unfassbar, man kann Einstein verstehen

Einstein gilt (durchaus zu Recht!) geradezu als Inbegriff des Genies - und damit als prinzipiell unverständlich.

(Wo kämen wir auch hin, wenn jeder, also auch Krethi und Plethi, das verstehen könnte? Dann wäre Einstein ja gar kein Genie mehr!?)

Dementsprechend habe ich es (sowieso als Nichtphysiker) nie gewagt, seine Originalarbeit über die (spezielle) Relativitätstheorie auch nur anzuschauen geschweige denn zu lesen; sondern ich habe mich immer nur mit populärwissenschaftlichen Darstellungen "drüber" abgefunden (abspeisen lassen?).

(Und zentraler Fehler dabei war mal wieder, dass das alles reine Mathematik und diese sowieso völlig "abgedreht" sei, wie man einem Leser ja eh keine Gleichung zumuten dürfe.)

Als ich nun in der sehr umfangreichen und detaillierten, aber allemal lesenswerten Einsteinbiografie von Albrecht Fölsing die Passage über die spezielle Relativitätstheorie las, schwante mir schon was. Endgültig motiviert, in Einsteins Originalarbeit

(vgl. als Buchversion und zur direkten Einsichtnahme )

zu schauen, war ich aber, als Fölsing die Passage nach nur fünf elementaralgebraischen Gleichungen beendete:

"Abschließend sei noch versichert, daß Einstein in den ersten beiden [zentralen] Abschnitten nicht mehr »Mathematik« verwendet hat, als wir in unserer Darstellung wiedergegeben haben."

Bei der Lektüre von Einsteins Originalarbeit, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: verdammt nochmal, das kann man ja verstehen; bzw. es wäre eben schon die oben konstruierte BILD-Schlagzeile wert.

Und nebenbei: warum eigentlich immer der tertiäre Aufguss, wo einen doch erst das Verständnis der Originale wirklich stolz macht, einem aber auch das Gefühl gibt, am Puls der Geschichte zu sein und mitzuzittern?

Dabei ist dringend anzumerken: es würde natürlich nicht im mindesten Einsteins Verdienst schmälern, wenn sein Aufsatz relativ einfach nachvollziehbar wäre:

genial war, überhaupt erst drauf zu kommen, d.h. die richtigen Fragen zu stellen und zu einer Antwort durchzustoßen.

Wie so oft

(insbesondere nebenbei bei Michel Foucault)

gilt: man kann es im Original sogar besser verstehen als in vielen Büchern "drüber". Das hat seine Gründe: die Genies waren ja eben auch genial, weil sie "noch" einfach (unvorbelastet durch ein fertiges Denkgebäude) denken, ja geradezu Kinderfragen stellen konnten:

„Wenn Einstein grübelt, hat der Konjunktiv Konjunktur: »Wie wäre es, wenn man hinter einem Lichtstrahl herliefe? Wie, wenn man auf ihm ritte?« Diese hypothetischen Überlegungen hat er nach eigenen Angaben schon als Schüler angestellt.“
(Jürgen Neffe, Spiegel 50/1999)

A propos "verdammt nochmal": wie schon bei bemerkte ich auch eine regelrechte Wut, dass mir die Originalerkenntnisse Einsteins so lange vorenthalten worden waren bzw. dass man mir nicht zugetraut hatte, sie zu lesen und zu verstehen.

Stellt sich nur die Frage, wer mich da betrogen hat bzw. demütigen wollte. Ich würd' mal sagen:

 "aber das kannst du ja [sowieso] nicht verstehen"
und deshalb muss man dir alles püriert reichen.

Wie schon in gesagt: es darf doch nicht wahr sein, dass man in Universitätsvorlesungen (u.a. in Mathematik) immer nur die abgenagten Lehrbücher vorgekaut bekommt, aber nie die Originalerkenntnisse und -geschichten erfährt!

Warum funktionieren Vorlesungen und Lehrbücher immer nur nach dem Schema

"Vermutung (die man natürlich nie selbst hatte) - Beweis - »Anwendung«- 

"Der Nächste, bitte"

und so weiter und so fort bis in alle Ewigkeit",

handeln aber nie von den grundsätzlichen Fragen und Problemen (eben der großen Genies)?

Dabei hätte ich es doch besser wissen müssen: in seinem mit Leopold Infeld zusammen geschriebenen Buch spricht Einstein derart einfach, dass ich z.B. das Kapitel "Vektoren" schon mal mit großem Erfolg in einem Mathematik-Grundkurs durchgenommen hatte.

