das Ende der mathematischen "Strenge"

Also lautet ein Beschluss:
Daß der Mensch was lernen muss.
Nicht allein das Abc
Bringt den Menschen in die Höh';
Nicht allein in Schreiben, Lesen
Übt sich ein vernünftig Wesen;
Nicht allein in Rechnungssachen
Soll der Mensch sich Mühe machen;
Sondern auch der Weisheit Lehren
Muss man mit Vergnügen hören.
Dass dies mit Verstand geschah,
War Herr Lehrer Lämpel da.

Max und Moritz, diese beiden,
Mochten ihn darum nicht leiden,
Denn wer böse Streiche macht,
Gibt nicht auf den Lehrer acht.

Nichtmathematiker werden bei "Strenge" eher unangenehm berührt an eine stramm autoritäre Erziehung denken, etwa im Sinne von

streng, strikt, drastisch, massiv, rigoros, rigide, energisch, entschieden, bestimmt, mit erhobenem Zeigefinger, mit sanfter Gewalt, hart, scharf, rücksichtslos; einschneidend, gravierend, herrisch, rücksichtslos, unbarmherzig, unzugänglich; streng werden, ein Machtwort sprechen, mit der Faust auf den Tisch schlagen / hauen; strenger werden, die Zügel straffer anziehen; streng behandeln, jemanden an die Kandare nehmen; eingreifen; Unerbittlichkeit.
(Dudenverlag)

Und das Substantiv definiert der Duden sogar kurz und knapp als

Strenge Unerbittlichkeit.

Bei mathematischer Strenge wird der Laie also wohl an denken.

Vor allem impliziert für mich "Strenge" aber immer: auf keinen Fall lachen!


Dabei hat "mathematische Strenge" aber primär eine ganz andere, rein fachliche

(?, weil dennoch mit der pädagogischen Strenge ursächlich zusammenhängende?)

Bedeutung.

Unter mathematischer Strenge versteht man - einfach gesagt - eine glasklar (und eiskalt!) logische Vorgehensweise, wie sie vielleicht schon


Euklid in seinen (fatalen?) "Elementen"

vorgeführt hat:
"Die Grundthese dieses Vortrags ist, dass die frühe Entstehung der Elemente von Euklid für die Entwicklung der Didaktik ein Hindernis gewesen ist. Deswegen sind die Möglichkeiten zum Entstehen eines informellen, intuitiven Beginns des Geometrieunterrichts blockiert worden. Trotzdem haben viele Mathematiker und Didaktiker im Laufe der Geschichte oft empfohlen, den Geometrieunterricht, auch schon für kleine Kinder, mit einem informellen Einstieg anzufangen. Verschiedene unter ihnen haben auch wirklich versucht, einen solchen Lehrgang zu entwickeln."
(über einen Vortrag von Dr. Ed de Moor vom Freudenthal-Insitut in Utrecht/NL)

Endgültig festgezurrt wurde diese Strenge dann aber spätestens im 19. Jahrhundert von Cauchy, Gauß und Weierstraß.

Oder exakter:

"Wir erörtern noch kurz, welche berechtigten allgemeinen Forderungen an die Lösung eines mathematischen Problems zu stellen sind: ich meine vor allem die, daß es gelingt, die Richtigkeit der Antwort durch eine endliche Anzahl von Schlüssen darzutun, und zwar auf Grund einer endlichen Anzahl von Voraussetzungen, welche in der Problemstellung liegen und die jedesmal genau zu formulieren sind. Diese Forderung der logischen Deduktion mittels einer endlichen Anzahl von Schlüssen ist nichts anderes als die Forderung der Strenge in der Beweisführung. In der Tat, die Forderung der Strenge, die in der Mathematik bekanntlich von sprichwörtlicher Bedeutung geworden ist, entspricht einem allgemeinen philosophischen Bedürfnis unseres Verstandes, und andererseits kommt durch ihre Erfüllung allein erst der gedankliche Inhalt und die Fruchtbarkeit des Problems zur vollen Geltung. Ein neues Problem, zumal, wenn es aus der äußeren Erscheinungswelt stammt, ist wie ein junges Reis, welches nur gedeiht und Früchte trägt, wenn es auf den alten Stamm, den sicheren Besitzstand unseres mathematischen Wissens, sorgfältig und nach den strengen Kunstregeln des Gärtners aufgepfropft wird.
Zudem ist es ein Irrtum zu glauben, daß die Strenge in der Beweisführung die Feindin der Einfachheit wäre. An zahlreichen Beispielen finden wir im Gegenteil bestätigt, daß die strenge Methode auch zugleich die einfachere und leichter faßliche ist. Das Streben nach Strenge zwingt uns eben zur Auffindung einfacherer Schlußweisen; auch bahnt es uns häufig den Weg zu Methoden, die entwicklungsfähiger sind als die alten Methoden von geringerer Strenge."
(David Hilbert, 1862 - 1943; vgl. )

