berichtet über die USA nicht in billiger antiamerikanischer Häme, sondern zeigt durchaus auch die europäischen Probleme.)
Es mag ein nostalgisches Kalkgerinsel sein, aber mir dreht sich wirklich der Magen um, wenn ich sehe, wie durchkommerzialisiert Universitäten (und zunehmend auch Schulen) heutzutage sind. Ich bleibe dabei: schon allein ein Werbeplakat hat in einer Uni nichts zu suchen.
Ganz genauso:
bei der Renovierung des
Stadthauses II in Münster hat an diesem ganz grundsätzlich kein
riesiges Werbeplakat für einen Bekleidungskonzern zu hängen!
(Oder ist das einfach nur ehrlich?: jetzt wird
endlich offenbar, wer schon längst die Verwaltung bezahlt?)
bei der Renovierung des Brandenburger Tores hat die Verpackung mit Telekom-Postern zu unterbleiben!
(dazu muss man das Brandenburger Tor nicht mal zu einem nationalen Symbol hochstilisieren; es reicht, dass es ein öffentliches Gebäude ist)!
Ich weiß, ich weiß, Mäzenatentum hat es schon immer gegeben!
Man kann es nur als bitteren Rückfall bezeichnen, wenn in unseren kurzsichtig ökonomistischen Zeiten die Schulbildung - und sei's durch simple Anwendungsorientierung - wieder zur direkten Berufsvorbereitung verkommt.
Wilhelm von Humboldt
(1767-1835)
"Der "Zögling" soll zum "geistigen Schaffen" angeregt werden. "Verstehen" und "Wissen" sollen ihren Reiz "nicht durch äußere Umstände, sondern durch [...] innere Präzision, Harmonie und Schönheit" gewinnen. Das Ziel liegt somit im Aufbau einer eigenen Motivation, damit jeder aus eigenem Antrieb zu Erkenntnis und Einsicht streben kann. Dazu bedarf es einer "harmonischen Ausbildung aller Fähigkeiten" [...], was natürlich nur möglich ist, wenn jeder "seine Kraft in einer möglichst geringen Anzahl von Gegenständen", darin aber so intensiv wie möglich übt. In allgemeiner Hinsicht sind lediglich die Fähigkeiten zu fördern, die eine breite Beschäftigung auf möglichst vielen Feldern möglich machen. Also stehen Mathematik und die allgemeine Schulung des "Denkvermögens" im Vordergrund. Was Humboldt hier mit wenigen Bemerkungen skizziert, ist die Idee des forschenden Lernens. Und da er weiß, dass der Impuls zur Einsicht und Erkenntnis nur produktiv werden kann, wenn er den ganzen Menschen erfasst, dringt er auch auf die Bildung des ganzen Menschen. Der junge Mensch muss so erzogen werden, dass er "physisch, sittlich und intellektuell der Freiheit und Selbsttätigkeit überlassen werden kann" [...].
Heute dürfte offensichtlich sein, dass wir ein solches Ideal nicht nur für die Forschung brauchen, sondern für alle Lebensbereiche, in denen Menschen innovativ und produktiv sein wollen."
(zitiert nach Volker Gerhardt: Humboldts Idee; Zur Aktualität des Programms Wilhelm von Humboldts)
Vgl. auch:
"Bildung, der Begriff B. bezeichnet die Entwicklung des Menschen im Hinblick auf seine geistigen, seelischen und kulturellen Fähigkeiten.
Alle B.begriffe der europ. Tradition gehen auf die griechisch-röm. Antike zurück. Der Vergleich der "Formung" des Menschen mit der künstler. Formung einer Plastik ist auf Platon zurückzuführen. Der Mensch wird Mensch, wenn er sich selbst zum Abbild dessen gestaltet, was göttlich ist. Die Lehre, daß das wahre Wesen des Menschen ("humanitas") sich in der Harmonie seiner Person manifestiert, hat v. a. die Renaissance und die Goethezeit beeinflußt: B. und Humanismus sind identisch; in diesem Sinne unterscheidet sich der Begriff der allgemeinen B. von der speziellen Berufsausbildung.
