Mathematik ist teuflisch schwierig

vgl. auch Bild

Eine der zentralen Schwierigkeiten in der Mathematik mag das sein, was Mathematik vielleicht überhaupt erst ausmacht: abstrakt und in Analogien zu denken.

Viel alltäglichere Probleme scheinen mir aber dadurch zu entstehen, dass SchülerInnen enorm viel Handwerkszeug jederzeit parat haben und seine Anwendbarkeit jeweils geradezu automatisch erkennen können müssen

(was man sich als LehrerIn viel zu selten klar macht, weil man selbst es seit Ewigkeiten unbewusst beherrscht und daher allzu leichtfertig voraussetzt;
da lohnt es sich wirklich, ab und zu mal wieder Stunden minutiös vorzubereiten und - soweit möglich - wirklich [soweit irgend möglich] jede Eventualität zu bedenken.)

Wie vielleicht kein anderes Fach baut Mathematik strikt aufeinander auf, und wer z.B. einmal die Termumformungen nicht richtig mitbekommen hat (wem sie nicht ins Blut übergegangen sind), hat hinterher - zumindest ohne strikte Nacharbeit von Uraltem - kaum eine Chance mehr:

Letztens hatte ich die Arbeit einer Schülerin vor mir liegen, die den neuen Stoff (Gleichungssysteme) eigentlich recht gut verstanden hatte, bei der aber fast jede (Zwischen-)Rechnung - also der Stoff der letzten Jahre - schief ging. Welche Zensur gibt man da? Ist ein sich "rechnerisch-objektiv" ergebendes "mangelhaft" da nicht höchst ungerecht bzw. widerlich nachtragend?: niemals eine Chance auf Vergebung?

In einer Unterrichtsstunde passierte letztens folgendes. Es war bewiesen worden, dass

Bild (A)

Bösartig, wie LehrerInneN ja nunmal sind, hatte ich nun u.a. folgende Aufgabe gegeben

(natürlich, um die Grenzen der Anwendbarkeit gewisser Gesetze zu zeigen und Aufmerksamkeit dafür zu wecken, wann ein Gesetz anwendbar ist - und wann nicht):

Bild= ?        (B)

Das ist natürlich nicht (mehr) nach dem Distributivgesetz vereinfachbar, weil die Wurzeln zwar ähnlich aussehen, aber nicht identisch sind.

Nun schlug eine Schülerin

(die durchaus bemerkt hatte, dass [A] nicht - oder zumindest nicht direkt - anwendbar ist;
und der hiermit ausdrücklich gedankt sei, weil ich daraus viel lernen durfte!)

eine "Erweiterung" (!) vor, und zwar folgendermaßen:

Bild      (C)

Das ist in sich, also ab (C), ja durchaus richtig gerechnet, aber völlig falsch ist eben der Übergang von (B) zu (C).

Und da steht einE LehrerIn doch anfangs - und zwar insbesondere, wenn der Vorschlag erst mal nur mündlich kommt - perplex da:

  1. Was ist da eigentlich so schief gegangen? Klar ist erst mal nur, dass etwas mörderisch schief gegangen ist - und dann lasse man sich und den SchülerInneN viel Zeit!

  2. packt eineN LehrerIn da, gerade wenn sie/er dem Fehler so langsam auf die Schliche kommt, das kalte Grausen:

"Um Gottes willen, wenn die SchülerInnen [und es war immerhin eine durchaus "gute" Schülerin] das nicht mal verstanden haben, was haben sie dann überhaupt verstanden? Und da muss ich ja den derzeitigen Unterricht radikal unterbrechen und bei Adam & Eva wieder anfangen!"

Merke:
  1. ist einE LehrerIn auch nur ein Mensch, und die kognitiven und Verhaltensprobleme gehören auch in eine (jede!) Unterrichtsbeschreibung!
  2. ist nicht automatisch die/der LehrerIn an jedem Problem im Unterricht "schuld"
    (wie doch permanent im Referendariat unterstellt wurde, was vielleicht der Hauptgrund dafür ist, dass viele LehrerInnen zwar gerne mal über "die Jugend von heute" klagen, aber nicht bereit sind, konkrete [und ganz normale, bei jedem vorhandene!] Probleme in ihrem Unterricht zu benennen und gemeinsam daraus zu lernen).

Was also war schiefgegangen? Viel wichtiger aber noch: woran lag's?

Da lohnt es sich immer, den Fehler zu rekonstruieren (vgl. Bild "Vom Richtigen im Falschen"). Zwar kann man nicht die Köpfe der SchülerInnen aufmeißeln, um nachzusehen, was darin ist bzw. vor sich gegangen ist. Aber man kann aus dem Unterrichtsverlauf sowie langjährigen Erfahrungen Gründe erschließen.

Die Schülerin, die diesen kapitalen Bock geschossen hat, hat ja durchaus was verstanden, nämlich - wie die durchaus richtigen Folgeschritte ab (C) zeigen - die Gesetze Bildund Bild(also das Distributivgesetz).