Solche (mathematische) Strenge hat allemal immense Vorteile:

"Moralisch [!] lehrt uns die Mathematik, sich streng [!] gegenüber dem zu verhalten, was als Wahrheit behauptet wird, was als Argument hervorgebracht wird oder was als Beweis angeführt wird. Die Mathematik fordert Klarheit der Begriffe und Behauptungen und duldet keinen Nebel und keine unbeweisbaren Erklärungen."
(A. D. Alexandrow)

(Aber fördert diese mathematisch Denkstringenz nicht auch - s.u. - einseitiges Denken?);

(wenn das auch eine sehr kühle, vielleicht sogar unmenschliche Ästhetik ist):

wie sich da teilweise in höchster Eleganz zack-peng-boing erstaunliche Ergebnisse scheinbar von selbst ergeben und wie überhaupt alles aus einem einzigen Stamm (vgl. wieder Hilbert) zu erwachsen scheint.

Und doch hat die mathematische Strenge auch fatale Nachteile gezeitigt, nämlich

(vgl. ),
(oder genauer: blind für sie gemacht),
"Allerdings ist die mathematische Strenge nicht absolut. Sie entwickelt sich, ihre Prinzipien sind nicht ein für allemal fest, sondern bewegen sich und sind ebenfalls Objekte wissenschaftlicher Diskussionen."
(A. D. Alexandrow)
"Keinerlei [!] Glaubwürdigkeit ist in jenen Wissenschaften, die sich der mathematischen Wissenschaften nicht bedienen oder keine Verbindungen zu ihnen haben."
(Leonardo da Vinci)

"Diese Überzeugung von der Löslichkeit eines jeden mathematischen Problems ist uns ein kräftiger Ansporn während der Arbeit; wir hören in uns den steten Zuruf: Da ist das Problem, suche die Lösung. Du kannst sie durch reines Denken finden; denn in der Mathematik gibt es kein Ignorabimus [= wir werden es nie wissen]!"

(wieder Hilbert, der allerdings persönlich keineswegs so "streng" war)
.

Da empfindet man doch fast schon eine "klammheimliche Genugtuung"  , dass Kurt Gödel(1906 - 1978) an die Fundamente dieses vermeintlich "unkaputtbaren" Gebäudes eine hübsche kleine Bombe gelegt hat, was ich (auch wenn ich´s, ehrlich gesagt, nicht ganz verstehe) keineswegs als Katastrophe, sondern als Befreiung und Ermutigung empfinde:

"Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß."
(Walter Benjamin)

"Mein teurer Freund, ich rat Euch drum
Zuerst Collegium Logicum.
Da wird der Geist Euch wohl dressiert,
In spanische Stiefel eingeschnürt,
Daß er bedächtiger so fortan
Hinschleiche die Gedankenbahn."
(Goethe, Faust)


Hier aber geht es mir um Schulmathematik.

Wie schon oben gezeigt, kann kein Zweifel bestehen, dass die mathematische Strenge viele Vorteile hat. Aber sie darf nicht vorausgesetzt bzw. unverstanden eingebläut werden, sondern

Die "Strenge" stehe am Ende, nicht am Anfang.