Ein zweiter Ausgangspunkt für die B.tradition war das Wort 1. Mos. 1, 27: "Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde; zum Bilde Gottes schuf er ihn". In diesem Sinne hat Paulus die platon. Lehre als "Angleichung des Menschen an Gott" umgedeutet. Die Mystiker (Meister Eckhart, Seuse, J. Arndt, J. Böhme) beschreiben die Wiedergeburt des Menschen als "Ein-Bildung" in das Bild Christi. Herder hat alle diese Traditionen mit seinem Begriff der Humanität in Verbindung gebracht und so das geistige Medium für das "B.zeitalter" des dt. Idealismus geschaffen.
Der dritte Faktor unserer B.tradition ist die Sophistik, in der sich zum ersten Mal der Anspruch menschl. Wissens auf Aufklärung und Autonomie als polit. Macht manifestiert. Das Werkzeug dieser ersten "Intellektuellen" ist die Rhetorik. Die rhetor. Bildungstheorie der Sophisten entwickelt den Kanon der "freien Künste" (Artes liberales), also jener Wiss., durch die sich der Mensch der polit. Freiheit als würdig erweist. Sie sind "frei" im Unterschied zu den Spezialkenntnissen der Handwerker. Bei Platon stand im Zentrum die Mathematik, bei den Sophisten eine literarisch-polit. Rhetorik. Daraus ergab sich später
die Trennung der Geisteswiss. von Naturwiss. und Technik."
(Meyers Lexikonverlag)
(Dabei bin ich mir durchaus bewusst, wie individualistisch-idealistisch, also gesellschaftsblind der klassisch-romantische humboldtsche Bildungsbegriff eben auch war.
Und natürlich ist er um praktische Bildung zu ergänzen: z.B.
Überhaupt: zwar sind die wirklich großen Forscher immer Grundlagenforscher gewesen, aber ich verachte doch nicht die angeblich schnöde, in Wirklichkeit überhaupt erst lebenswerte Praxis, in der sich Wissenschaft und Bildung allerdings auch die Finger schmutzig machen können. Manchmal bin ich sogar versucht, einen "Praxis-Nobelpreis" für wirklich geniale minimale technische Erfindungen auszuschreiben, die ohne viel Aufwand das Leben doch erheblich einfacher gemacht haben. Auf Platz Eins steht für mich noch immer der Freiherr von Drais, der Erfinder des eigentlichen [lenkbaren] Fahrrades!)
Unter (Allgemein-)"Bild"ung wird also gerade nicht eine direkte Berufsvorbereitung bzw. kurzfristige Anwendbarkeit verstanden
(wenn vermehrt nur diese gefordert wird, ist das also nur geschichtsblind).
Sondern "Bildung" meint - und zwar gerade unter der Perspektive des inzwischen fast zur Drohung werdenden lebenslangen Lernens und beruflicher Mobilität - die Entwicklung einer Potentialität, sich selbstbewusst jedes Fachgebiet anzueignen:
"Nein, Computerwissen habe ich bisher nicht
kann ich mir aber natürlich schnell aneignen."
Solch eine Potentialität aber ist nur denkbar, wenn die SchülerInnen (exemplarisch) verschiedenste Sichtweisen (und ihren Theoriecharakter) erfahren, die einander ergänzend "die" Welt ausleuchten:
Faktenwissen
+ Kenntnis der kulturellen Zusammenhänge zwischen den Fakten
+ kritische Aneignung: "Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen."
