wozu man Mathematik im "richtigen" Leben braucht

Hans Werner Heymann hat vor einiger Zeit mit seinem Buch Bild für erhebliche Aufregung gesorgt, als er sagte, der Normalsterbliche brauche in seinem späteren Leben höchstens die Schulmathematik bis etwa zur 7. Klasse

(um Heymann gerecht zu werden: er meinte damit das reine Faktenwissen bzw. die wichtigsten Rechenarten, nicht aber "mathematisches Denken"; vgl. auch Bild ).

Klischeemäßig werden dann als "die letzten Dinge", die man noch aus der 7. Klasse braucht, die Prozentrechnung und der berühmt-berächtigte "Dreisatz" genannt.

Blödsinn, die habe ich in meinem "normalen", außermathematischen Leben noch nie gebraucht!

(Und sei's ganz einfach, dass ich wegen der 19 % Mehrwertsteuer ja gar nicht gefragt werde, sondern sie sowieso schon in allen Preisen enthalten ist.)

Eine weitere häufig vorgebrachte Begründung für die Bedeutsamkeit der Mathematik ist, dass unsere technische Welt durch und durch mathematisch konstruiert sei. Das stimmt ja, aber es funktioniert doch überhaupt nur so gut, weil der Laie das mathematische "Innenleben" der Geräte ja gerade nicht verstehen muss und sie dennoch prächtig benutzen kann.


Eine "Schizophrenie" der Schulen besteht darin, dass sie gleichzeitig zwei verschiedene potentielle Sorten von SchülerInneN unterrichten muss:

Mehr noch: die Trennung der beiden Gruppen ist ja keineswegs von Anfang an klar (oder sollte es zumindest nicht sein), sondern natürlich will Mathematikunterricht auch für "gehobene" Mathematik und ein Mathestudium werben (u.a. in Zeiten des Studentenmangels in mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Fächern). Aber auch für diese Werbung scheinen mir letztlich die mathematischen Denkweisen wichtiger als spezifische mathematische Inhalte:

wenn angehende mathematisch-naturwissenschaftlich-technische Studenten angeblich oder wirklich so schlecht auf ihr Studium vorbereitet sind, dann vielleicht gerade deshalb, weil sie in der Schule zu viel mathematischen Stoff gefressen, aber zu wenig "mathematisches Denken" gelernt haben.

(Oder umgekehrt: vielleicht wird bei den Eingangsprüfungen der Unis, aber auch bei einigen sonstigen Vorstellungsgesprächen zu viel Stoff und zu wenig Denken abgeprüft?)


Der Anlass für diesen Essay ist, dass mir letztens während des Schreibens über ein ansonsten vielleicht nebensächliches Thema (vgl. Bild Bild ) urplötzlich etwas aufgegangen ist, das ich für derart wichtig halte, dass ich hier eben noch einen ganz eigenen Essay daraus destillieren muss.

Das "vielleicht nebensächliche Thema":

Bild

Und an dieser Grafik war mir eben aufgefallen, dass die einzelnen erdgeschichtlichen Epochen in der dunkelgrau unterlegten rechten Spalte

Die Grafik ist also nach unten hin zunehmend "gestaucht", und ich hatte da auf Anhieb eine "logarithmische" Skala vermutet

(was zu erklären hier gar nicht nötig ist).

Dann aber war mir eben urplötzlich etwas aufgefallen, was mir weit über die logarithmische Notation hinaus bedeutsam scheint:

  • Zwar braucht man den Logarithmus wahrhaft nicht zwingend, um die Stauchung der Zeitskala zu bemerken,
  • aber wenn man ihn kennt

(oder genauer: seine grundsätzliche Funktionsfähigkeit, also nichtmal detaillierte Rechnungen mit ihm oder komplizierte Logarithmengesetze),

  • erkennt (diagnostiziert) man die Stauchung wegen des geübten Auges doch viel leichter

(etwa so, wie man bei der Analyse von Gedichten nicht unbedingt den Fachbegriff "Metapher" braucht, solche Metaphern aber doch viel leichter erkennt, wenn man weiß, worauf sich zu achten lohnt),

  • und kann man die Bedeutung dieser Stauchung

(oder genau umgekehrt: der in grauer Vorzeit zunehmend längeren Zeiträume)

viel besser verstehen

(etwa so, wie es bei Gedichten natürlich nicht reicht, wenn man einfach nur das Vorhandensein von Metaphern feststellt, aber, wenn man sie erstmal gefunden hat, doch viel besser [eindrücklicher!] ihre Wirkungsweise erfassen kann;
kurz ergänzt sei hier, worin denn die Bedeutung des annähernd logarithmischen Verlaufs liegt: die erdgeschichtliche Entwicklung hat erst lähmend langsam, dann aber zunehmend rasanter stattgefunden).

Man muss also im alltäglichen Leben wahrhaft nicht rechnen können, aber ein mathematisch vorgebildeter Verstand erkennt eben doch viel leichter oder sogar überhaupt erst gewisse Strukturen der Wirklichkeit - und kann sie besser interpretieren.

Genau das scheint mir die Bedeutung der Mathematik für das "richtige" (Laien-)Leben zu sein: dass man "für den Fall der Fälle" - neben anderen, genauso wichtigen Erkennungs- und Interpretationsmustern

(pars pro toto historischen; vgl. Bild ),

die man in "allgemeinbildenden" Schulen kennengelernt hat  - eben auch ein mathematisches parat hat.