Stoffbegrenzung tut not

weniger ist mehr

 

"Ich denke, daß man selbst einem gesunden Raubtier seine Freßgier wegnehmen könnte, wenn es gelänge, es mit Hilfe der Peitsche fortgesetzt zum Fressen zu zwingen, wenn es keinen Hunger hat, besonders wenn man die unter solchem Zwang verabreichten Speisen endsprechend auswählte."
(Albert Einstein)

"Denn statt die Denkfähigkeit unseres Gehirns, also das Umgehen mit dem Stoff, zu entwickeln, wird dieses Gehirn in unseren Schulen und Universitäten immer noch herabgewürdigt zu einem [...] Stoffspeicher [...]"
(Frederic Vester: Denken, Lernen, Vergessen)

"Vollgestopfte Lehrpläne bremsen fortschrittliche [???] Pädagogen aus und diejenigen ohne Engagement verstecken sich dahinter. Lehrpläne sollten nur Ziele empfehlen und einige Lehr-Modelle vorschlagen. Der Rest sollte Sache der Schulen und der Lehrer sein. Das ist das Rezept der [Pisa-]Testsieger [...]."
(Klaus Hurrelmann)

 

vgl. auch

  1. wäre unabhängig von der Methode zu fragen, welcher Stoff überhaupt notwendig ist:

Es scheint mir dringend an der Zeit, den inhaltlichen Kanon mal darauf hin zu überprüfen, was wenn schon nicht überflüssig ist

(ich glaube nicht, dass es einen wirklich überflüssigen Stoff gibt: engagiert angegangen, ist jedes Thema interessant und auch im Hinblick auf allgemeine Verfahren ergiebig),

so zumindest doch fakultativ gestellt werden sollte - und was dringend gebraucht wird, weil

Es gibt zweifelsohne erfahrungsgemäß besonders gut geeignete Stoffe, z.B. im Fach Deutsch Goethes "Erlkönig" oder im Fach Mathematik "Die Satzgruppe des Pythagoras". D.h. der Stoffkanon, der sich in den letzten hundert Jahren herausgebildet hat, hat ja durchaus auch seine guten Gründe. Wie bei allem, was lange Gewohnheit ist, werden darunter aber auch weitertradierte Gegenstände sein, die tatsächlich nur noch aus Gewohnheit, ansonsten aber sinnentleert mitgeschleppt werden.

Es wäre daher mal dringend an der Zeit,  jeden einzelnen Stoff auf den Prüfstand zu stellen und unvoreingenommen seine Position im Gesamtcurriculum zu überprüfen.
Allerdings befürchte ich, dass da schnell ideologische Diskussionen losgehen werden, beispielsweise im Zeitalter von Computeralgebrasystemen über "Termumformungen ganz oder gar nicht".

Für höchst zweifelhaft (weil kognitiv völlig überfordernd) halte ich beispielsweise verschiedene Zahlensysteme in der 5. Klasse und die Art und Ausführlichkeit, in der Kongruenzabbildungen durchgenommen werden, also Selbstverständliches totproblematisiert wird (vgl. ).

Es ist halt ein Riesenirrtum zu meinen, mathematisches Denken und Können lasse sich überhaupt erst an den denkbar kompliziertesten Stoffen (v)ermitteln. Glatt im Gegenteil!

 Vgl. dazu etwa

Gegen beide Beispiele (Kreis- und Winkelsummenberechnung) könnte man natürlich einwenden, dass sie mit zu den größten mathematischen Ideen der Menschheitsgeschichte gehörten und eben nur von Genies entdeckbar seien. Aber ich plädiere ja gar nicht für vollständiges Selbstentdecken, sondern für "angeleitetes Selbstentdecken", bei dem markante Vorgehensweisen erfasst werden.)

  1. haben methodische änderungen (wenn man sie denn will) automatisch auch didaktische änderungen zur Folge. Wie z.B. jedeR, der mal Selbstlerneinheiten durchgeführt hat, weiß, brauchen sie einfach ihre Zeit - und zwar teilweise erheblich mehr als der "Standardunterricht", woraus man nur zwei Konsequenzen ziehen kann:
  1. und vor allem aber lassen sich Methode (wie) einerseits und Didaktik (was) andererseits überhaupt nicht fein säuberlich trennen, sondern sie stehen in einem Wechselverhältnis zueinander.
    Das ist etwa dann der Fall, wenn

Es gibt wohl kaum ein anderes Schulfach, das derart rabiat (und - wie mir scheint - unbewusst-selbstverständlich) vorstrukturiert und stofflich zugepflastert ist wie die Mathematik (vgl. auch ). Didaktische Freiheiten scheint es kaum mehr zu geben, und wegen der Stofffülle sind, wie oben gezeigt, auch die methodischen Freiheiten sehr begrenzt.

Was bisher viel zu wenig bedacht wird: ein stramm vorstrukturierter Stoff sorgt dafür, dass immer nur Dinge durchgenommen werden (können), die exakt zum derzeitigen Stoff passen, und dass SchülerInnen deshalb nur in solchen "Gleisen" denken können. Wundert es einen da, wenn sie schlecht in   abschneiden, das sich ja gerade nicht an solche stramme Fachsystematik hält?

Zudem lernen deutsche SchülerInnen zu viele nackte Fakten statt Bedeutungen bzw. "Funktionen". Als beispielsweise im Deutschunterricht zwar, was Adverbiale sind, nicht aber (oder viel zu wenig) Bedeutungsunterschiede im Kontext.

Ich würde daher vorschlagen,

sich schulintern, aber auch landes- und bundesweit auf einen absolut notwendigen Minimalkonsens zu einigen.

Vorerst gelten die derzeitigen Richtlinien, an die man sich zu halten hat. Bei ihnen wäre allerdings zu überlegen:

Bei vielen mathematischen Themen reicht es, sie exemplarisch zu behandeln - aber dafür nur um so tiefgründiger ("weniger ist mehr"). Ich bin also durchaus der Meinung, dass Stoffbegrenzung - um es ausnahmsweise mit einem derzeitigen Modewort zu sagen - mehr Qualität (statt eben Quantität) hervorbringen könnte.

Es wäre zu überlegen, ob nicht nicht auch in Mathematik etwas ähnliches möglich ist wie an meiner Schule im Fach Deutsch:

Ist das wirklich "von der Sache her" ausgeschlossen? "»Geht nicht« gibt es nicht!"

Wenn möglich (?), würde ich vorschlagen,

den Minimalkonsens derart knapp zu halten, dass er höchstens ¼ des jeweiligen Schuljahres einnähme.

In der restlichen Zeit wäre dann ENDLICH mal Zeit für

Die Frage bei meinem ¼-Vorschlag ist, ob man den LehrerInnen zutraut, die restlichen ¾ verantwortlich und engagiert zu füllen (ohne dabei allerdings ausschließlich in "esoterische" Privathobbys abzuschweifen).

Aber es scheint mir doch ein Widerspruch in sich zu sein, dass man SchülerInnen Selbstlernen vermitteln will, es (Selbstlernen und -lehren) aber LehrerInnen nicht zutraut.

Umgekehrt sorgt ein starres Gerüst von Vorschriften nur für "Dienst nach Vorschrift".

Ich vertraue also auf die Freiheit: dass sie nicht zu Laxheit, sondern zu mehr Kreativität verführt.

(Schwarze Schafe gibts immer, aber eben auch schon im derzeitigen System.)

Es bleibt ja jedem unbenommen, weiterhin aus einigen durchaus guten Gründen den Standardstoffkanon zu unterrichten.

Kein Argument scheint mir die derzeit vielbeschworene (und höchst problematische) Vergleichbarkeit zu sein:

  1. existiert ja der abprüfbare Minimalkonsens,
  2. lernen die SchülerInnen an unterschiedlichen Themen ja doch immer exemplarisch dasselbe, nämlich grundsätzliche Probleme sowie Denk- und Verfahrensweisen der Gesamtmathematik wie auch jeweils ihrer Untergebiete.
    (Genauso, wie es - abgesehen von Epochen- und Personentypischem - im Deutschunterricht letztlich egal ist, ob man Goethe- oder Brechtgedichte behandelt. In beiden Fällen wird man alles in allem dasselbe lernen, nämlich was  große Kunst [Herstellung und Rezeption] ist.)

Ein Problem der Rahmenrichtlinien besteht darin, dass sie

Alles zusammen ist aber einfach zu viel, und deshalb wird man Kompromisse eingehen müssen. Dabei ist zu bedenken (bzw. zu fordern!), dass der Stoff keineswegs im Vordergrund steht, sondern problemorientiertes Denken und die Methoden gleichberechtigt sind, so dass der Kompromiss ab und zu eben auch gegen den Stoff ausfallen kann und muss.

Zwar sind die neuen baden-württembergischen Richtlinien noch immer viel überladen (ist also die Wahlfreiheit eher vorgeschoben), aber immerhin wird da schon in die richtige Richtung gedacht:

"Um den unterrichtlichen Freiraum der Kolleginnen und Kollegen zu erweitern, wurden die Inhalte teilweise »kompakter« und bewusst unschärfer formuliert, außerdem ermöglichen Wahlmodule die Betonung individueller Schwerpunkte."

Immerhin stimmt da schon die Richtung bzw. Absicht. Weiter so!

PS: Wieso eigentlich darf ich mir im Rahmen gewisser Vorgaben als Deutschlehrer die Bücher aussuchen, die ich mit den SchülerInnen erarbeiten will, bin ich aber als Mathematiklehrer in ein straffes Korsett aus Inhalten eingezwängt?

Und der Tod jeder Freiheit ist natürlich das Zentralabitur (vgl. ).

PPS: Wir brauchen ein mathematisches äquivalent zu
Friedrich Herrmann u.a.: Altlasten der Physik; Aulis Verlag

(vgl. Band 2 )

"Obwohl als leichte Lektüre in 64 Einzelartikeln und manchmal etwas ironisch geschrieben, sollte man das Buch durchaus ernst nehmen. Es kann durchaus auch als Beitrag zur PISA-Diskussion aufgefasst werden. Die Autoren spießen Unstimmigkeiten, die sich im Laufe der Jahrzehnte im Physikkanon eingenistet haben, auf und beweisen: viele der bekannten Unterrichtsprobleme sind hausgemacht. Sie kommen zustande,  weil man physikalische Größen, die leicht mit Hilfe unseres Alltagswissens verstanden werden könnten, nicht einführt und stattdessen komplizierte Ersatzkonstruktionen benutzt durch eine Fachsprache, die mehr überflüssige als nützliche Begriffe enthält weil veraltete Grundkonzepte hartnäckig beibehalten werden, obwohl es modernere, einfachere gibt. Hier will das Buch etwas bewegen!"