_____________________________________________________
= "Allgemeinbildung" (Hochschul"reife")
naturwissenschaftliche
+ mathematische
+ künstlerische
+ sprachliche
+ psychische
+ körperliche
+ historische
+ soziale (u.a. ökonomische, juristische, politische)
________________________
= kulturelle Zusammenhänge
Geradezu exemplarisch ist da die Diskussion über das Fach Mathematik:
einerseits wird es neuerdings verschärft zum "Kernfach" hochstilisiert, das bis ins Abitur verpflichtend ist:
offiziell, weil Mathematik
angeblich allüberall im Alltag vorkommt
(was nur ein Rohrkrepiererargument ist: sie kommt ja
nur deshalb allüberall vor und ist so enorm erfolgreich, weil sie in
den "Geräten" versteckt ist, d.h. der Laie sie gar nicht
"sieht"),
inoffiziell (so unterstelle
ich mal), weil das Schulfach Mathematik wunderbar eine pseudoobjektive
sozialdarwinistische Auslese ermöglicht
(vgl. );
andererseits wird in Folge des Buchs (und gegen den Willen seines Verfassers? ) immer wieder angefragt, ob ein Durchschnittsmensch denn überhaupt mehr als den Stoff bis etwa zur 7. Klasse (Prozentrechnung, Dreisatz) brauche.
Letzteres ist aber eben schon falsch gefragt: es geht ja gar nicht um den eigentlichen Stoff (das Handwerkszeug bzw. die Anlässe), sondern (neben den Perspektiven anderer Fächer) um mathematische Denkweisen (vgl. ).
Einblicke in die Ökonomie, die bislang in der Schule vielleicht wirklich zu kurz kommen, sind also trotz allem nur eines von vielen, einander ergänzenden Teilgebieten.
(Nicht nur brauchen LehrerInnen [ich!] mehr fundierte Ahnung von Ökonomie, sondern ihre Phantasie sollte auch ausreichen, dass sie trotz allem einen Luxusjob [viel Freiheit!] haben, während in der "freien" Wirtschaft oftmals nur noch "hire & fire" läuft.
... was aber eben gerade nicht heißt, dass nun ökonomische Verhältnisse auch in die Schule [bei SchülerInnen wie LehrerInnen] einziehen sollten: wenn woanders die Cholera herrscht, müssen wir sie nicht aus falschverstandener Solidarität auch bekommen.
Ebenso falsch ist die Kompensation so einiger LehrerInnen, die, wo sie schon nicht selbst direkt unter ökonomischem Druck stehen bzw. nicht "produzieren" [und deshalb ein schlechtes Gewissen haben], nun ganz unbedingt ihre SchülerInnen möglichst brutal auf die ökonomische "Welt da draußen" vorbereiten wollen.)
Eine einseitige Ausrichtung der Schulbildung auf die (derzeitige!) Ökonomie kann nicht mal im "wohlverstandenen eigenen Interesse" der Ökonomie sein
(es sei denn, sie will gar keine kreativen, sondern nur gut "funktionierende" Leute; denn natürlich wimmelt es auch in der ach so aufgeschlossenen "freien [?] Wirtschaft" von , die neben sich keine Intelligenz und Kreativität dulden können).
Die derzeitige Verengung des Bildungsbegriffs auf Effizienz, (höchst einseitig verstandene, messbare) Leistung, Anwendbarkeit und Berufsvorbereitung empfinde ich, gerade weil sie so grinsend "fortschrittsgläubig" und aggressiv daher kommt, nur als extrem resignativ
(und - nebenbei - billig nationalstaatlich gedacht).
