scheiß' auf den Abidurchschnitt!

Es gibt zwei erstaunliche Fähigkeiten des Kapitalismus‘, für die man bei aller Kapitalismuskritik doch mal dankbar sein kann:

  1. schafft der Kapitalismus

(zumindest in den reichen Ländern für die Mittel- und Oberschicht, also „uns“)

eine fast vollständige und prompte materielle Versorgung

(ich staune schon allein immer über die dazu nötige hochkomplexe Logistik),

  1. bietet er Güter auch noch für das hinterletzte Interesse an

(bzw. erzeugt dieses Interesse überhaupt erst;

erstaunlich finde ich es aber auch, dass es für jeden Quatsch einen Unternehmer gibt, der seine Berufung darin sieht, damit sein Geld zu verdienen).

Man gehe beispielsweise nur mal in die erstbeste gutsortierte Bahnhofsbuchhandlung: da gibt es aber auch noch für das abgelegenste Hobby mindestens eine Zeitschrift, also z.B. die beiden Mode-Herrenmagazine und

(denn schließlich braucht ein „richtiger“ Mann im Leben nicht mehr als

;

merke: es ist alles noch viel bescheuerter, als man es sich in seinen abgedrehtesten Träumen vorstellen kann).

Und wirklich urkomisch fand ich vor einigen Jahren

(auch in einer Bahnhofsbuchhandlung)

das Buch oder genauer: seinen Titel. Da fehlt der Vollständigkeit halber eigentlich nur noch das Buch .

(Aber vielleicht ist die allumfassende Versorgung gar nicht so erstaunlich: in Deutschland leben 80 Millionen Menschen, und wenn davon [eine willkürlich gewählte Zahl:] jeder hundertste Unternehmer ist, sind das noch immer 800 000. Weder die Zahl 800 000 noch gar die Zahl 80 000 000 sind aber für mich vorstellbar.

Das ist wie mit der Evolution: die Anzahl der Jahre, in denen sie stattgefunden hat [ca. 3 Millarden] ist derart unvorstellbar, dass sie [die Evolution] abstrakt bleibt, weshalb es auch so viele Leute gibt, die sie leugnen.)


Und so ist mir dann letztens das Buch in die Hände gefallen. Als ich es mal schnell durchgeblättert habe, bin ich im Vorwort bei folgender Textstelle hängen geblieben:

Wie aber kommt solch eine Abrechnung mit dem Schulsystem ausgerechnet in ein Hundebuch?:

über Schulen und das Schulsystem meint ja jeder Erwachsene mitreden zu können (dürfen),

(das läßt sich über kaum einen anderen Lebensbereich sagen:)

selbst mal Schüler war und da wohl auch mal (oder andauernd) Negatives erlebt hat, das evtl. sogar derart wehtat, dass die Narben ein Leben lang schmerzen

(vgl. ),

(und in einigen Familien setzen die Eltern ihre Kinder noch sehr viel mehr unter Druck: „ohne [erstklassiges] Abitur hast du keine Chance im Leben, ja bist du ein Nichts“).

Kein Wunder also, dass auf Ebene der Bundesländer Schulpolitik das wichtigste, teilweise wahlentscheidende Thema ist: es gibt so einige Regierungen, die vom Wähler vor allem wegen ihrer verfehlten Schulpolitik abgesägt wurden.

Ich hatte oben mit “meint ja jeder [...], mitreden zu können (dürfen)“ unausgesprochen und doch allzu offensichtlich unterstellt, das das, was

  und

so zu Schulen und dem Schulsystem absondern, oftmals von keiner Ahnung getrübt ist

(und häufig rein subjektiv oder gar egoistisch bleibt:

Subjektives und Egoismus können aber doch nicht [alleinige] Entscheidungskriterien eines aufgeklärten Bürgers sein: ich wähle doch z.B. eine Partei nicht deshalb, weil sie meine direkten [materiellen] Interessen vertritt).

Vor allem aber beten solche „Laien“ allzu oft nur die gängigen Phrasen nach, nämlich z.B.

Merkwürdig nur, dass ich bislang jeden Bekannten, der so sprach, innerhalb von zehn Minuten vom Gegenteil überzeugt habe!

Nun sind allerdings die meisten Schul-„Experten“

(in Universitäten sowie der Schulpolitik und -bürokratie)

ja auch nicht schlauer, sondern glatt im Gegenteil haben sie doch über Jahre hinweg die Phrasen

die das “breite“ Publikum dann nur brav nachgebetet hat.

Aber zurück zu

und jetzt konkreter:

„[...] dort am meisten zu lernen [oder eben gerade nicht zu lernen, sondern nur zu üben, arbeiten, ackern], wo sie [= die Schüler] die schlechtesten Noten haben [...]“

und somit enorm viel Lebenszeit mit Negativem (dem Nicht-Können) zu verbringen;

(und das heißt auch: den Sinn von Nicht-Verwertbarem, also vordergründig Sinnlosem)

zu vermitteln

(wobei

letztlich geht es mir hier aber um die Textpassage

„Hätte ich doch mehr Klavier gespielt, mehr Englisch gesprochen, ein Pferd gepflegt und Malunterricht bekommen, statt an einem nichtssagenden Abi-Durchschnitt zu feilen, den nach der Abschlussfeier niemanden mehr interessiert hat.“

Von allen Schulfächern bleiben da (zumindest für die Autorin) nur die Fächer Musik, Englisch, Biologie und Kunst übrig - und die als eigenes Handeln:
Nun ist solch ein rein praktischer Bildungsbegriff ja ebenso einseitig wie der umgekehrte, also rein kognitive, der bislang doch weitgehend die Schulen beherrscht.

(Und überhaupt weigere ich mich ja rabiat

[ohne jetzt "ganzheitlich"-esoterisch zu werden],

die ewig gleiche [gähn!] fatale strikte Trennung und das Gegeneinander-Ausspielen von

[die Dummen stehen da immer auf der linken, die Nerds auf der rechten Seite]

überhaupt noch mitzumachen)
;

"[...] statt an einem nichtssagenden Abi-Durchschnitt zu feilen, den nach der Abschlussfeier niemanden mehr interessiert hat.“


Da höre ich schon den Einwand, dass der Abi-Durchschnitt

(Musterbeispiel Medizin)

von erheblicher Bedeutung sei.

Wogegen ich wiederum einwende:

  1. geht es eben nicht nur um Berufe

(neudeutsch "Karriere"; vgl. die Radiosendung , obwohl der Deutschlandfunk ansonsten doch einer der wenigen seriöser Sender ist),

sondern auch um die sonstige "Lebens-Glückseligkeit"

(so fundamental die Ökonomie [das tägliche Essen auf dem Tisch] ja ist: eine rein ökonomische „Existenz“ ist auch nur ein  Dahin-Vegetieren).
  1. schwant ja inzwischen sogar dem Bundesverfassungsgericht, dass die Auswahl der (Medizin-)Studenten fast ausschließlich über den "Numerus clausus" ziemlicher Blödsinn ist:

Und sogar (hörthört!) der "Hartmannbund", also die erzkonservative Besitzstandsvertretung der Ärzte

(das Lehrer-Pendant ist da nebenbei der ),

zweifelt inzwischen daran, dass man über den "Numerus clausus" die geeignetsten Ärzte finden kann: 

  1. sind die derzeit jungen Leute doch sowieso so wenige

("Deutschland stirbt aus, schnief!"),

dass sie

(selbst wenn der Computer ganze Berufsfelder wegmähen sollte)

so oder so und mit egal welchem Abi-Durchschnitt dringend gebraucht werden;

  1. ist es zwar die Ochsentour, bei einem "schlechten" Abiturdurchschnitt jahrelang auf einen Medizin-Studienplatz zu warten, aber ich habe einen Riesenrespekt vor Leuten, denen der Arztberuf so sehr am Herzen liegt, dass sie diese Beschwernis auf sich nehmen!

Und ich kann mir gut vorstellen, dass jemand, der in der Wartezeit den Krankenpfleger- oder Sanitäterberuf gelernt hat, sogar der bessere Arzt wird, weil er die Medizin von der Pieke auf gelernt hat und später im Arztberuf sehr viel mehr „vom Patienten aus“ denkt.

Nun sorgt solch eine lange Wartezeit natürlich dafür, dass man erst sehr spät Arzt wird

(und die komplette Arztausbildung dauert ja sowieso schon ewig lang),

und das hat natürlich massive Auswirkungen auf die Lebensplanung

(insbesondere von Frauen, die Kinder bekommen wollen?),

aber die derzeit jungen Leute müssen ja gar nicht unbedingt sofort in ihre Berufe einsteigen, weil sie ja sowieso bis 87 arbeiten müssen

(um "unsere" Rente zu verdienen).


Am meisten zu Herzen gegangen ist mir aber das Satzfragment

"[...] an einem nichtssagenden Abi-Durchschnitt zu feilen [...]".