Diese Gesetze waren - da sie ja soeben durchgenommen worden waren - aber für sie wohl derart naheliegend, einfach und verführerisch, dass sie nun mittels des Schrittes von (B) nach (C) dafür sorgte, dass sie anwendbar wurden. Und in der Tat ist das Ergebnis Bildsehr einfach

(wenn man mal davon absieht, dass nach dem Gesetz Bildnun mal automatisch sehr große Zahlen unter der Wurzel zustande kommen; aber selbst das zeigt, dass die Schülerin viel verstanden hatte: die große Zahl unter der Wurzel und damit die Wurzel selbst empfand sie nicht mehr als schwierig, sondern nahm sie einfach hin.

Hier zeigt sich nebenbei schon ein typisches und durchaus folgerichtiges Vorgehen von SchülerInneN: etwas gerade frisch Durchgenommenes und durchaus Begriffenes wird nun gnadenlos auf alles und jedes angewandt.)

Der (im Grunde schon falsche) "Befehl" zu vereinfachen war also von der Schülerin durchaus befolgt worden.

Vielleicht ist es sogar schwierig, gegen solch ein überzeugend einfaches, wenn auch falsches Ergebnis wie eben Bildnoch mal anzukommen: es setzt sich fest, bevor man es überhaupt korrigieren kann.

Noch genauer: Bildist immerhin ein Ergebnis, während die richtige Lösung paradoxerweise und damit unglaubwürdig darin besteht, dass es überhaupt keine Lösung (Vereinfachung) gibt.

Zwar benutzte die Schülerin beim falschen Schritt von (B) nach (C) das Wort "Erweiterung" (das ja von Brüchen stammt), aber ich glaube nicht, dass sie es in diesem (Bruch-)Sinne meinte. Brüche waren in der Aufgabe ja gar nicht vorhanden.

Und doch - ich versuche ja nur zu verstehen - liegt "Erweiterung" hier durchaus nahe, denn

Bild

Was also meinte die Schülerin mit "Erweiterung"?

Doch wohl eher das Multiplizieren der Seiten einer Gleichung (auch da hatte die Schülerin durchaus was [zentral Wichtiges] begriffen!)

Nur gibt es da zwei Probleme:

  1. lag anfangs ja gar keine Gleichung, sondern ein (zu vereinfachender) Term vor;

und hier zeigt sich ein ganz entscheidendes Manko: dass SchülerInnen oftmals nicht den Unterschied zwischen

  1. Termumformungen/-vereinfachungen (in Gleichungsketten "nebeneinander") und

  2. Gleichungsumformungen/-lösungen (in Äquivalenzketten "untereinander")

verstehen. Und dass sie es nicht verstehen bzw. beides durcheinander werfen, hat auch wieder seine guten Gründe: dass Terme eben in Gleichungsketten vereinfacht werden, womit wegen desselben Wortes "Gleichung" doch wohl Gleichungsumformungen naheliegen.

Die Schülerin hat nicht gesehen, dass sie den Anfangsterm mit dem Schritt von (B) nach (C) nicht vereinfacht (aber seinen Wert beibehalten), sondern vergrößert hat, so dass ein Gleichheitszeichen nicht mehr angebracht ist.

Sie hat im Grunde nicht verstanden, dass eine Gleichung eine Wage ist, die immer im Gleichgewicht gehalten, mit der man auf beiden Seiten also immer dasselbe machen muss.

  1. hat die Schülerin - wenn schon (Gleichungsumformung), denn schon - fälschlich die "eine" Seite, also Bild, nicht mit derselben, sondern mit verschiedenen Zahlen (links mit Bild, rechts mit Bild ) multipliziert.

Auch dahinter steckt ein typischer Fehler, der lange "zurück" liegt und mit Wurzeln rein gar nichts zu tun hat: dass nicht behalten, gefestigt oder nicht deutlich genug klargestellt wurde, dass es bei Gleichungsumformungen heißen muss:

"Beide ganzen Seiten der Gleichung werden mit derselben (einer!) Zahl multipliziert!"

Es ist also teuflisch, was SchülerInnen alles behalten und jederzeit erkennen sowie reflektiert anwenden können müssen.

Ein zentrales Problem liegt aber auch immer wieder darin, dass Schülerinnen im Eifer des Gefechts und durchaus auch Interesses sofort losrechnen, statt erst mal zu überlegen und gewisse Schwierigkeiten und Begrenzungen vorauszuahnen und vorweg herauszuarbeiten. Wie häufig ergibt sich doch auch in meiner derzeitigen (sehr guten, immer ungeduldigen und vorauseilenden) Klasse der Fall, dass schnelle Behauptungen aufgestellt werden - die sich hinterher zu fast 90 % als falsch herausstellen.

Da aber hilft nur eins: dass sich die SchülerInnen (und gerade die "guten") mit ihrer Voreiligkeit reihenweise "auf die Schnauze" legen - und dann doch erst mal überlegen.