So aber sieht die Schulmathematik bislang keineswegs aus, sondern

"Mathe ist bei uns [...] ein Problemfach. Die Mathelehrer interpretieren [unseren pädagogischen Ansatz] weniger unter dem Aspekt des problemorientierten Lernens [worunter man ja auch innermathematische Probleme verstehen kann] als unter dem Aspekt der [innerfachlichen] Effektivität und Computerisierung der Mathematik."
(aus einem anonymisierten Email)

Insbesondere ertragen viele MathelehrerInnen keine Sekunde eine vorläufige, probeweise mal ungenaue oder umgangssprachliche Terminologie, bzw. die "strenge" Sprache ist oftmals ihr einziges Ziel:

"Zeichnet im Punkt P(3|y) eine Tangente an den Graphen der Funktion mit der Funktionsgleichung y = x2 "
(wenn man so redet, braucht man dreimal so lang und werden die SchülerInnen endgültig konfus)

sondern sagte:

"Zeichnet da eine Tangente";

Dabei ist gerade die umgangssprachliche Terminologie sehr wichtig: sie allein bettet das mathematisch zu Lernende in die Alltagserfahrungen ein (bzw. geht von diesen aus), macht es also anschaulich.

Eigentlich ist Fachsprache doch - wie ein Linguist sagen würde - erst arbiträr (willkürlich) und dann konventionell (für alle verpflichtend), d.h. selbstverständlich hätte man das "Assoziativgesetz" auch "Schnurps-" oder - wie ich ja durchaus sinnvoll finde - "Zuordnungs-" bzw. "Klammerverschiebungsgesetz" nennen können:

(oder weil ich mir ja zu keiner Veranschaulichung zu schade bin: es gehen wohl mal a und b und zu anderer Zeit b und c "miteinander ins Bett", nie aber alle drei gleichzeitig;

um kurz auf solchem Niveau zu bleiben:

Ich glaube sogar, dass vielen SchülerInnen ganz erheblich mit solch einfacherer und anschaulicherer Bezeichnung geholfen wäre und damit viele Fehler vermieden werden könnten.

(Vgl. etwa im Deutschunterricht die Verwechslungen zwischen den ähnlich klingenden Wörtern "Subjekt" und "Substantiv": für letzteres wäre "Hauptwort" eben vielleicht doch besser.)

Nun bedeutet das lateinische Wort "Assoz-" ja in der Tat so etwa "Zuordnung", aber das hilft SchülerInnen spätestens dann nicht mehr, wenn sie kein Latein mehr können (und auch das deutsche Fremdwort "assoziieren" nicht mehr kennen).

Hier aber kommt der konventionelle Teil ins Spiel: wenn das Assoziativgesetz nunmal traditionell so genannt wird, kann man vielleicht noch kurzfristig im eigenen Unterricht aus dieser Sprachregelung heraus, wird aber eben auch das konventionelle Fachwort üben müssen, damit die SchülerInnen sich auch später mit Mathematik(lehrer)InneN verständigen können.

Wenn also beispielsweise Enzensberger in seinem Buch spaßeshalber mal von "Rettich" statt von "Wurzel" und von "hopsen" statt vom abstrakten "Potenzieren"  ( ?) spricht, so wird diese Sprachregelung sicherlich auf sein Buch beschränkt bleiben, zumal zumindest "Rettich" ja auch nicht besser (anschaulicher, verständlicher) als "Wurzel" ist. Wenn Enzensberger mit dem - ja offensichtlich von "Wurzel" abgeleiteten - "Rettich" überhaupt was erreicht hat, dann, dass die verblasste Metapher "" endlich mal wieder (wie bei allen Metaphern nötig) wörtlich genommen und damit das Wurzelziehen als Tätigkeit (statt als Computerergebnis) verstanden wird.

Fachsprache ist ja durchaus "sinnig":

  1. wurden die Begriffe meist eben keineswegs völlig willkürlich gewählt ("Schnurpsgesetz"), sondern machen durchaus Sinn bzw. beschreiben kurz, was da vorliegt

("Assoz-" = "Zuordnung"; oder die "Punktrichtungsform" einer Geraden geht eben gerade davon aus, dass eine Gerade in diesem Fall allein durch einen Punkt auf ihr und ihre Richtung festgelegt werden kann).

Es wäre nur dringend nötig, solche Entsprechungen von Bezeichnungen (Signifikanten) und mathematischen Gegenständen ("Signifikaten") ausdrücklich durchzunehmen und zu veranschaulichen.

  1. tragen Fachbegriffe dazu bei, sich Sachverhalte zu merken und sie erkennen zu können:

Wer beispielsweise mal ausführlich Metaphern im Deutschunterricht durchgenommen und sich das Wort gemerkt hat, wird sie auch leichter in einem Text finden, und vom Begriff aus geht dann eine ganze Reiz-Reaktions-Kette (Interpretation) aus.

