eine echte Anwendungsaufgabe?

Zur Kritik einer einseitigen Anwendungsideologie siehe "Anschauung statt Anwendung" bzw. "das Anwendungsproblem".

Aber bei solcher (Negativ-)Kritik bzw. Problematisierung soll ja nicht stehen geblieben werden, sondern vielmehr sei an einem Beispiel überlegt, wie eine "gute" Anwendungsaufgabe aussehen sollte bzw. könnte.

Irgendwann am Anfang der Unterrichtseinheit "Exponentialfunktionen" (in der 10. Klasse bzw. einer späteren Wiederholung) taucht fast so sicher wie das Amen in der Kirche eine Aufgabe folgender Art auf:

Da muss man aus drei Gründen nicht mal mehr eine Frage bzw. Aufgabe stellen:

  1. sind das so klischeemäßig die Standardaufgaben, dass auch SchülerInnen gleich merken, wo der Hase lang läuft
    (zumal alles unvermeidbarerweise auf Mathematik hinaus läuft, weil es eben im Mathematikunterricht geschieht: die SchülerInnen werden also beispielsweise weder nach der politischen Abhängigkeit eines Königs noch nach der literarischen Machart der Schachparabel fragen);
  2. steht alles in einer klaren Sachlogik: wenn auch evtl. die Exponentialfunktionen noch nicht bekannt sind, sondern überhaupt erst anhand der vorliegenden Aufgaben entdeckt werden sollen, steht doch der "funktionale" Kontext der 10. Klasse im Hintergrund; 
  3. ist eher noch im zweiten als im ersten Beispiel die Mathematik zwar ein wenig verborgen ("eingekleidet"), letztlich aber doch mit der Erwähnung von "verdoppelt" in beiden Aufgaben unübersehbar.

Wenn die beiden Aufgaben also so offensichtlich eingekleidet sind, stellt sich doch die Frage, zu welchem Zweck sie denn gestellt werden:

  1. eben doch, um zu zeigen, dass die dargestellten Prozesse wenn schon nicht in einer realen, so doch in einer wahrscheinlichen (vgl. Aristoteles) "freien Wildbahn" auftauchen können;
  2. eben nicht als Anwendung, sondern zur Veranschaulichung: Seerosen und Getreide kann man sich besser quantitativ vorstellen als nackte Zahlen
    (vgl. "Anschauung statt Anwendung");
  3. wegen der anschaulichen Harmlosigkeit der Ausgangsituation, in der nur von hübschen Seerosen bzw. klitzekleinen Getreidekörnern die Rede ist;
  4. also vor allem wegen des für den "gesunden Menschenverstand" völlig unerwarteten (?) Endergebnisses, also im Schachbeispiel:

"Der König war zuerst erbost über den - wie er meinte - bescheidenen Wunsch. Doch bald teilte ihm der Verwalter seiner Kornkammern mit, daß alles Getreide dieser Welt nicht ausreichen würde, diesen Wunsch zu erfüllen! Mathematiker errechneten, daß der König 18.466.744.073.709.551.615, das sind 18 Trillionen, Körner hätte aufbringen müssen. Um diese Menge befördern zu können, müßten so viele Eisenbahnwagen hintereinander gekoppelt werden, daß sie 231.666 mal um die Erde reichten!"

Wobei hier schon gefragt sei, ob das Ergebnis denn tatsächlich so unerwartet ist, wo doch die gesamte Dramatik der Aufgabe darauf hinaus läuft: ohne diesen gigantischen Showdown wären die Aufgaben doch gar nicht bemerkenswert.

  1. und rein innermathematisch gedacht:

Die beiden genannten Aufgaben erfüllen also durchaus ihren guten (!) Zweck - und verdienen dennoch nicht das Etikett "Anwendungsaufgaben", was insbesondere an der zweiten Aufgabe überdeutlich ist:

  1. ist sie ja offensichtlich "nur" eine moralisierende Legende, ja fast ein Märchen;
  2. läuft sie ja eben auf eine völlig fiktive Zahl, nämlich 18.466.744.073.709.551.615 bzw. "so viele Eisenbahnwagen hintereinander [...], daß sie 231.666 mal um die Erde reichten!", hinaus.

Von einer "echten" Anwendungsaufgabe wäre aber zu fordern, dass sie wenn schon nicht (für Jugendliche) "lebensnah" ist, so doch tatsächlich in der Realität so vorkommt.

