mathematische Geschichten

 

"Hirnforscher sind sich einig: Kinder wollen vieles wissen, ganz von allein. Ihres nicht? Dann läuft etwas schief zwischen den kleinen Lernmaschinen [?] und denen, die sie ölen sollen. Engagierte Lehrer und gute Geschichten [...] erwecken die Neugier wieder zum Leben."
(Stern 37/2003)
 

 

erzählen: In der germ. Wortfamilie von zählen hat sich mehrfach aus der Bed. "aufzählen, zu Ende zählen" der Sinn "berichten, Bericht ergeben" (beachte z. B. engl. to tell "zählen, erzählen", tale "Erzählung" und niederd. vertellen "erzählen"). So werden auch mhd. zel[le]n und erzel[le]n nicht nur für "[auf]zählen" gebraucht, sondern auch für "berichten, mündlich mitteilen". Im Nhd. hat nur 'erzählen' diese Bedeutung bewahrt.

© Dudenverlag

als Lehrer sollte man sich sowieso zu keiner Andekdote zu schade sein

... allerdings auch immer bedenken und vermitteln, wo eine Anekdote oder ein Bild hakt (das Modell von der Wirklichkeit abweicht), ja, eventuell sogar gefährlich in die Irre führt

Worum´s schlicht und einfach geht: mathematische Sachverhalte so anschaulich wie nur irgend möglich zu machen.

Und zwar um dieser Sachverhalte willen: es geht also nicht in erster Linie um eine Anwendung der Mathematik auf die "Wirklichkeit" (Mathematik als Hilfswissenschaft), sondern umgekehrt darum, mittels "Wirklichkeit" die Mathematik anschaulich und verständlich zu machen (Wirklichkeit als Hilfswissenschaft für die Mathematik).

Die "Wirklichkeit" dient also - so gesehen - nur der innermathematischen Anschaulichkeit, der innermathematischen Dramatik und dem innermathematischen Staunen.

Eine Möglichkeit, zu veranschaulichen, besteht im Erzählen oder Erfinden mathematischer Geschichten. Und da wiederum sind vier Möglichkeiten denkbar:

1. reale Mathematikgeschichte,

also das Erzählen von überlieferten Geschichten und Anekdoten rund um berühmte Mathematiker. Ich stelle mir das etwa so vor wie Weischedels "Philosophische Hintertreppe": man nähert sich den Mathematikern nicht durch den repräsentativen Haupteingang (d.h. die fertigen, ausformulierten Erkenntnisse), sondern über die Hintertreppe, d.h. durch die Küche (die Mathematik geht - wie die Liebe - oftmals durch den Magen) oder ihr "Schlafzimmer".

Damit ist kein billiger Biographismus gemeint, und doch bin ich mir - wie schon gesagt - als Lehrer zu keiner Anekdote zu schade: die SchülerInnen müssen bemerken, wie Mathematik aus echtem Leben und einem Zeitgeist entsteht - und daß sie nicht fertig (und erschlagend) vom Himmel fällt.

2.

Wenn es an biografischen und historischen Überlieferungen hapert, erfindet man sie halt sinn- und zeitgemäß.

3. Erlebnisberichte der SchülerInnen,

also ihre ganz eigene Erkenntnisgeschichte. Ich kann mir also durchaus spannende Halbjahresarbeiten z.B. zum Thema "Wie wir die Irrationalität der 2 entdeckt haben" vorstellen, bei denen die eigentliche Mathematik in einen Erlebnisaufsatz eingebettet ist.

4. erfundene Beispielgeschichten

Dafür einige Beispiele:

  1. Man kann die Variablen/Unbekannten (x) wunderbar als "Heinzelmännchen unter einer Tarnkappe" vorstellen:

denn diese Heinzelmännchen sind wenn schon nicht bösartig, so doch pfiffig: sie tauschen ganz gerne bei jeder Unachtsamkeit des Rechnenden (plötzlich ist ein anderes unter der Tarnkappe als anfangs), oder sie verschwinden einfach, so daß am Ende nichts mehr unter der Tarnkappe ist und man fälschlich unterstellt, da sei auch von Anfang an nichts gewesen;

vgl.:

"Ich fühle mich nicht selten an gewisse Kobolde und Feen erinnert, von denen man recht häufig liest - Kobolde, die sich noch eben in einer Gestalt nahe deines Ellenbogens befinden, um sich in der nächsten Minute in eine vollkommen andere Gestalt zu verwandeln; außergewöhnlich trügerisch, schwierig und verführerisch wollen mir die mathematischen Kobolde und Feen bisweilen erscheinen; ganz wie jene Kreaturen, auf die ich in der Welt der Dichtung gestoßen bin."