Und Einstein hat ja sogar selbst eine ausdrücklich allgemeinverständliche Einleitung in die (u.a spezielle) Relativitätstheorie) geschrieben:

Dennoch ist es ein gewaltiger Unterschied, ob man "nur" eine populärwissenschaftliche Einführung oder "sogar" das Original versteht. Im ersteren Fall denkt man immer noch: "Für das Original bin ich ja doch zu dumm."

(Und mir scheint sogar: zwar wäre ich "kleiner Fuzzi" natürlich nie - wie Einstein - auf die Relativitätstheorie gekommen, aber ich traue mir doch zu, sie [das Original der speziellen Relativitätstheorie] noch erheblich anschaulicher zu erklären als Einstein selbst in o.g. Buch.

Vielleicht liegt das daran, dass ich überhaupt erst noch verstehen muss, was Einstein ja längst klar war [obwohl er ja gerade auch ein Genie darin war, noch "dumme Kinderfragen" stellen zu können].

Ein Grund scheint mir aber auch zu sein, dass uns heute erheblich bessere Visualisierungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen:

Zwar befürworte ich ja keinesfalls eine Hypertrophie der Bilder [zuungunsten des Textes], aber gerade an älteren Büchern [und heute in auf Teufel komm raus "intellektuellen"] fällt mir doch oftmals eine falsche oder technisch bedingte Scham vor Illustrationen auf, wo doch gilt: Bild "ein Bild sagt mehr als tausend Worte".)

Auch SchülerInnen haben ein Recht, an solche Primärtexte heran gelassen zu werden und überhaupt ansatzweise zu erfahren, was in den neueren Wissenschaften los ist, statt immer nur mit uralter Mathematik und Naturwissenschaft abgespeist zu werden.

D.h. nicht, dass da nur Halbheiten vermittelt werden ("irgendwie ist alles relativ"), sondern da sollten in der Tat exemplarische mathematische Einblicke versucht werden.

Aber klar ist natürlich, dass solch eine Vermittlung der Originalerkenntnisse nicht ins klassische Klausur- und Prüfungsschema passt.


Sofort sei ein wenig eingeschränkt: von Einsteins "Relativitätsarbeit" mit dem harmlosen Titel "Zur Elektrodynamik bewegter Körper" soll im Folgenden nur der erste, "Kinematische Teil", nicht jedoch der zweite, "Elektrodynamische Teil" behandelt werden.

Was damit wegfällt, ist die berühmte Folgerung "E = m c2", also die Äquivalenz von Energie und Masse (mit der man dann auch eine Atombombe bauen kann).

Für diese Einschränkung gibt es mehrere Gründe:

  1. "Damit hat Einstein auf den ersten 16 Seiten seiner Arbeit [eben im »Kinematischen Teil«] die wesentlichen Elemente der »unseren zwei Prinzipien entsprechenden Kinematik hergeleitet« - und das sind schon die vollständigen Grundlagen der Relativitätstheorie. Alles weitere sind [nur noch] Anwendungen, in denen er die Leistungsfähigkeit, Eleganz und Tiefe des neuen relativistischen Gesichtspunkts vorgeführt [...]"
    (Albrecht Fölsing, womit sogar der Titel, nämlich die Elektrodynamik, sekundär erscheint)

  2. "Im zweiten »Elektrodynamischen Teil« [...] benutzt [Einstein] eine fürchterliche, damals aber noch übliche Schreibweise der Formeln [...]"
    (Albrecht Fölsing)

  3. Während ich mir die kinematischen Überlegungen noch halbwegs zutraue, habe ich von der Elektrodynamik nicht die mindeste Ahnung.

  4. Dass der zweite, "Elektrodynamische Teil" eben nicht nur schnöde Anwendung des ersten, "Kinematischen Teils" war, hat wohl nicht mal Einstein damals geahnt: erst einige Monate später schiebt er mit dem nur drei Seiten langen Aufsatz "Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energiegehalt abhängig?" die "sehr interessante Folgerung" nach, aus der wiederum erst Planck ein Jahr später die Gleichung "E = m c2" destilliert.