Dazu sei das "Seerosenbeispiel" (das sich damit erübrigt!) folgendermaßen variiert:

Caulerpa taxifolia

Die Killeralge im Mittelmeer

Ursprünglich stammt die Grünalge Caulerpa aus der Karibik. 1984 "entkam" sie aus dem Aquarium in Monaco und breitet sich seitdem im Mittelmeer aus. Indem sie die Seegraswiesen überwuchert zerstört sie das produktivste und artenreichste Unterwasserbiotop des Mittelmmeeres. Die Anrainerstaaten unternehmen große Anstrengungen zur Bekämpfung dieser Alge.
[...]
(zitiert nach: ; dort auch der vollständige Text)

Aus dem vollständigen Text seien hier nur noch zitiert:

"Trotz frühzeitiger Warnungen (1990) wurde nichts gegen die Ausbreitung der Alge getan."

"Um eine weitere Ausbreitung der Alge zu registrieren und kleinere Standorte vielleicht doch noch manuell zu säubern sind alle Urlauber-Innen aufgefordert neue Vorkommen (vgl. Karte) an das "Laboratoire Environnement Marin Littoral" in Nizza zu melden."

Eine weitere Quelle berichtet:

"Angefangen hat alles 1984, als direkt unterhalb des Ozeanographischen Museums von Monaco eine kleine Kolonie der Alge entdeckt wurde. Der gerade mal einen Quadratmeter großen Ansiedlung wurde zunächst keine große Bedeutung beigemessen. Erst fünf Jahre später kam ein Spezialist vor Ort, um die seltsame Präsenz der tropischen Alge im Mittelmeer genauer unter die Lupe zu nehmen [...]
Sicher ist allerdings, daß sich die Caulerpa nun tatsächlich mit großer Geschwindigkeit ausbreitete. Aus dem ursprünglichen Quadratmeter vor dem monegassischen Felsen war ein Hektar geworden, und kurze Zeit später tauchten Tochterkolonien an anderer Stelle auf, nämlich knapp drei Meilen weiter östlich am Cap Martin - in Gegenrichtung der dort üblichen Ostströmung. Für den Professor konnte das nur heißen, daß die Alge von den Netzen der Fischer und den Ankergeschirren der Sportboote verschleppt wurde. Und tatsächlich kann die Taxifolia unter optimalen Bedingungen in einem Ankerkasten bis zu 10 Tage lang überleben - Zeit genug also, eine ordentliche Reise zu unternehmen.
Im September 1990 wurden die ersten Exemplare der Alge vor Toulon entdeckt, und schon an Weihnachten 1991 titelte die “Nice Matin”: ´”Die Killeralge hat die Rhône übersprungen” - in St. Cyprien kurz vor der spanischen Grenze war mitten im Hafen eine große Kolonie entdeckt worden. Und die einzelnen Kolonien, die sich zwischenzeitlich an der Côte d’Azur gebildet hatten, wuchsen zu großflächigen Taxifolia-Teppichen zusammen. "
(zitiert nach:
; dort auch der vollständige Text)

Nebenbei sei erwähnt, dass es auch von Alexandre Meinesz, dem ausgewiesenen Fachmann zum Thema, ein Buch mit dem (in deutscher Übersetzung etwas reißerischen) Titel "Der schwarze Roman der »Killer-Alge«" gibt, wobei unklar bleibt, ob dieses Buch jemals auf Deutsch erschienen ist bzw. ob der nur der Titel ins Deutsche übersetzt wurde. Tatsächlich erhältlich ist eine englischsprachige Ausgabe unter dem Titel "Killer Algae".

Es gibt zudem ein sehr spannendes (bzw. arg reißerisches?) Sachbuch zu einem Parallelfall in den USA

Rodney Barker: Killeralgen; Scherz

sowie für Motivliebhaber einen passenden Roman:

Grobilyn Marlowe: Killeralgen-Blues; Verlag Robert Richter

Gute Hintergrundsinformationen inkl. weiterführender Links und Karten der Verbreitung liefert auch . Daraus hier nur:

"Ein Ende der Verbreitung  ist nicht abzusehen, ja man muß sogar mit einem exponentiellen Wachstum sowohl der Zahl der Verbreitungsgebiete als auch ihrer Ausdehnung rechnen und bislang ist auch keine wirksame Maßnahme gefunden worden, die Alge in ihrer Ausbreitung zu stoppen."

Damit sei die Quellen- und Materialsuche aber schon abgeschlossen, weil es anhand der wenigen genannten Fakten um exemplarische Probleme gehen soll.