Ada Lovelace (1815 - 1852)

  1. Es ist viel getan, wenn SchülerInnen beim Funktionsbegriff immer an SchülerInnen/Schuhgrößen denken:

Man spiele diese Zuordnungen mal mit echten Schuhen! Das beste wäre nebenbei, wenn mindestens zwei SchülerInnen nicht nur dieselbe Schuhgröße, sondern auch dasselbe Schuhmodell hätten: dann kann man hinterher wirklich nicht mehr sagen, wem welches Paar gehörte. Und dann ergänze man gleich: wegen solcher unlösbaren Zuordnungsprobleme beschränken Mathematiker auf eindeutige Zuordnungen (also Funktionen), mehr können sie gar nicht.

  1. SchülerInnen müssen beim Lösen von Gleichungen nach dem System

                ... = ... |

           ... = ... |

           x = Zahl

immer an das Hantieren mit einer Waage (vgl. mein zugehöriges Matheprogramm) denken!

(Hier allerdings seien auch mal die Grenzen des Modells erwähnt: unter der Tarnkappe "x" können auch mehrere Heinzelmännchen sein, während beim Wiegen immer genau ein [eindeutiges] Gewicht rauskommt.)

  1. SchülerInnen müssen (alle) Funktionsgraphen wie den folgenden

nbm11.JPG (8567 Byte)

(vgl.  mein zugehöriges Matheprogramm)

erwandern und er-fahren.

Die im Programm geschilderte Finanz-"Dramatik" sollte man doch dringend (u.a. auch anhand einer Bergwanderung) rüberbringen: ich kann mir durchaus vorstellen, daß man mit SchülerInnen zu vorgegebenen Funktionsgraphen eine dramatische Bergwanderungsgeschichte mit allen Hoffnungen, Vorausahnungen, Enttäuschungen usw. schreibt. Oder daß man umgekehrt z.B. die Bergwanderung in Stifters "Bergkristall" in einen Funktionsgraphen umsetzt.

Es muß - mathematisch gesagt - deutlich werden, daß Wendepunkte erheblich wichtiger als (kurzfristige) Maxima oder Minima sind: man darf sich im Erfolg (Maximum) nicht ausruhen und im Mißerfolg (Minimum) nicht aufgeben, sondern was zählt, ist der sich immer schon vorher andeutende Trend: die frühzeitige Warnung (daß es nach einem Maximum wieder bergab gehen wird) bzw. die frühzeitige Hoffnung (daß es nach einem Minimum wieder bergauf gehen wird). "Wendepunkte" sollte man also vielleicht besser "Warnungs-" bzw. "Hoffnungspunkte" nennen. Mit solcher Unterscheidung ist es dann auch nicht mehr egal, welche Art von Wende vorliegt.

Sattelpunkte sind dann aber immer die Täuschung einer Warnung bzw. Hoffnung. Ein Sattelpunkt besagt

Ein Sattelpunkt ist also Lohn der Fleißigen bzw. Phantasievollen (ein "Lohnpunkt") bzw. Strafe der Faulen bzw. Phantasielosen (ein "Strafpunkt").

  1. Oder warum nicht auch leicht ironisch?:

Erwin Binomi (1702 - 1783) wurde dann kurz von seinem Tode doch noch zum "von" geadelt, und zwar aus drei Gründen:

  1. für 50jähriges unbeirrbares Schleimspurziehen am Hofe zu Bentheim;
  2. , weil er genauso grenzdebil war wie sein Fürst, was letzterer gut ertragen konnte;
  3. , weil er bei aller sonstigen angeborenen Dämlichkeit am 4.3.1765 morgens um 7.23 h doch versehentlich einen (einzigen) lichten Augenblick hatte, nämlich die nach ihm benannten "binomischen Formeln" entdeckt hat.

5. mathematische Lesebücher

 Warum nutzt der Mathematikunterricht nicht die Faszination von Erzählungen, die (im Gegensatz zu den üblichen Mathebüchern (also reinen Aufgabensammlungen) von selbst, durch ihren Erzählfaden zum Weiterlesen (und damit hintenrum auch zum Lernen) verleiten? Warum gibt es kein mathematisches äquivalent - und zwar von der 5. Klasse an und zumindest immer nebenher - zu (wenn auch vielleicht arg anbiedernd, bildungsbürgerlich)

?

Immerhin scheint sich gerade derzeit auf dem populärwissenschaftlich-mathematischen Markt was zu tun: erste Mathematiklesebücher, die in der Oberstufe verwendbar wären, habe ich in "Annäherung Mathematik-Geschichte" gezeigt.

Das Wort "Geschichte" ist glücklicherweise doppeldeutig: einerseits meint es "Erzählung", andererseits Historie. Da liegt die Kombination beider Aspekte nahe, d.h. Erzählungen über (Mathematik-)Historie.

Da liegt es nahe, im Unterricht die üblichen Mathematikbücher (die ja eher Aufgabensammlungen sind) durch Bücher über Mathematikgeschichte bzw. mathematische Erzählungen zu ergänzen.

Zwei Beispiele:

Simon Singh: Fermats letzer Satz; Die abenteuerliche Geschichte eines mathematischen Rätsels; Hanser

Hans Magnus Enzensberger: Der Zahlenteufel; Ein Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben; dtv