Das läßt mich nämlich an jene Schüler denken

(vgl. etwa ),

die

(und oftmals wohl auch nicht gerade sonderlich intelligent),

(was durch das derzeitige Schulsystem natürlich besonders gefördert wird).


Ich kann mitreden:

ich

(als das noch eine Seltenheit war; vgl. Bild  )

mein Abitur mit dem Durchschnitt 1,5 gemacht

(nebenbei: eine Freundin hat damals ihr Abitur mit dem Durchschnitt 1,4 gemacht - und ist dann "nur" Förderschullehrerin geworden; und andauernd ist sie gefragt worden, warum sie mit solch einem Abi-Durchschnitt nicht was "Richtiges", also Medizin studiert hat).

Es geht mir dabei keineswegs darum, mit meinem Abidurchschnitt anzugeben, sondern er hat nur den Vorteil, dass man mir meine Aversion gegen die Dominanz des Abidurchschnitts vielleicht doch eher abnimmt, nämlich nicht bloß als "Neid der Dummen" ansieht.

(Nebenbei:

Und im Nachhinein denke ich mir manchmal doch auch (wie die Autorin des o.g. Buchs), dass ich weniger Zeit darauf hätte verschwenden sollen, "[...] an einem nichtssagenden Abi-Durchschnitt zu feilen [...]".

Allerdings habe ich's ja nicht der Noten und des Abidurchschnitts wegen getan, sondern weil mich

(allerdings erst in der Oberstufe)

der Schulstoff wirklich interessierte.

Ich denke aber auch an meinen jüngeren Bruder, der sicherlich nicht weniger intelligent war und ist als ich, aber die Schule auf Sparflamme abgefeiert und "nur" einen Abischnitt von 2,5 erreicht hat

(als ich ihn dann doch mal [nein, nicht mit dem , sondern viel schlimmer:] mit einem Mathebuch erwischt habe, habe ich messerscharf und richtig darauf geschlossen, dass am Tag drauf seine Mathe-Abiturprüfung war):

es gehört ja auch Intelligenz dazu, die Schule mit möglichst geringem Arbeitsaufwand runterzureißen - aber eben doch immer so gerade eben durchzukommen.

Denn es gibt ja auch ein Leben vor dem Tod bzw. außerhalb der Schule.


PS:

die "Volvic-Mädchen" sind natürlich nur ein Ausschnitt bzw. Klischee

(und Ausnahme bestätigen eben nicht die Regel, sondern widerlegen sie),

aber ab und zu ist an Klischees doch "was dran"

(aber es gibt nicht - wie Thilo Sarrazin so unsäglich behauptet hat - ein "Juden-Gen").

Umgekehrt gibt es aber auch ein Jungen-Klischee:

  • noch halbwegs positiv gesagt: sie springen nur ein ganz klein wenig höher als die Latte (die schulischen Anforderungen)

(und lassen sich auf diese Weise inzwischen von den Mädchen "die Butter von der Stulle nehmen"?),

  • negativ gesagt: sie saufen wie die Löcher, machen "auf dicke Hose" / "cool" (= kalt), d.h. verhalten sich wie   - und verachten all das, was man früher mal "Bildung" genannt hat.

(Naja, die "Volvic-Mädchen" haben auch kein originäres Interesse an Schulfächern, sondern lernen nur - wie schon gesagt - den Noten zuliebe.

Überhaupt ist es ja vielleicht ein bisschen viel verlangt, dass Schüler sich für Schulfächer interessieren:

      1. gibt es für sie Wichtigeres im Leben

[z.B. das andere Geschlecht,  , Popmusik oder Computerspiele],

      1. hat ihnen der gängige Schulunterricht ja oftmals überhaupt erst gründlich jedes Interesse an Schulfächern ausgetrieben.

Und doch habe ich als Lehrer manchmal Schüler mit echtem [auch kritischem] Bildungsinteresse und -ehrgeiz vermisst. Aber das ist "unseren" Lehrern früher vermutlich auch schon so ergangen. Zumindest kann ich mich noch bestens an den Ausbruch meines sonst so vornehmen Deutschlehrers erinnern:

"ich lass' mir von euch Banausen doch nicht meinen Schiller an die Karre pinkeln"

[... wobei es mich schon damals tief beeindruckt hat, dass da jemandem noch etwas [seine Form von Bildung] "heilig" war;

nebenbei: Lehrer bzw. Eltern machen sich allzu selten klar, wie oft umgekehrt sie das "in den Dreck treten", was ihren Schülern bzw. Kindern Herzensangelegenheit ist.])