Nun soll nicht behauptet werden, dass diese Algen-Aufgabe im Vergleich mit anderen Anwendungsaufgaben "die einzig wahre" bzw. - wie der Titel andeutet - "einzig echte" ist.

Sondern sie scheint mir "nur" geeignet, an ihr typische (notwendige) Gedankengänge anzuhängen und Vorgehensweisen zu entwickeln.


Schauen wir uns dazu nochmals die zentralen Informationen der oben angeführten Zitate an. Bemerkenswert ist da vor allem

  1. dass die Algenverbreitung eindeutig als
  1. anfangs langsam, dann aber rasant,
  2. Katastrophe dargestellt wird ("Killeralge");
  1. dass die Verbreitung der Algen zwar örtlich dargestellt wird, nicht aber ihre Vermehrungsweise bzw. -rate. Nur ein (der letzte) Autor sagt:

"man muß sogar mit einem exponentiellen Wachstum sowohl der Zahl der Verbreitungsgebiete als auch ihrer Ausdehnung rechnen",

was aber nur eine Vermutung bzw. dem Ton nach eine Befürchtung ist: einem mathematisch ansonsten völlig unbeleckten Laien wird immerhin suggeriert, dass ein "exponentielles" Wachstum etwas besonders Schlimmes zu sein scheint (denn "rechnen" bedeutet hier wohl nicht [nur] Zahlenjonglieren, sondern [auch] "mit dem Schlimmsten rechnen");

  1. dass das Phänomen keineswegs neu, sondern schon seit 1984 bekannt ist und - wie andere Zitate zeigen - anfangs trotz Warnungen nicht ernst genommen wurde:

"Der gerade mal einen Quadratmeter großen Ansiedlung wurde zunächst keine große Bedeutung beigemessen."

(womit immerhin schon mal der Anfangszeitpunkt t0 = 1984 und ein schön einfacher Anfangswert F0 = 1 m2  bekannt ist)


Der hier vorgelegte Anwendungsbezug ist durchaus problematisch:

Denn es ist ja durchaus bemerkenswert, dass aus schönen Seerosen sogenannte "Killeralgen" wurden:


Claude Monet: Seerosen

sondern auch kerngesund ist
(weshalb die Aufgabe aber auch rein kognitiv bleibt: "am vorletzten Tag ist der See noch halb voll, am Tag drauf aber völlig zugewachsen; ja und?!");

Die Algenaufgabe (bzw. der Wechsel von Seerosen zu ihr) scheint mir also durchaus zeitbedingt: sie ist ein Produkt der absehbaren Ökokatastrophe, des Ölschocks 1973 und des ersten Berichtes an den Club of Rome - und damit einer spezifischen, ökologisch sensibilisierten bzw. verängstigten (Lehrer-)Generation!

(Und aus einem Indien, in dem noch Überfülle denkbar war [18.466.744.073.709.551.615 Körner], ist das Klischee eines Hungersubkontinents geworden.)

Aus dem rasanten Wachstum des Schönen wurde das rasante Wachstum des Grauens, der mathematische Begriff der Exponentialfunktion ist nicht mehr neutral, sondern eindeutig negativ wertend.

Ein anwendungsorientierter Mathematikunterricht ist also keineswegs neutral, sondern steht zwischen

Das kann auch heißen, dass die "Jugend von heute" auf den Anwendungsbezug eben gerade nicht anbeißt, und zwar nicht etwa, weil sie keinerlei ökologisches Bewusstsein mehr hätte, sondern im Gegenteil, weil ihr das Thema inzwischen allzu lebensnah ist. Mir scheint sogar, dass viele Jugendliche es einfach satt haben, für jede Fehlentwicklung in der Welt in "Kollektivhaft" genommen zu werden

(so etwa nach Brechts sicherlich ehrenwerten, aber eben doch allzu simplen Logik

"Nichts
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich sattzuessen.
[...]
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas dem Verdurstenden fehlt?"
[vgl. Pascal Bruckner: Das Schluchzen des weißen Mannes; Berlin 1983]

oder Goldhagens provokativen Generalverdacht gegen alle [auch die nachgeborenen?] Deutschen bzgl. des Holocausts).

Jadoch, sobald einE MathematiklehrerIn sich auf Aufwendungsgebiet vorwagt, hat sie/er auch solche Fragen zu bedenken!