Nun ist allerdings eine mehrfache Mogelpackung einzugestehen:

  1. hatte schon Fölsing eingestandenermaßen ein wenig "geschummelt":

"Deshalb werden wir zwei Bezugssysteme verwenden, zwar abweichend von Einsteins Text, aber ohne änderung der Argumentation, und zudem dadurch gerechtfertigt, daß Einstein im nächsten Abschnitt selbst zu dieser durchsichtigeren Darstellungsweise übergeht."

Bei Einstein sind's eben doch einige Gleichungen mehr, als Fölsing vorgibt
("[...] daß Einstein in den ersten beiden [zentralen] Abschnitten nicht mehr »Mathematik« verwendet hat, als wir in unserer Darstellung wiedergegeben haben.")

  1. Nach der Erstlektüre von Einsteins Aufsatz habe ich noch keineswegs alles (die Mathematik) verstanden, sondern nur einen ersten Eindruck vom Schwierigkeitsgrad gewonnen, so dass ich mir immerhin zutraue, "den Code zu knacken".

  2. werde ich das wegen Zeitmangels hier derzeit nicht tun. Vorerst kann ich also nur die Behauptung aufstellen, dass das machbar ist.
    Reizen würde es mich aber allemal: nach der ersten Lektüre ahne ich so viele Veranschaulichungsmöglichkeiten - direkt am Originaltext.

  3. bleibt natürlich das alte Problem, wer in "unfassbar, man kann Einstein verstehen" eigentlich "man" ist. Nämlich eben nicht der von Mathematik völlig unbeleckte Laie, sondern einige mathematische Grundkenntnisse muss man schon mitbringen. Aber erstaunlicherweise nur den Stoff der Mittelstufe.

  4. Wie in wissenschaftlichen Aufsätzen (leider) üblich, verkürzt Einstein Rechnungen oftmals, weil er ja nicht zu Laien, sondern zu Fachleuten spricht. Solche Verkürzungen à la "daraus folgt trivialerweise" haben mich schon im Studium in den Wahnsinn getrieben, weil der Übergang für mich Blödmann keineswegs "trivial"  war, sondern ich wieder mal 27 Zwischenschritte und Anmerkungen brauchte.
    Aber wenn ich´s recht überblicke, sollten die sich für den Einsteinaufsatz schnell nachtragen lassen.

  5. Was heißt schon "verstehen"?

Der große Physiker und Zeitgenosse Einsteins Arnold Sommerfeld (1868-1951) hat die frühen und bleibenden Schwierigkeiten treffend in einem Brief an seinen Kollegen Lorentz auf den Punkt gebracht:

"Hoffentlich gelingt es Ihnen, die geniale Begriffs-Skelett [Einsteins] mit wirklichem physikalischen Leben zu erfüllen."

(wobei er sich allerdings leider nicht zu schade war, antisemitisch vorweg zu schicken: "[...] vielleicht spricht sich [in Einsteins Abhandlung] [...] die abstrakt-begriffliche Art der Semiten aus.": ein Vorwurf, der hier angemerkt sei, weil er nach dem Ersten Weltkrieg Standard wurde und später in die "arische Physik" der Nazis führte; vgl. Carsten Könnekers Buch )

Nur: was heißt da "physikalisches Leben"

(hier ja wohl nicht wörtlich gemeint [da Leben biologisch ist und zumindest bisher jede physikalische Erklärung fehlt], sondern metaphorisch)?

Ich deute es so, dass Einsteins Aufsatz zwar mathematisch problemlos nachvollziehbar ist, seine Konsequenzen zu Zeit und Raum aber "gehirnausrenkend" unanschaulich bleiben.

Und dieses Problem ist wohl wirklich nicht lösbar: es scheint (soweit ich mich umgeschaut habe) keine wirkliche Veranschaulichung der Konsequenzen zu geben, weil uns Menschen das Sensorium für große Maßstäbe (enorme Geschwindigkeiten kurz vor der Lichtgeschwindigkeit sowie die Raumzeit) fehlt. Wenn überhaupt, so sind einige Konsequenzen nur in vereinfachender Analogie nachvollziehbar.

PS: Es muss ergänzt werden, dass Einsteins allgemeine Relativitätstheorie mit ihrer "Tensorrechnung" nun wahrhaft nicht mehr so relativ mathematisch einfach ist.
PPS: Leider erst im Nachhinein werde ich auf die allgemeinverständlich mathematische (!) Einführung  von Max Born (einen anderen berühmten Physiker) aufmerksam.
PPPS: Noch ein paar Jahre später: