Stoffbegrenzung tut not
weniger ist mehr
"Ich denke, daß man selbst einem gesunden Raubtier seine Freßgier wegnehmen könnte, wenn es gelänge, es mit Hilfe der Peitsche fortgesetzt zum Fressen zu zwingen, wenn es keinen Hunger hat, besonders wenn man die unter solchem Zwang verabreichten Speisen endsprechend auswählte." "Denn statt die Denkfähigkeit unseres Gehirns, also das Umgehen mit dem Stoff, zu entwickeln, wird dieses Gehirn in unseren Schulen und Universitäten immer noch herabgewürdigt zu einem [...] Stoffspeicher [...]" "Vollgestopfte Lehrpläne bremsen fortschrittliche [???] Pädagogen aus und diejenigen ohne Engagement verstecken sich dahinter. Lehrpläne sollten nur Ziele empfehlen und einige Lehr-Modelle vorschlagen. Der Rest sollte Sache der Schulen und der Lehrer sein. Das ist das Rezept der [Pisa-]Testsieger [...]." |
Es scheint mir dringend an der Zeit, den inhaltlichen Kanon mal darauf hin zu überprüfen, was wenn schon nicht überflüssig ist
(ich glaube nicht, dass es einen wirklich überflüssigen Stoff gibt: engagiert angegangen, ist jedes Thema interessant und auch im Hinblick auf allgemeine Verfahren ergiebig),
so zumindest doch fakultativ gestellt werden sollte - und was dringend gebraucht wird, weil
es später nochmals benötigt wird bzw. Späteres darauf aufbaut,
an ihm eine Verfahrensweise besonders gut klar gemacht und geübt werden kann,
es eine wichtige mathematische "Idee" beinhaltet.
Es gibt zweifelsohne erfahrungsgemäß besonders gut geeignete Stoffe, z.B. im Fach Deutsch Goethes "Erlkönig" oder im Fach Mathematik "Die Satzgruppe des Pythagoras". D.h. der Stoffkanon, der sich in den letzten hundert Jahren herausgebildet hat, hat ja durchaus auch seine guten Gründe. Wie bei allem, was lange Gewohnheit ist, werden darunter aber auch weitertradierte Gegenstände sein, die tatsächlich nur noch aus Gewohnheit, ansonsten aber sinnentleert mitgeschleppt werden.
Es wäre daher mal dringend an der Zeit, jeden einzelnen Stoff auf den Prüfstand zu stellen und unvoreingenommen seine Position im Gesamtcurriculum zu überprüfen.
Allerdings befürchte ich, dass da schnell ideologische Diskussionen losgehen werden, beispielsweise im Zeitalter von Computeralgebrasystemen über "Termumformungen ganz oder gar nicht".Für höchst zweifelhaft (weil kognitiv völlig überfordernd) halte ich beispielsweise verschiedene Zahlensysteme in der 5. Klasse und die Art und Ausführlichkeit, in der Kongruenzabbildungen durchgenommen werden, also Selbstverständliches totproblematisiert wird (vgl. ).
Es ist halt ein Riesenirrtum zu meinen, mathematisches Denken und Können lasse sich überhaupt erst an den denkbar kompliziertesten Stoffen (v)ermitteln. Glatt im Gegenteil!
Vgl. dazu etwa
"Ein sehr einfaches Problem kann uns einen Begriff von Eudoxus' [408-355 v. Chr.] Bedeutung geben. Um den Flächeninhalt eines Rechtecks zu finden, multipliziert man dessen Länge mit seiner Breite; dies ist einleuchtend, bietet aber sogleich ernste Schwierigkeiten, wenn nicht beide Seiten mit rationalen Zahlen meßbar sind. Diese besonderen Schwierigkeiten treten in der nächst einfachsten Art von Problem noch deutlicher zutage, nämlich bei der Bestimmung der Länge einer gekrümmten Linie oder des Flächeninhalts einer gekrümmten Fläche oder eines von gekrümmten Flächen eingeschlossenen Volumens.
Jeder begabte Junge [und ebenso natürlich jedes Mädchen!], der sein mathematisches Können erproben will, mag versuchen, eine Methode zur Lösung dieser Probleme zu finden. Wie würde er, wenn er es in der Schule noch nicht gelernt hat, wohl vorgehen, um einen strengen Beweis für die Formel des Umfangs eines Kreises bei einem gegebenen Radius zu finden? Wer das aus eigener Kraft fertigbringt, kann sich mit Recht für einen Mathematiker ersten Ranges halten. Sobald man über die von geraden Linien oder ebenen Flächen begrenzten Figuren hinausgeht, rennt man geradewegs in die Probleme der Kontinuität, in die Rätsel des Unendlichen und in das Labyrinth der irrationalen Zahlen. Eudoxus schuf die erste logisch zufriedenstellende Methode zur Behandlung solcher Probleme, die Euklid im fünften Buch seiner »Elemente« wiedergab. In seiner Exhaustionsmethode, die er bei der Berechnung von Flächen und Volumina anwandte, zeigte Eudoxus, daß wir nicht die »Existenz« von »unendlich kleinen Mengen« annehmen müssen; es genügt für die Zwecke der Mathematik, daß wir durch die fortgesetzte Teilung einer gegebenen Größe eine beliebig kleine Größe erreichen.""[Blaise Pascals (1623 - 1662)] erste sensationelle Tat [im Alter von zwölf Jahren] bestand darin, gänzlich aus eigener Initiative und ohne irgendeine Anregung aus Büchern zu beweisen, daß die Winkelsumme eines Dreiecks gleich zwei rechten Winkeln ist."
(beide Zitate nach: E.T. Bell: "Die großen Mathematiker")Gegen beide Beispiele (Kreis- und Winkelsummenberechnung) könnte man natürlich einwenden, dass sie mit zu den größten mathematischen Ideen der Menschheitsgeschichte gehörten und eben nur von Genies entdeckbar seien. Aber ich plädiere ja gar nicht für vollständiges Selbstentdecken, sondern für "angeleitetes Selbstentdecken", bei dem markante Vorgehensweisen erfasst werden.)
- entweder führt man solche Selbstlerneinheiten (wenn überhaupt) nur sehr selten durch,
- oder man kürzt irgendwo den Stoff.
Es gibt wohl kaum ein anderes Schulfach, das derart rabiat (und - wie mir scheint - unbewusst-selbstverständlich) vorstrukturiert und stofflich zugepflastert ist wie die Mathematik (vgl. auch ). Didaktische Freiheiten scheint es kaum mehr zu geben, und wegen der Stofffülle sind, wie oben gezeigt, auch die methodischen Freiheiten sehr begrenzt.
Was bisher viel zu wenig bedacht wird: ein stramm vorstrukturierter Stoff sorgt dafür, dass immer nur Dinge durchgenommen werden (können), die exakt zum derzeitigen Stoff passen, und dass SchülerInnen deshalb nur in solchen "Gleisen" denken können. Wundert es einen da, wenn sie schlecht in abschneiden, das sich ja gerade nicht an solche stramme Fachsystematik hält?
Zudem lernen deutsche SchülerInnen zu viele nackte Fakten statt Bedeutungen bzw. "Funktionen". Als beispielsweise im Deutschunterricht zwar, was Adverbiale sind, nicht aber (oder viel zu wenig) Bedeutungsunterschiede im Kontext.
Ich würde daher vorschlagen,
sich schulintern, aber auch landes- und bundesweit auf einen absolut notwendigen Minimalkonsens zu einigen. |
Vorerst gelten die derzeitigen Richtlinien, an die man sich zu halten hat. Bei ihnen wäre allerdings zu überlegen:
Bei vielen mathematischen Themen reicht es, sie exemplarisch zu behandeln - aber dafür nur um so tiefgründiger ("weniger ist mehr"). Ich bin also durchaus der Meinung, dass Stoffbegrenzung - um es ausnahmsweise mit einem derzeitigen Modewort zu sagen - mehr Qualität (statt eben Quantität) hervorbringen könnte.
Es wäre zu überlegen, ob nicht nicht auch in Mathematik etwas ähnliches möglich ist wie an meiner Schule im Fach Deutsch:
Ist das wirklich "von der Sache her" ausgeschlossen? "»Geht nicht« gibt es nicht!"
Wenn möglich (?), würde ich vorschlagen,
den Minimalkonsens derart knapp zu halten, dass er höchstens ¼ des jeweiligen Schuljahres einnähme. |
In der restlichen Zeit wäre dann ENDLICH mal Zeit für
Die Frage bei meinem ¼-Vorschlag ist, ob man den LehrerInnen zutraut, die restlichen ¾ verantwortlich und engagiert zu füllen (ohne dabei allerdings ausschließlich in "esoterische" Privathobbys abzuschweifen).
Aber es scheint mir doch ein Widerspruch in sich zu sein, dass man SchülerInnen Selbstlernen vermitteln will, es (Selbstlernen und -lehren) aber LehrerInnen nicht zutraut.
Umgekehrt sorgt ein starres Gerüst von Vorschriften nur für "Dienst nach Vorschrift".
Ich vertraue also auf die Freiheit: dass sie nicht zu Laxheit, sondern zu mehr Kreativität verführt. (Schwarze Schafe gibts immer, aber eben auch schon im derzeitigen System.) |
Es bleibt ja jedem unbenommen, weiterhin aus einigen durchaus guten Gründen den Standardstoffkanon zu unterrichten.
Kein Argument scheint mir die derzeit vielbeschworene (und höchst problematische) Vergleichbarkeit zu sein:
Ein Problem der Rahmenrichtlinien besteht darin, dass sie
Alles zusammen ist aber einfach zu viel, und deshalb wird man Kompromisse eingehen müssen. Dabei ist zu bedenken (bzw. zu fordern!), dass der Stoff keineswegs im Vordergrund steht, sondern problemorientiertes Denken und die Methoden gleichberechtigt sind, so dass der Kompromiss ab und zu eben auch gegen den Stoff ausfallen kann und muss.
Zwar sind die neuen baden-württembergischen Richtlinien noch immer viel überladen (ist also die Wahlfreiheit eher vorgeschoben), aber immerhin wird da schon in die richtige Richtung gedacht:
"Um den unterrichtlichen Freiraum der Kolleginnen und Kollegen zu erweitern, wurden die Inhalte teilweise »kompakter« und bewusst unschärfer formuliert, außerdem ermöglichen Wahlmodule die Betonung individueller Schwerpunkte."
Immerhin stimmt da schon die Richtung bzw. Absicht. Weiter so!