Das hat durchaus bemerkenswerte Konsequenzen nicht nur für den Inhalt, sondern auch für den Aufbau des Mathematikunterrichts:

Das ja eben ist das Bemerkenswerte (und im Unterricht "psychologisch" zu Vermittelnde) an exponentiellen Prozessen:

"das hätte [!?] ich dir schon vorher sagen können, dass das, was du in deiner grenzenlosen Naivität für linear hieltst, in Wirklichkeit katastrophal exponentiell ist"

hat sowieso einen beschämenden und besserwisserischen Unterton).

Wir sind heute bzgl. der "Killeralgen" eben im Nachher, die "Unschuld" des Anfangszustands lässt sich nicht mehr zurück holen - und wäre auch völlig uninteressant. Der Erkenntnisprozess bzw. das Staunen, dass etwas anfangs Harmloses sich im Laufe der Zeit als exponentiell herausstellt, ist nicht mehr rückholbar - oder zumindest nicht anhand der vorliegenden Algenaufgabe.

Ich hab´s im Unterricht ausprobiert: auch die völlig neutrale Formulierung (noch ohne jede Frage oder Aufgabenstellung)

"Im Mittelmeer ist eine neue Algensorte namens Caulerpa taxifolia aufgetreten."

wurde von SchülerInnen (und zwar vor jeglicher Behandlung exponentieller Prozesse) reflexartig als "Problem" im negativen Sinne, nämlich als ökologisches Warnsignal bzw. längst eingetretene Katastrophe verstanden: sie hatten bereits Vorwissen über

Und die SchülerInnen erkannten auch sofort die Vision einer explosiven Wachstums.

Notwendige Konsequenzen solch "psychologischer" Betrachtungen scheinen mir - wenn man schon die "Algenaufgabe" durchnehmen will - zu sein:

Fast scheint mir: wenn das (aus vielen guten Gründen oder Sachzwängen) nicht möglich ist, sei man ehrlicher und wähle entweder völlig harmlose (aber auch nichtssagende?) "Anwendungsaufgaben" oder bleibe rein innermathematisch!

Denn SchülerInnen durchschauen es ja durchaus schnell, wenn ein existentielles Thema nur als Aufhänger für Mathematik dient; ein Erkenntnisstand, hinter den kaum mehr mittels besserer Aufgaben zurückzuspringen ist: "wenn etwas in der Schule durchgenommen wird, ist es längst blutleer oder wird es alsbald blutleer sein". Ein scheinbares Desinteresse der SchülerInnen könnte also indirekt auch auf moralischer Empörung darüber zurückzuführen sein, dass alles (sogar die himmelschreiendsten Katastrophen) auf Zahlen reduziert wird.

Kleiner Nachtrag zu diesem "psychologischen" Aspekt:


Man muss zwar nicht die Katastrophensprache ("Killeralgen") mitmachen, kann aber - wie oben mehrfach gezeigt - nicht mehr hinter das Bewusstsein der (sich andeutenden) Katastrophe zurück. Und immerhin gewinnt die Aufgabe ja auch daraus überhaupt erst ihre Attraktivität.

Rein mathematisch gesprochen: Es bleibt "nur" die Frage, wie die Algen sich vermehren (womit hier nicht die biologische Fortpflanzungsweise, sondern der quantitative Verlauf gemeint ist).

Oben war schon gesagt worden, dass da zumindest die vorliegenden Artikel nur sehr allgemeine Informationen geben (anfangs harmlos, später gefährlich; das Auftauchen der Algen an immer mehr Orten). Nur einer (der letzte) Artikel deutet die Möglichkeit und Gefahr eines exponentiellen Wachstums an

(wobei doch sehr zu fragen wäre, ob man diese Erwähnung besser verschweigt, weil sie schon alles "verrät").

Solch allgemeine Aussagen haben nun Vor- und Nachteile:

  1. vielleicht ist überhaupt nicht an genauere (und damit realistische!) Daten zur quantitativen Vermehrung zu kommen, womit alle weiteren Überlegungen rein hypothetisch (und damit auch wenig befriedigend?) bleiben;
  2. vielleicht sind genauere Informationen

(soweit man an sie - etwa aus dem oben erwähnten Buch von Alexandre Meinesz oder von den zuständigen meeresbiologischen Instituten  [ ]- bekommen kann)

erheblich zu komplex für den Schulunterricht, denn schließlich verhält die Natur sich nicht "an sich" brav mathematisch oder zumindest nicht schulmathematisch:

Im 1. Fall wäre zu fragen, ob man ohne genauere Informationen überhaupt weiterarbeiten will. Wäre die Erfindung geeigneter Werte (die etwa auf lineare, quadratische oder exponentielle Funktionen führen) kontraproduktiv, weil eben gerade nicht mehr angewandt? Wäre das der Offenbarungseid, dass die Algenvermehrung eben doch wieder nur - letztlich beliebiger - Anlass für Mathematik war?

