die andere Seite von Anwendungsaufgaben

Vorweg: hier soll nicht (nochmals) Thema sein, was ich schon vielfach anderweitig beklagt habe: dass viele vermeintliche "'Anwendungsaufgaben" in Wirklichkeit keine echten Anwendungsaufgaben, sondern nur "eingekleidete" Mathematik sind.


 
Alles hat seine Zeit
und jegliches Vornehmen
unter dem Himmel seine Stunde.
Geborenwerden hat seine Zeit,
und Sterben hat seine Zeit;
Pflanzen hat seine Zeit,
und Gepflanztes ausreißen hat seine Zeit.
Töten hat seine Zeit, und Heilen hat seine Zeit;
Zerstören hat seine Zeit, und Bauen hat seine Zeit.
Weinen hat seine Zeit, und Lachen hat seine Zeit;
Klagen hat seine Zeit, und Tanzen hat seine Zeit.
Steine schleudern hat seine Zeit,
und Steine sammeln hat seine Zeit;
Umarmen hat seine Zeit,
und sich der Umarmung enthalten hat auch seine Zeit.
Suchen hat seine Zeit,
und Verlieren hat seine Zeit;
Aufbewahren hat seine Zeit,
und Wegwerfen hat seine Zeit.
Zerreißen hat seine Zeit,
und Flicken hat seine Zeit;
Schweigen hat seine Zeit,
und Reden hat seine Zeit.
Lieben hat seine Zeit,
und Hassen hat seine Zeit;
Krieg hat seine Zeit,
und Friede hat seine Zeit.

(Prediger 3, 1-8)

"Alles hat seine Zeit":

  1. den "menschlichen" Implikationen von Anwendungsaufgaben nachzugehen;
  2. später dann Anwendungsaufgaben nur noch als Rohstoff zu betrachten, dem möglichst schnell der mathematische Kern zu entnehmen ist.

Aber regelrecht obszön ist es, wie oftmals im Unterricht immer nur 2. zu tun!

(Mathematiker sind da manchmal wie Katholiken, die aus jedem Elend eine Messe quetschen, also z.B. "Ab heute, 5.45 h, wird zurückgebetet.")

Nein, man nehme die Inhalte doch mal "ernst"

(und zwar - wie im Folgenden bei der Aidsaufgabe - manchmal bitter ernst!)

wie z.B. in Bild .


  "Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit."
(Albert Einstein)

Keine Ahnung, wo ich folgende Aufgabe her habe: 

                       Zu Beginn der Aids-Epidemie in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde in den USA folgende Statistik erstellt:

Zeitpunkt

Januar 1981

Juli 1981

Januar 1982

Januar 1983

August 1983

März 1984

Oktober 1984

Aids-Neuerkrankungen

81

112

279

900

1808

3395

5480

A) Zeichne in ein Koordinatensystem die zugehörigen Punkte ein. Beachte dabei:

1.  auf der x-Achse wird die Zeit in Monaten seit Januar 1981 (= Zeitpunkt 0) eingetragen; Maßstab der x-Achse: ein Monat entspricht 2 mm;

2.  auf der y-Achse wird die Zahl der jeweiligen Aids-Neuerkrankungen eingetragen; Maßstab der y-Achse: 100 Erkrankte entsprechen 2 mm.

B) Verbinde die Punkte durch eine Kurve und diskutiere, ob annähernd eine Exponentialfunktion vorliegt.

C) Leite aus dem ersten und letzten Zeitpunkt eine Exponentialfunktion der Form y = b ax her

       (a darf dabei auf eine Stelle hinter dem Komma gerundet werden).

       Tipps: a) Wie viele Monate lag der Oktober 1984 nach dem Januar 1981?

                 b) herzuleitendes Ergebnis: y = 81 1,1x )

D) Welche Prognose lässt sich aus der in C) gefundenen Exponentialfunktion y = 81 1,1x für die Zahl der Aids-Neuerkrankungen in den USA im Januar 2007 ableiten?

       (Tipp: Wie viele Monate liegt der Januar 2007 nach dem Januar 1981?)

E) Wann erreicht die Funktion y = 81 1,1x die Schwelle von 100.000 Aids-Neuerkrankungen?

Hier soll nicht der mathematische Lösungsweg vorgeführt werden - und auch nur ganz kurz behandelt werden, ob die Aufgabe sinnvoll gestellt ist:

(... wobei die Aufgabe sowieso den Nachteil hat, dass immer von Aids-NEUerkrankungen die Rede ist, man summa summarum also auch die vorher Erkrankten mitrechnen [und die bereits Verstorbenen wieder abziehen] müsste: es ekelt einen fast bei solchem Rechnen mit Menschenleben!)

Nein, E) ist ein Musterbeispiel dafür, dass sinn- und verstandlos noch schnell eine rein innermathematische Aufgabe, nämlich die Anwendung des Logarithmus, eingebracht werden sollte.

Aber E) wäre doch leicht "sinnvoll" zu machen, indem man fragen würde, wann genau die Aids-Neuerkrankungszahl die Zahl aller Amerikaner erreicht hat (bzw. hätte).

Ebenfalls nicht weiter betrachtet sei, ob die in der Aufgabe genannten Zahlen zuverlässig sind.


Meine Frage ist vielmehr, ob es nicht geradezu pervers ist, Aids-Erkrankungen als - horribile dictu - Rohstoff für Mathematik zu benutzen:

Nun ist aber keine Situation denkbar, in der eine nachträgliche Berechnung

(zudem noch Tausende von Kilometer entfernt)

irgendwie hilft. Die Berechnung bleibt also uneinholbar fiktiv, und bereits das könnte man als pervers bezeichnen.

Im Grunde lässt sich nur die Situation jener Statistiker simulieren, die kurz nach 1984 erste Berechnungen zur Aids-Neuerkrankungs-Zahl in den USA durchgeführt haben.

Was mag ihre Motivation gewesen sein, bzw. warum rechnet man überhaupt solche Anwendungsaufgaben?

Ziel ist es doch wohl,

  1. einem beginnenden, noch unklaren Prozess seine vermutliche Gesetzmäßigkeit abzulesen, also im vorliegenden Fall herauszufinden, ob die Entwicklung z.B. "nur" (schon schlimm genug!) linear oder sogar (noch viel schlimmer) exponentiell verläuft;
  2. mittels der vermuteten Exponentialfunktion Vorhersagen treffen zu können

(im Grunde reicht da die Feststellung einer exponentiellen Wachstumsfunktion, denn solche Funktionen explodieren immer über alle Maßen).

  1. aufgrund der Zukunftsvoraussagen vor der erwartbaren Entwicklung zu warnen und somit
  2. politische, medizinische, individuelle ... Verhaltensänderung zu erreichen, damit die Zukunftsvoraussagen nicht wahr werden

(nebenbei: die Zukunftsvoraussage "Exponentialfunktion" kann sowieso nicht für alle Zeiten wahr werden, denn selbstverständlich gäbe es dann irgendwann rein theoretisch mehr Neuerkrankte, als es überhaupt Amerikaner gibt: eine humanitäre Katastrophe, unter der jede Exponentialfunktion zusammenbrechen würde).

Ziel verantwortlicher Mathematiker wäre es also, nicht recht zu behalten, weshalb man ihnen im Nachhinein schnöde vorwerfen könnte, dass ihr ganzer Ansatz falsch war

(vgl. die vielen Verharmlosungen nach   ).

Mit 1. und 2. nimmt man dabei schon für fast alle solche Anwendungsaufgaben Wichtiges durch. Aber das allein reicht im Hinblick auf die vorliegende Aufgabe noch nicht.

Sondern nach der mathematischen Durchführung der Aufgabe müsste noch gefragt werden, warum die "totsichere" Prophezeiung, dass rasend schnell alle Amerikaner (und dann bald auch der "Rest der Welt") aidsinfiziert sein würde(n), dann doch nicht eingetreten ist.

"Müsste", weil uns dazu Hintergrundwissen fehlt

(bzw. die Aufgabe es uns vorenthält!),

aber auch, weil es dafür vermutlich keinen eindimensionalen Grund gibt.

Denkbar wäre aber doch immerhin die Erklärung, dass die Schwarzmalerei der Mathematiker seinerzeit bei Politikern, Medizinern und "Normalsterblichen" (etwa im Hinblick auf ihr Sexualverhalten) derart eingeschlagen ist, dass die erhoffte Verhaltensänderung tatsächlich (und noch rechtzeitig) eingetreten ist.

Dann aber wären Mathematiker tatsächlich mal "Retter der Menschheit" gewesen.


Und die "tröstliche" Aufgabe darf auch nicht beendet werden, ohne dass die derzeitige Aids-Exponentialfunktion etwa in Afrika erwähnt wird:


Nun ist aber das reine Zeigen des Fotos eines Aidskranken auch wieder nur obszön, wenn daraus nicht irgendein Engagement folgt.

Gleichzeitig kann ich mich aber nicht um alles Elend der Welt kümmern oder mich sogar dafür verantwortlich fühlen - was nur einerseits zu wabernden Schuldgefühlen und andererseits doch nur zum permanenten "Sammeln" des Elends führt.

Nein, man darf oder muss sehr vieles Elend ignorieren - um sich um ein bestimmtes Elend zu kümmern.

Das hat konkrete Folgen für den Unterricht: auch die SchülerInnen sollen jetzt nicht bei jeder "Elends-Anwendungsaufgabe" aufspringen und aktiv werden

(sich also verzetteln oder den Aktualitäten hinterher rennen),

 ja, es ist sogar ihr gutes Recht, das eine oder andere Elend (hier die Aids-Katastrophe) zu ignorieren.

Wenn überhaupt, so kann die Aufgabe nur exemplarisch wirken, nämlich zum Engagement in einem (anderen) Bereich führen.