Jan Roß: Die neuen Staatsfeinde; Was für eine Republik wollen Schröder, Henkel, Westerwelle und Co.?; Berlin 1998
darin: S. 28ff
(nebenbei: dieser Jan Roß ist einer der ganz wenigen noch Denkfähigen, was auch und gerade an seinem Papstbuch deutlich wird: er passt in kein Schema [vgl. die Verrisse von "beiden" Seiten])
"[...] Roman Herzogs »berliner Rede« vom April 1997 im neuerrichteten Hotel Adlon [ist] rasch zu einer Art Katechismus der Innovationsprediger geworden. »Daß der Wettbewerb zwischen Standorten nach ähnlichen Regeln abläuft wie der zwischen Unternehmen, kann man nach der Berliner Rede eher deutlich machen«, freute sich Hans-Olaf Henkel [ehemaliger Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie]. »Bis jetzt mußte man sich immer die 'soziale Kälte', die 'McDonald's Jobs' und die 'working poor' vorhalten lassen, wenn man vorschlug, von Amerika zu lernen. Seit Herzogs Rede kann man sich damit unverkrampfter befassen.«
»Durch Deutschland muß ein Ruck gehen«, hatte Herzog gefordert; und damit war, trotz einiger garnierender Bemerkungen über die Notwendigkeit des Gemeinsinns, letztlich nur eines gemeint: mehr wirtschaftliche Dynamik. »Es geht um nichts Geringeres als um eine neue industrielle Revolution, um die Entwicklung zu einer neuen, globalen Gesellschaft des Informationszeitalters. [...] Weg mit Miesmacherei und Technikfeindlichkeit. »In hochtechnisierten Gesellschaften ist permanente Innovation eine Daueraufgabe! Die Welt ist im Aufbruch, sie wartet nicht auf Deutschland.«
Es verrät viel über die Klimaveränderung in der Bundesrepublik, wenn man die »berliner Rede«, das Musterbeispiel der gegenwärtigen Aufbruchsrhetorik, gegen Richard von Weizsäckers berühmte Ansprache zum 8. Mai 1985 hält, dem vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes. Geschichte, Vergangenheit, auch Tradition spielten bei Herzog keine Rolle mehr. Nicht bloß der Nationalsozialismus kam nicht vor, der in einen Mobilisierungsappell ja wirklich schlecht hineingepaßt hätte, sondern überhaupt alles Historische.
»Bildung muß das Mega-Thema unserer Gesellschaft werden«, forderte Herzog zwar, aber schon die ordinäre Formulierung mag den Unterschied zur Bildungsbürgerlichkeit seines Amtsvorgängers bezeichnen. Um Bildung im eigentlichen Sinne ging es denn auch gar nicht, und wenn die Union in den siebziger Jahren den Geschichtsunterricht und das humanistische Gymnasium gegen die Fortschrittsbesessenheit der Emanzipationspädagogik verteidigt hatte, so fürchtet sie inzwischen selbst nichts mehr, als den Anschluß an den Fortschritt zu verpassen. Nur, daß Fortschritt heute nicht mehr Chancengleichheit und Sozialreform heißt, sondern Einstieg in die Informationsgesellschaft und Eroberung neuer Märkte. Wo eben noch Latein und Griechisch als abendländisches Erbe im Lehrplan erhalten werden sollten, geht es jetzt um Computer und den Internetanschluss für jede Schule; und das christliche Menschenbild von einst wird mit Bio- und Gentechnologie gründlich umgebaut. Die Fixierung auf die Zukunft, auf das Neue, die man den Linken in den siebziger Jahren als Utopismus vorgehalten hat - heute kehrt sie wieder als Ideologie der Standortmodernisierung, der totalen Anpassung an die Weltmarktdynamik. Abschätzig wie nur irgendein Schulreformdoktrinär sprach Herzog über die bloße »Vermittlung von Wissen«, die durch »lebenslanges Lernen« ersetzt werden müsse. Die Idee eines Kanons, verbindlicher Bildungsinhalte, die schon den progressiven Sozialreformern lästig war, ist auch dem neuen Flexibilitätsdogma hinderlich und wird über Bord geworfen. Statt dessen kommt es darauf an, »an der Wissensrevolution unserer Zeit teilzuhaben«, im weltweiten Erkenntniswettbewerb »in der ersten Liga mitzuspielen« - auch das eine der überraschend vulgären Wendungen in Herzogs Rede.