Dahinter verbirgt sich eine sehr wichtige Frage:

Inwieweit darf bzw. muss man Daten erfinden oder freundlich gesagt frisieren, unfreundlich gesagt fälschen?

Mir scheint, die Antwort muss differenziert sein:

  1. sollte man die Suche nach geeigneten Daten nicht zu früh aufgeben bzw. nicht von Anfang an unterstellen, dass es die "sowieso" nicht gibt; vielmehr können ja sogar die SchülerInnen bei der spannenden Suche nach Daten "eingespannt" werden;
  2. kann man ja mit den SchülerInnen zusammen aus der Not (mangelnden Daten) eine Tugend machen, d.h. das Problem explizit besprechen und dann fragen: welche verschiedenen Verläufe wären denn denkbar bzw. mehr oder weniger wünschenswert?
  1. es scheint mir noch immer überzeugender, von der Wirklichkeit aus bzw. in ihrem Sinne zu "lügen" (mögliche Zahlen zu einem echten Anwendungsproblem zu erfinden) als umgekehrt eine Wirklichkeit zu "erlügen" (ein Pseudoanwendungsproblem zu erfinden).

Zum 2. Problem, dass also durchaus vorliegende Daten erheblich zu komplex für den Schulunterricht sein können.

Auch hier wäre wohl der explizite Umgang mit dem Problem zu empfehlen, beispielsweise in der Form, dass die Lehrkraft ausdrücklich darauf hinweist und zeigt, dass bzw. wie sie die Daten vereinfacht hat. Nach Erkenntnissen am vereinfachten Beispiel könnte dann ja immer noch auf die schwierigeren Daten zurück gekommen und versucht werden, die Übertragbarkeit auf diese zu problematisieren.

Ganz entscheidend wichtig dabei ist natürlich, welches Vorwissen die SchülerInnen bereits haben und wo die "Algenaufgabe" in der konkreten Unterrichtsreihe steht.

Dabei ist zwischen a) allgemeinem Vorwissen  und b) aktuellem zu unterscheiden:

zu a): Beispielsweise kennen die SchülerInnen sicherlich schon (ist das erwartbar bzw. nutzbar) Verdopplungen, Verdreifachungen usw., auch wenn sie noch nichts von Exponentialfunktionen gehört haben.

zu b): Wenn beispielsweise Exponentialfunktionen schon theoretisch erarbeitet wurden und die Algenaufgabe "nur" ein Anwendungsbeispiel ist, werden die SchülerInnen fast sicher auf einen exponentiellen Verlauf tippen bzw. ihn vorschlagen. Oder böser gesagt: ab jetzt und für einige Zeit ist für sie jeder Verlauf ein exponentieller.

Das aber scheint mir doch - wie auch PISA zeigt - ein entscheidender Fehler unseres (meines) Mathematikunterrichts: dass immer schon von vornherein klar ist,

Könnte man all das nicht mal probeweise umgekehrt denken?: Die Algenaufgabe

Mein Vorschlag wäre also, solch eine (Algen-)Aufgabe mal unvermittelt einzubauen oder gar

eine Meta-Unterrichtseinheit "Denkbare bzw. praktisch sich ergebende Funktionsverläufe"

zu veranstalten

(wobei sich gleich die ewig gleiche, letztlich schon rhetorisch resignierte Frage stellt: woher im grassierenden Stoff- und Klausurdruck die Zeit dazu nehmen?).

Mit solch einem Unterrichtsvorschlag wird aber klar, dass echte Anwendungsaufgaben mindestens ebenso sehr auf eine "neue" Didaktik ( "was Mathematik eigentlich ist") wie auf eine "neue" Methodik hinauslaufen.

Am Algenbeispiel wäre zudem wichtig, dass jede Mathematisierung nur ein Zwischenzustand sein kann: Mathematik macht vielleicht die Gefährlichkeit der Situation überhaupt erst erkennbar, zeigt aber keinen eventuellen Lösungsweg, der - wenn überhaupt - nur interdisziplinär sein kann (Biologie, Politik ...).

Eine rein mathematische Behandlung der Algenaufgabe hielte ich aber für unverantwortlich.

PS: vgl. "mit Methode scheitern"