Fachsprache ist also eine Art "Geländer", das man manchmal von SchülerInnen (u.a. zu ihrer eigenen Sicherheit) einfordern muss, auch wenn das ihnen gegenüber nicht immer motivierbar ist.

Leider werden Fachbegriffe im Unterricht aber oftmals völlig sinnentleert und stur angewandt

(wobei die sture Anwendung manchmal ja durchaus dazu beiträgt, einmal richtig begriffene Vorgehensweisen zu automatisieren).

Das beste Beispiel sind da Äquivalenzzeichen

(da Symbole ja auch sprachliche Zeichen sind bzw. alle Sprache nur aus Symbolen besteht):

Wenn also Äquivalenzzeichen sinnig sein sollen, so bleiben nur vier Möglichkeiten:

(Veränderung der Lösungsmenge im Laufe von Rechnungen; oder genauer natürlich: wie erreicht man, dass die Lösungsmenge sich nicht verändert?);

Insbesondere ist der Sinn des Äquivalenzzeichens immer wieder bei Beweisen der Art zu "zeigen" bzw. besser zu verbalisieren, dass etwas Schwieriges auf etwas Einfaches  zurück geführt wird

(evtl. auch auf Selbstverständliches wie z.B. 3 = 3 oder 3 ≠ 4):

Schwieriges ... ... Einfaches

Das ist doch nur dann "sinnig", wenn man am Ende auch wieder lückenlos rückwärts schließen kann:

Schwieriges ... ... Einfaches

x 2 = 2 x = oder x = - x ≈ 1,4142 oder x ≈ - 1,4142

Aber aus  x ≈ 1,4142 oder x ≈ - 1,4142 folgt nicht rückwärts auch wieder x2 = 2, denn (+/-1,4142)2 ≈1,9999616 ≠ 2: die Äquivalenzkette ist an einer Stelle (bei  ) unterbrochen.

Man könnte auch sagen: ist eine "semipermeable Membran", die Dinge nur von links nach rechts (raus) durchlässt, aber nicht rückwärts (rein):

hingegen ist eine Drehtür, zu der man rein und raus kann:

Bzw. => ist ein Informationsfilter, bei dem einige Informationen endgültig verloren gehen. Z.B. kann ich, wenn ich erst mal beim Rundungsergebnis 1,4142 bin, nie wieder weitere Nachkommastellen der berechnen

(und irgendwann mag sich bei technischen Anwendungen ja die Notwendigkeit einer größeren Genauigkeit ergeben; bzw. weitere Rechnungen mit 1,4142 statt können einen anfangs kleinen Rundungsfehler derart "aufblähen", dass das Endergebnis der Rechnung völlig unbrauchbar ist - weshalb es meist sinnvoll ist, möglichstmöglichst lange in einer Rechnung mitzuschleppen [insbesondere dann, wenn später doch wieder quadriert wird] und überhaupt erst ganz am Ende den Dezimalwert zu berechnen).

MathematikerInnen interessiert in der Regel nur totale Äquivalenz, aber nicht die Reduktion auf einige Details (und dann der naive oder dreiste Rückschluss aufs Ganze), die ja in der Tat gemeingefährlich werden kann

(z.B. beim Rückschluss von der [vermeintlichen] Eigenschaft eines Individuums auf eine ganze Menschen"rasse").

D.h. Mathematik erzeugt eine gesunde Allergie gegen unzulässige Verallgemeinerungen und Rückschlüsse

(macht aber auch schnell blind dafür, dass es im "richtigen" Leben kaum allgemeingültige Regeln gibt; bzw. allzu leichtfertig aufs "Leben" übertragen, stülpt sie diesem oft leichtfertig und dann auch gefährlich allgemeine Regeln über).

Manchmal ist der Verlust von Informationen aber auch wünschenswert,

(so dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht)

 Am Beispiel der :

(oder wenn überhaupt, dass der Zahlenwert irgendwo zwischen 1 und 2 liegen muss),

bei 1,4142 hat man aber schon genauere Vorstellungen.

Werden wir ENDLICH "un-strenger", also anschaulicher !
 

Eine Schulmathematik, die die "Strenge" übertreibt bzw. sich nur daran misst, macht sich nur zum Lakaien des derzeit gängigen Sozialdarwinismus, sie ist nur - nochmals gesagt - .