Als Herzog einige Monate später
eine zweite »berliner Rede« nachschob, speziell zum Bildungsthema, konnte man sich in all seinen Befürchtungen bestätigt sehen. Ein Kapitelchen über »Werte«, dieses ideologische Feigenblatt einer Gesellschaft, die sich nichts zu glauben traut und trotzdem nicht als nihilistisch dastehen möchte - und dann ein Bückling nach dem anderen vor Praxisbezug, Wettbewerbsfähigkeit, Effizienz, optimaler Zeitnutzung und wie die Götzen des Ökonomismus alle heißen. Eine Chip-Fabrik hinter einer Biedermeierfassade - das ist Roman Herzogs Bildungsvision. Auch Schulen und Hochschulen sollen sich als Abteilungen des Dienstleistungsunternehmens Staat verstehen, wenn nicht sogar, noch brutaler, als Hersteller des Produkts Bildung. »Ich frage mich«, erklärte der Bundespräsident, »wie eine Hochschule eigentlich die Qualität ihrer Ausbildung überprüfen will, solange nicht auch handfeste Daten über die beruflichen Werdegänge ihrer früheren Studenten ausgewertet werden. Jedes Wirtschaftsunternehmen weiß heute alles über den Verbleib seiner Produkte und über den Abnehmer seiner Dienstleistung.« Man traut seinen Ohren nicht: Wird hier wirklich eine Untersuchung über den Lebensweg von Universitätsabsolventen als Nachforschung nach dem Verbleib von Produkten bezeichnet? Aber genau das liegt in der Logik von Herzogs Ruck-Pädagogik, und er steht damit keineswegs allein. Beide Volksparteien, Union und SPD, haben sich kürzlich in programmatischen Papieren und Beschlüssen zur überragenden Bedeutung der Bildungspolitik bekannt - und was sie dabei unter »Bildung« verstehen, ist wiederum, wie bei Roman Herzog, nur [ökonomische!] InnovationsFähigkeit und Medienkompetenz."
Nun bin ich ja nicht blind: warum wohl gibt der deutsche Staat Unsummen
(und doch im internationalen Vergleich zu wenig)
für Schulbildung aus (und verbeamtet auch die LehrerInnen)?:
sicherlich auch aus purer Zweckfreiheit, um also seiner Jugend alle Möglichkeiten zu eröffnen und ihr die Erkenntnisse der Menschheitsgeschichte zu schenken,
aber, um gut funktionierende Staatsbürger heranzuzüchten:
genau das ist das Janusgesicht der Schulen.
Sicherlich ist Zweckfreiheit ein enormer Luxus, der immer wieder gesellschaftlich verhandelt werden muss:
Z.B. war eben das amerikanische Parlament vor einigen Jahren nicht mehr bereit (oder in der Lage), den Spielkindern
(aber vgl. das Schillerzitat oben!)
unter den Naturwissenschaftlern, nämlich den Elementarteilchenphysikern, einen neuen, irrwitzig teuren Elementarteilchen-Beschleuniger ("SUPER[!]CONDUCTIng SUPER[!] COLLIDER") zu schenken.
Überhaupt gönnt sich - wie so oft
in der Gesellschaft - das Bürgertum nur allzu gerne seine eigenen
Hobbies, während an den ärmsten der Armen gespart wird (der neuerdings
gewendete Robin Hood: "take it from the poor, give it to the rich").
Vgl. etwa .
(Auf Schulen bezogen [und das vor allem beweist doch PISA!]: viel eher als die Gymnasien müssen doch die Hauptschulen verbessert [also auch finanziell besser ausgestattet] werden - wenn das gegliederte Schulsystem nicht überhaupt abgeschafft gehört.)
Zudem birgt Zweckfreiheit Risiken: sie kann - etwa vom Staat - nur teilweise ermöglicht werden
(und sei's, weil man nicht auch sämtliche Spinner finanzieren kann):
das Restrisiko trägt derjenige, der da zweckfrei forschen und "bilden" möchte.
Beispielsweise für das Schulfach Latein gibt es nicht die mindeste Anwendung
(an die sich die Altphilologen auch um Gottes willen nicht anbiedern sollten: es glaubt ihnen eh kein Schwein!)?
Aber das ist doch die beste Reklame für dieses Fach, ja es ist schon fast eine Form des Widerstands:
"Anarchie ist machbar, Frau Nachbar!"
Entmachtet frisch-fromm-fröhlich-frei die Mathematik (allerdings nur in der heute üblichen Form!) und macht (wenn schon, denn schon) Kunst und Geschichte zu verpflichtenden Haupt-, ja Kernfächern!
Ich will ja gar nicht die Ergebnisse von "PISA" leugnen oder beschönigen, aber es macht mich doch allemal äußerst skeptisch, dass "PISA" von der
OECD, die; - <aus engl. Organization for Economic Cooperation and Development> (Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit)
(Duden - Die deutsche Rechtschreibung, 23. Aufl. Mannheim 2004 [CD-ROM])
veranstaltet wird
(aber heute merkt ja kaum jemand mehr, wie entlarvend, zynisch und zutiefst undemokratisch es ist, wenn eine Arbeitslosen"reform" . zumindest inoffiziell - nach einem Topmanager [Hartz] benannt ist; und das völlig unabhängig von den angeblichen oder tatsächlichen Skandalen, die diesem Topmanager nachgesagt werden).
"Für die direkte Verbesserung der Qualität von Unterricht haben Ingenieure (in Ostwestfalen veranstalten Ingenieure Fortbildungsveranstaltungen für Lehrer und Kindergärtnerinnen), Unternehmensberater (deren Aufgabe sollte es sein, mehr Arbeitsplätze zu schaffen), Juristen und Marketingfachleute überhaupt keinen Wert. Sie gehören nicht ins Schulsystem und sie sollten vor allen Dingen keine Führungsaufgaben übernehmen."
(Rainer Dollase in "Was macht erfolgreichen Unterricht aus?")
Ansonsten aber sollten "Ingenieure [...], Unternehmensberater [...], Juristen und Marketingfachleute" durchaus in den Schulen willkommen sein:
- was viel zu selten geschieht -, indem sie
(wie alle anderen Berufsgruppen insbesondere unter den Eltern)
ihre Kenntnisse, aber auch "Welterfahrungsweisen" in den Unterricht einbringen
(also ergänzen, was LehrerInnen naturgemäß nicht einbringen können);
sind sicherlich auch in Schulen viele organisatorische Abläufe inkl. Geldausgaben etwa durch Ökonomen "optimierbar"
(solange diese Ökonomen sich demütig aus dem raushalten, was Schule im eigentlichen Sinne ausmacht und wozu organisatorische Abläufe überhaupt nur der "Zierrahmen" sind: nämlich Pädagogik und Unterricht);
ich wüsste ganz genau, wo man im schulischen Bereich Unsummen einsparen könnte
(eben insbesondere bei der kultusbürokratischen Organisation)
- um sie dann für "manpower", sprich: mehr LehrerInnen auszugeben;
sollte jedes "Berufsbiotop" (also u.a. LehrerInnen) dem anderen (Ingenieuren ...) zuhören können, um herauszufinden, ob Erkenntnisse des anderen Bereichs auch hilfreich für den eigenen sein könnten, ob also beispielsweise ökonomische Konzepte - evtl. abgewandelt - auch in der Schule anregend sein könnten.
Mich stört halt "nur" die derzeitige implizite Pauschalunterstellung, dass ökonomische Konzepte für Schulen
(wie überhaupt zunehmend als Maßstab sämtlicher gesellschaftlichen Bereiche)
brauchbar sein könnten
(wobei ein zentraler Fehler derzeit darin besteht, dass bis in die Politik hinein immer nur kurzfristig betriebswirtschaftlich statt auch mittel- und langfristig volkswirtschaftlich gedacht wird):
das wünschenswerte "Produkt" von Schulen, nämlich "Bildung", ist prinzipiell nicht ökonomisch messbar. |
PS: |
Gerade
wenn man so viel von Wilhelm von Humoldts pädagogischen Vorstellungen
hält wie ich, sollte man sich auch mal um die Kritik an ihm bzw. dem, was aus ihm
gemacht worden ist, kümmern:
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