die Faszination derkleinen Dinge
(natürlich genitivus obiectivus, d.h. "Faszination für die kleinen Dinge")

"Der Große legt Fürsprache für die schlichten Dinge ein."
(Friedrich Nietzsche)

"Klein" ist hier nicht räumlich-geometrisch gemeint, denn mein Einstiegsbeispiel, nämlich eine


Cirruswolke (Feder[!]wolke),

ist nun wahrhaft nicht klein

("Kann eine Schäfchenwolke so viel wiegen wie eine Boeing 747? Der suggestive Charakter der Frage lässt erahnen, dass dem tatsächlich so ist - falls die Wolke winzige Ausmasse hat, ansonsten bringt sie weit mehr Gewicht auf die Waage."
[zitiert nach ]).

Aber vielen (?) Menschen mag solch eine Wolke als "(scheinbar) unscheinbar" oder "(scheinbar) unbedeutend" erscheinen, und vermutlich werden sie mir schon gar nicht folgen wollen/können, wenn ich Cirruswolken "federleicht" (s.u.), wunderschön "ätherisch", Kunstwerk eines großen Künstlers


(Caspar David Friedrich),

ja als "nicht von dieser Welt" empfinde.

Nun stehe ich mit meiner Vorliebe für Wolken allerdings nicht alleine da, bzw. es gibt ja selbst beim hinterletzten, unbedeutendsten Quatsch immer noch irgendwelche verschrobenen Spinner, die sich sowas als Spezialgebiet, ja geradezu als Lebenszweck aussuchen:


 

Aber ich behaupte einfach mal dreist, dass das nicht bloß pure Spinnerei ist: Wolken sind immerhin maßgebliche Elemente des Wetters!

(Man muss nicht "wetterfühlig" sein, um sich eben doch zu freuen, wenn nach ewig wolkenverhangenem Himmel endlich [!!!] Sonnenstrahlen durchkommen.

Umgekehrt gehören aber zum Archetyp

[= allgemeine bildliche Vorstellung in (angeblich) allen Menschen; vgl. unten "Primärfaszination"]

des "locus amoenus"

[= liebliche Landschaft; evtl. Erinnerungen an das Ursprungsgebiet des Menschen, also die Hochebenen Zentralafrikas]

eben doch einige "Schäfchenwolken".)

Und ist es nicht eben auch faszinierend zu hören (um mal naturwissenschaftlich zu werden), dass Cirruswolken keineswegs aus (flüssigem) Wasser, sondern - mitten im schönsten Sommerwetter - aus Eispartikeln bestehen?

Mehr noch: sind denn meine Empfindungen bei Wolken

(bis hin zum Umstand, dass ich da gerne [!] "kippfigurenartig" Figuren drin erkenne: )

wirklich

Mir ist wahrhaft nicht danach, mich hier (windelweich) zu verteidigen - und damit solche Einwände letztlich doch halb zu akzeptieren. Sondern

hiermit denunziere ich meinerseits die Denunziation der Empfindungen (bei Naturphänomenen) als stumpf und banausenhaft!

Die erste Empfindung, die da denunziert wird, ist nämlich das Staunen, das laut Aristoteles Vorbedingung aller Wissenschaft ist.

Überhaupt ist eine empfindungslose Wissenschaft ein gewaltiger - und gefährlicher! - Irrtum:


(man verzeihe dem Buch das nichtssagende Wort "fühlt")

"[...] Dieses Buch wendet sich gegen die naturwissenschaftliche Entzauberung der Welt. Doch es versucht nicht, der »wissenschaftlichen« Weltsicht eine irrationale Alternative entgegenzuhalten. Eine solche ist freilich zunehmend Mode. Man denke nur an die USA, wo zurzeit der naive Glaube an einen intelligenten Schöpfer, der alle Wesen wie ein grandioser Uhrmacher hergestellt hat, als »Intelligent Design« eine ungeahnte Renaissance erlebt. Ich behaupte dagegen: An der Entzauberung der Welt ist nicht der Wunsch schuld, sie zu ergründen, sondern unsere falsche Prämisse, die alle Forschung in den letzten Jahrzehnten zunehmend zu einer kalten und technischen Angelegenheit gemacht hat. Ich propagiere auf diesen Seiten keinen Abschied von der Wissenschaft, sondern eine Wissenschaft des Herzens. Wenn man die Ergebnisse der biologischen Forschung unvoreingenommen deutet, machen sie nur diese Lesart möglich. Um es klar zu sagen: Im gegenwärtigen Streit zwischen »Kreationisten« und »Evolutionisten« scheint vordergründig nur die Wahl zwischen zwei Alter-nativen zu bestehen. Entweder ist die Biosphäre eine Maschine, die ohne jeden Sinn entstand - oder sie ist ein (ebenfalls mechanischer) Apparat, den ein unbekannter Gott designte. Ein dritter Weg wird nicht einmal erwogen: Dass die Materie selbst schöpferisch ist, dass sie einem Prinzip der Fülle folgt und Subjektivität aus sich hervorbringt.
[...]
Die Natur ist nicht tot. Wir Menschen lieben sie, suchen sie und sehnen uns nach ihr. Wir spüren, dass uns der Spaziergang durch den Wald mit Frieden erfüllt, dass uns der Blick aufs Meer beruhigt, das Lied der Nachtigall bewegt. Wir Menschen brauchen die Natur, und wir müssen sie bewahren. Das ist uns selbstverständlich. Doch zugleich wissen wir nicht mehr, ob das Gefühl, das wir der Natur, den Pflanzen und Tieren gegenüber empfinden, normal ist - oder etwas Altmodisches und Peinliches. Gefühle und Naturwissenschaft scheinen unvereinbar zu sein. Seit Jahrhunderten erklärt uns die Wissenschaft, dass unsere Freude an anderen Lebewesen eine sentimentale Illusion sei. Ein solcher Standpunkt ignoriert ein tiefes Empfinden der Menschen. Zu Unrecht, wie sich jetzt zeigt. Denn Forscher entdecken heute, dass gerade unsere Gefühle zu den Kernfragen der modernen Naturwissenschaften führen. Diese Botschaft ist freilich so radikal, dass sie bisher nicht immer verstanden wurde. Sie heißt nichts anderes, als dass die Welt kein fremder Ort ist, sondern in einem emphatischen Sinne Heimat. [...]"
(S. 14f)

Gefährlich ist die Denunziation der "natürlichen" Empfindungen aus zwei Gründen:

  1. , weil sie eine Denkweise fördert, die maßgeblich zur Umweltzerstörung beiträgt

(da die Umwelt immer nur als abgetrenntes, also letztlich auch wohl überflüssiges Objekt angesehen wird),

  1. , weil sie "die" Leute aus den Naturwissenschaften

(und auch aus der "verfassten" Religion)

heraus und in die Fänge der Esoterik hinein treibt.


Wir (?) lassen uns viel zu sehr durch (scheinbar) "GROSSES" ablenken und hinhalten, also beispielsweise durch

(wohinter [damit?] sowas Wichtiges und doch Abstraktes wie Hintergründe, Vorgeschichten und Zusammenhänge verschwindet),

(so verständlich ich die Träume von "reich & sexy & Sozialratte" finde, die in solchen Zeitschriften befriedigt und erzeugt werden, so gefährlich erniedrigend sind sie doch gleichzeitig, wenn man "von Natur oder Gesellschaftsschicht aus" nicht die mindeste Chance hat, sie zu erreichen).

Da wäre Adalbert Stifters "Sanftes Gesetz"

(und überhaupt der Mut, das Wort "sanft" zu benutzen!)

fast schon ein Ausweg, wenn es nicht auch wieder nur die (andere) Hälfte der Wahrheit wäre: nichtmal Stifter selbst hat

(etwa in den Erzählungen des Buchs , zu dem "Das sanfte Gesetz" das Vorwort ist)

dieses - um mal zu kalauern - GESETZ umGESETZt:

„Seltener ist beobachtet worden, daß hinter der stillen, innigen Genauigkeit gerade seiner Naturbetrachtung eine Neigung zum Exzessiven, Elementar-Katastrophalen, Pathologischen wirksam ist."
(Thomas Mann; vgl. auch Wolfang Matz: Gewalt des Gewordenen; Zu Adalbert Stifter; Literaturverlag Droschl)

Und um fast schon hämisch Stifters Biographie als Kronzeugin gegen das Werk aufzurufen: Stifters Leben und - als Konsequenz daraus - sein Tod waren wahrhaft nicht sanft

(vielleicht hat er sich gerade deshalb so sehr nach Sanftheit gesehnt!).


Überhaupt glaube ich:

es gibt gewisse "kleine" Naturphänomene, die "ursprünglich" jedeN faszinieren.

(... weshalb ich bei ihnen auch von "Primärfaszination" spreche; und diese Primärfaszination kommt mir fast vor wie Platons angeborene "Ideen".

Schweigen möchte ich hingegen weitgehend von den "GROSSEN" Dingen, also beispielsweise

  • Vulkanausbrüchen   Buch des Monats 10/2003,
  • Erdbeben   Buch des Monats 3/2006, ,
  • Wirbelstürmen,
  • Tsunamis,
  • "Dem Schnee, dem Regen,
    Dem Wind entgegen,
    Im Dampf der Klüfte,
    Durch Nebeldüfte.
    Immer zu! Immer zu!
    Ohne Rast und ohne Ruh!"
    ["Rastlose Liebe" von Goethe],
  • etc.),

Wenn aber jemand die genannte "Primärfaszination" nicht mehr empfindet, dann (so behaupte ich einfachmal), weil eine anfänglich durchaus vorhandene Faszination

(etwa in Schulen bzw. durch die Sachwalter einer eiskalten Naturwissenschaft)

ausgetrieben wurde.

(Nebenbei:

  1. Auch die wahrhaft "GROSSEN" Naturphänomene sind noch erheblich faszinierender, als viele wissen:

  1. So schrecklich z.B. gigantische Vulkanausbrüche sein mögen

[und sie sind gigantischer, als der Laie es sich vorstellen kann!],

so sind sie gleichzeitig doch Voraussetzung jeglicher Evolution, d.h. sie schaffen Leben, indem sie es vernichten:

"[Ich bin] Ein Teil von jener Kraft,
 Die stets das Böse will und stets das Gute schafft."
 [Mephisto in Goethes "Faust I"]

  1. Ein Hurrikan kann die vielfache Energie einer Wasserstoff-Bombe aufbauen.

  2. "Monsterwellen".

Und dennoch ist es natürlich bitter ernst zu nehmen, dass solches Wissen die Opfer von Vulkanausbrüchen, Hurrikans und "Monsterwellen" nicht im mindesten tröstet, wie Naturwissenschaft ja überhaupt kaum je die "letzten Fragen" beantworten kann; vgl. .

  1. steckt aber auch und gerade hinter den unscheinbaren, allzu selbstverständlichen und deshalb gar nicht mehr als solche wahrgenommenen Phänomenen oftmals eben doch etwas "Phänomenales":

  1. Wolke ist nicht gleich Wolke, sondern wenn etwa in einer Gewitterwolke Blitz und Hagel gebildet werden, ist wahrhaft die Sau los!

  2. oder vergleich etwa die irrwitzigen, absolut einmaligen Eigenschaften popeligen Wassers, wie sie etwa in dem Buch   gezeigt werden - und Leben überhaupt ermöglichen. Dazu aber muss man nichtmal so [ablenkend] esoterisch werden wie beispielsweise . Umgekehrt liefert das Thema "Wasser" aber massenhaft Anlässe für [s.u.] historisch-kulturelle Überlegungen:

  1. muss man sich ja wahrhaft nicht für alles interessieren, sondern ich meine "nur" eine gewisse Disposition für Naturphänomene, die aber vielleicht nie Gelegenheit hatte, "aktual" zu werden. Z.B. wird ein Südseeinsulaner wenig Anlass gehabt haben, sich für

"Schneeflöcken, weiß Röckchen"

und die faszinierende Schönheit von Schneekristallen zu begeistern.)

Musterbeispiele der Primärfaszination für "Kleines" sind

Solche Phänomene sind vor und neben aller Wissenschaftlichkeit faszinierend und schön.

Und schön wäre es auch, wenn

  • sich aus ihnen wissenschaftliche Fragen ergäben

(aber die Faszination "darf" auch Selbstzweck bleiben!),

  • die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen aber nicht die Faszination/Schönheit zerstören,

  • sondern im besten Falle sogar noch erhöhen würde.

Genau diese Punkte (und insbesondere der Selbstzweck) unterscheiden solche Phänomene aber von fast allem, was üblicherweise im Schulunterricht abgehandelt wird!

Dabei behaupte ja keineswegs, dass meine Feststellung der Faszination für gewisse Naturphänomene neu ist: beispielsweise hat das ja alles schon gewusst!

Und ich werde auch den Teufel tun zu behaupten, dass aller Schulunterricht nun an solchen faszinierenden Naturphänomenen aufgehängt werden kann - und sollte: es ist z.B. auch für die Faszination für sehr abstrakte Probleme (vgl. etwa   ) zu werben, und überhaupt gibt es immer wieder

(auch bei der wissenschaftlichen Ergründung solch faszinierender Phänomene!)

schlichte "Paukphasen".

Überhaupt ahne ich noch die spezielle Schwierigkeit, dass viele SchülerInnen

(Meinungsmacher in Klassen)

jede Faszination für solche Naturphänomene im o.g. Sinne denunzieren werden,

(also durchaus fachlich gut, aber doch herzlos),


Wolken

(allemal ein hochinteressantes Gebiet für den "erweiterten" naturwissenschaftlichen Unterricht!)

waren aber nur der erste Zugang zu dem, worum es mir hier geht:

  1. , weil Wolken nur scheinbar "klein" sind,

  2. , weil Cirruswolken auch als Feder(!)wolken bezeichnet werden, eben weil sie oftmals auch wie Federn aussehen:

Denn der eigentliche Anlass für diesen Aufsatz ist eine "erstbeste"


(Vogel-)Feder!

Und das eben auch deshalb, weil solch eine Feder nun wahrhaft "klein", nämlich fast gewichtslos ist. Gerade deshalb wird von ihr ja das Wort "federleicht" abgeleitet:

federleicht, [...] ohne [!] Gewicht, gewicht[s]los [!] [...]
(Duden - Die sinn- und sachverwandten Wörter)


Der beste Beleg dafür, dass eine stinknormale Feder auf alle Menschen ungeheuer faszinierend wirkt, ist vielleicht die Anfangsszene des Films "Forrest Gump"

(und das wohl insbesondere, wenn gilt, woran ich mich unklar erinnere, wofür ich aber nicht auf Anhieb einen Beleg finde:

dass

[was man ja durchaus auch kritisch sehen könnte]

"Forrest Gump" ganz bewusst auf "den" (allgemeinen) Publikumsgeschmack (und damit den einen oder anderen "Oscar") hin konzipiert wurde, indem man schon während der Dreharbeiten hunderte von Leuten gefragt hat, ob´s ihnen denn auch ganz unbedingt gefalle):

 

 

 

An Federn kann man nun - so behaupte ich einfach mal - die halbe Kulturgeschichte aufhängen, und es hat mich fast gewundert, dass ich bei der Suche nach Internetseiten und Büchern mit dem Titel "Die Kulturgeschichte der Feder" nicht fündig geworden bin - wie etwa bei

 

 
 

Überhaupt ist ein "Naturphänomen" nur wirklich faszinierend, wenn seine Behandlung in viele andere Kulturbereiche und die Geschichte ausgreift

(was dann nebenbei auch ein Beweis dafür ist, dass es allgemein faszinierend ist;

und dass hinter den vordergründig rein "natürlichen" immer auch kulturelle Phänomene aufleuchten, wurde ja beispielsweise bereits an deutlich).

Hier seien nur einige wenige Elemente einer Kulturgeschichte der Feder aufgezeigt:


Selbstverständlich sind in einer Unterrichtseinheit "Federn" aber natürlich auch naturwissenschaftliche Betrachtungen möglich

(zumal Naturwissenschaft ja auch ein Teil der erweiterten Kultur ist).

So können sich beispielsweise gerade aus der Primärfaszination für Federn ja beispielsweise die Fragen ergeben,

(vgl. ),

(federleicht und doch - durch Flexibilität - enorm stabil; vgl. ),

Und dazu gibt es gerade im relativ neuen

(in Schulen leider kaum angekommenen)

Fachgebiet der  "Bionik" wahrhaft hochinteressante Erkenntnisse, wie man ja überhaupt der Natur ungeheuer viele (auch ökologische) Tricks abschauen kann; vgl. etwa im Buch das Kapitel "Wie die Vögel fliegen - fliegen wie die Vögel?" (S. 54ff).

Und gerade durch die Bionik sollte das Staunen erhöht statt - wie oft üblich - totgeschlagen bzw. für eine reine Fachlogik "kastriert" werden.


Es ist einmal gegen mich bemerkt worden, daß ich nur das Kleine bilde, und daß meine Menschen stets gewöhnliche Menschen seien. Wenn das wahr ist, bin ich heute in der Lage, den Lesern ein noch Kleineres und Unbedeutenderes anzubieten, nämlich allerlei Spielereien für junge Herzen. Es soll sogar in denselben nicht einmal Tugend und Sitte gepredigt werden, wie es gebräuchlich ist, sondern sie sollen nur durch das wirken, was sie sind. Wenn etwas Edles und Gutes in mir ist, so wird es von selber in meinen Schriften liegen, wenn aber dasselbe nicht in meinem Gemüte ist, so werde ich mich vergeblich bemühen, Hohes und Schönes darzustellen, es wird doch immer das Niedrige und Unedle durchscheinen. Großes oder Kleines zu bilden, hatte ich bei meinen Schriften überhaupt nie im Sinne, ich wurde von ganz anderen Gesetzen geleitet. Die Kunst ist mir ein so Hohes und Erhabenes, sie ist mir, wie ich schon einmal an einem anderen Orte gesagt habe, nach der Religion das Höchste auf Erden, so daß ich meine Schriften nie für Dichtungen gehalten habe, noch mich je vermessen werde, sie für Dichtungen zu halten. Dichter gibt es sehr wenige auf der Welt, sie sind die hohen Priester, sie sind die Wohltäter des menschlichen Geschlechtes; falsche Propheten aber gibt es sehr viele. Allein wenn auch nicht jede gesprochenen Worte Dichtung sein können, so könnten sie doch etwas anderes sein, dem nicht alle Berechtigung des Daseins abgeht. Gleichgestimmten Freunden eine vergnügte Stunde zu machen, ihnen allen bekannten wie unbekannten einen Gruß zu schicken, und ein Körnlein Gutes zu dem Baue des Ewigen beizutragen, das war die Absicht bei meinen Schriften und wird auch die Absicht bleiben. Ich wäre sehr glücklich, wenn ich mit Gewißheit wüßte, daß ich nur diese Absicht erreicht hätte. Weil wir aber schon einmal von dem Großen und Kleinen reden, so will ich meine Ansichten darlegen, die wahrscheinlich von denen vieler anderer Menschen abweichen. Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer Gesetze sind. Sie kommen auf einzelnen Stellen vor und sind die Ergebnisse einseitiger Ursachen. Die Kraft, welche die Milch im Töpfchen der armen Frau emporschwellen und übergehen macht, ist es auch, die die Lava in dem feuerspeienden Berge emportreibt und auf den Flächen der Berge hinabgleiten läßt. Nur augenfälliger sind diese Erscheinungen und reißen den Blick des Unkundigen und Unaufmerksamen mehr an sich, während der Geisteszug des Forschers vorzüglich auf das Ganze und Allgemeine geht und nur in ihm allein Großartigkeit zu erkennen vermag, weil es allein das Welterhaltende ist. Die Einzelheiten gehen vorüber, und ihre Wirkungen sind nach kurzem kaum noch erkennbar. Wir wollen das Gesagte durch ein Beispiel erläutern. Wenn ein Mann durch Jahre hindurch die Magnetnadel, deren eine Spitze immer nach Norden weist, tagtäglich zu festgesetzten Stunden beobachtete und sich die Veränderungen, wie die Nadel bald mehr bald weniger klar nach Norden zeigt, in einem Buche aufschriebe, so würde gewiß ein Unkundiger dieses Beginnen für ein kleines und für Spielerei ansehen: aber wie ehrfurchterregend wird dieses Kleine und wie begeisterungerweckend diese Spielerei, wenn wir nun erfahren, daß diese Beobachtungen wirklich auf dem ganzen Erdboden angestellt werden, und daß aus den daraus zusammengestellten Tafeln ersichtlich wird, daß manche kleine Veränderungen an der Magnetnadel oft auf allen Punkten der Erde gleichzeitig und in gleichem Maße vor sich gehen, daß also ein magnetisches Gewitter über die ganze Erde geht, daß die ganze Erdoberfläche gleichzeitig gleichsam ein magnetisches Schauern empfindet. Wenn wir, so wie wir für das Licht die Augen haben, auch für die Elektrizität und den aus ihr kommenden Magnetismus ein Sinneswerkzeug hätten, welche große Welt, welche Fülle von unermeßlichen Erscheinungen würde uns da aufgetan sein. Wenn wir aber auch dieses leibliche Auge nicht haben, so haben wir dafür das geistige der Wissenschaft, und diese lehrt uns, daß die elektrische und magnetische Kraft auf einem ungeheuren Schauplatze wirke, daß sie auf der ganzen Erde und durch den ganzen Himmel verbreitet sei, daß sie alles umfließe und sanft und unablässig verändernd, bildend und lebenerzeugend sich darstelle. Der Blitz ist nur ein ganz kleines Merkmal dieser Kraft, sie selber aber ist ein Großes in der Natur. Weil aber die Wissenschaft nur Körnchen erringt, nur Beobachtung nach Beobachtung macht, nur aus Einzelnem das Allgemeine zusammenträgt, und weil endlich die Menge der Erscheinungen und das Feld des Gegebenen unendlich groß ist, Gott also die Freude und die Glückseligkeit des Forschens unversieglich gemacht hat, wir auch in unseren Werkstätten immer nur das Einzelne darstellen können, nie das Allgemeine, denn dies wäre die Schöpfung: so ist auch die Geschichte des in der Natur Großen in einer immerwährenden Umwandlung der Ansichten über dieses Große bestanden. Da die Menschen in der Kindheit waren, ihr geistiges Auge von der Wissenschaft noch nicht berührt war, wurden sie von dem Nahestehenden und Auffälligen ergriffen und zu Furcht und Bewunderung hingerissen: aber als ihr Sinn geöffnet wurde, da der Blick sich auf den Zusammenhang zu richten begann, so sanken die einzelnen Erscheinungen immer tiefer, und es erhob sich das Gesetz immer höher, die Wunderbarkeiten hörten auf, das Wunder nahm zu.

So wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechtes. Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwingung seiner selbst, Verstandesmäßigkeit, Wirksamkeit in seinem Kreis, Bewunderung des Schönen, verbunden mit einem heiteren gelassenen Sterben, halte ich für groß: mächtige Bewegungen des Gemütes, furchtbar einherrollenden Zorn, die Begier nach Rache, den entzündeten Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört und in der Erregung oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner, da diese Dinge so gut nur Hervorbringungen einzelner und einseitiger Kräfte sind, wie Stürme, feuerspeiende Berge, Erdbeben. Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird. Es gibt Kräfte, die nach dem Bestehen des Einzelnen zielen. Sie nehmen alles und verwenden es, was zum Bestehen und zum Entwickeln desselben notwendig ist. Sie sichern den Bestand des Einen und dadurch den aller. Wenn aber jemand jedes Ding unbedingt an sich reißt, was sein Wesen braucht, wenn er die Bedingungen des Daseins eines anderen zerstört, so ergrimmt etwas Höheres in uns, wir helfen dem Schwachen und Unterdrückten, wir stellen den Stand wieder her, daß er ein Mensch neben dem andern bestehe und seine menschliche Bahn gehen könne, und wenn wir das getan haben, so fühlen wir uns befriedigt, wir fühlen uns noch viel höher und inniger, als wir uns als Einzelne fühlen, wir fühlen uns als ganze Menschheit. Es gibt daher Kräfte, die nach dem Bestehen der gesamten Menschheit hinwirken, die durch die Einzelkräfte nicht beschränkt werden dürfen, ja im Gegenteile beschränkend auf sie selber einwirken. Es ist das Gesetz dieser Kräfte, das Gesetz der Gerechtigkeit, das Gesetz der Sitte, das Gesetz, das will, daß jeder geachtet, geehrt, ungefährdet neben dem anderen bestehe, daß er seine höhere menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, daß er als Kleinod gehütet werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle andern Menschen ist. Dieses Gesetz liegt überall, wo Menschen neben Menschen wohnen, und es zeigt sich, wenn Menschen gegen Menschen wirken. Es liegt in der Liebe der Ehegatten zu einander, in der Liebe der Eltern zu den Kindern, der Kinder zu den Eltern, in der Liebe der Geschwister, der Freunde zueinander, in der süßen Neigung beider Geschlechter, in der Arbeitsamkeit, wodurch wir erhalten werden, in der Tätigkeit, wodurch man für seinen Kreis, für die Ferne, für die Menschheit wirkt, und endlich in der Ordnung und Gestalt, womit ganze Gesellschaften und Staaten ihr Dasein umgeben und zum Abschlusse bringen. Darum haben alte und neue Dichter vielfach diese Gegenstände benützt, um ihre Dichtungen dem Mitgefühle naher und ferner Geschlechter anheim zu geben. Darum sieht der Menschenforscher, wohin er seinen Fuß setzt, überall nur dieses Gesetz allein, weil es das einzige Allgemeine, das einzige Erhaltende und nie Endende ist. Er sieht es eben so gut in der niedersten Hütte wie in dem höchsten Palaste, er sieht es in der Hingabe eines armen Weibes und in der ruhigen Todesverachtung des Helden für das Vaterland und die Menschheit. Es hat Bewegungen in dem menschlichen Geschlechte gegeben, wodurch den Gemütern eine Richtung nach einem Ziele hin eingeprägt worden ist, wodurch ganze Zeiträume auf die Dauer eine andere Gestalt gewonnen haben. Wenn in diesen Bewegungen das Gesetz der Gerechtigkeit und Sitte erkennbar ist, wenn sie von demselben eingeleitet und fortgeführt worden sind, so fühlen wir uns in der ganzen Menschheit erhoben, wir fühlen uns menschlich verallgemeinert, wir empfinden das Erhabene, wie es sich überall in die Seelen senkt, wo durch unmeßbar große Kräfte in der Zeit oder im Raume auf ein gestaltvolles vernunftgemäßes Ganzes zusammen gewirkt wird. Wenn aber in diesen Bewegungen das Gesetz des Rechtes und der Sitte nicht ersichtlich ist, wenn sie nach einseitigen und selbstsüchtigen Zwecken ringen, dann wendet sich der Menschenforscher, wie gewaltig und furchtbar sie auch sein mögen, mit Ekel von ihnen ab und betrachtet sie als ein Kleines, als ein des Menschen Unwürdiges. So groß ist die Gestalt dieses Rechts- und Sittengesetzes, daß es überall, wo es immer bekämpft worden ist, doch endlich allezeit siegreich und herrlich aus dem Kampfe hervorgegangen ist. Ja wenn sogar der einzelne oder ganze Geschlechter für Recht und Sitte untergegangen sind, so fühlen wir sie nicht als besiegt, wir fühlen sie als triumphierend, in unser Mitleid mischt sich ein Jauchzen und Entzücken, weil das Ganze höher steht als der Teil, weil das Gute größer ist als der Tod, wir sagen da, wir empfinden das Tragische und werden mit Schauern in den reineren äther des Sittengesetzes emporgehoben. Wenn wir die Menschheit in der Geschichte wie einen ruhigen Silberstrom einem großen ewigen Ziele entgegen gehen sehen, so empfinden wir das Erhabene, das vorzugsweise Epische. Aber wie gewaltig und in großen Zügen auch das Tragische und Epische wirken, wie ausgezeichnete Hebel sie auch in der Kunst sind, so sind es hauptsächlich doch immer die gewöhnlichen, alltäglichen, in Unzahl wiederkehrenden Handlungen der Menschen, in denen dieses Gesetz am sichersten als Schwerpunkt liegt, weil diese Handlungen die dauernden, die gründenden sind, gleichsam die Millionen Wurzelfasern des Baumes des Lebens. So wie in der Natur die allgemeinen Gesetze still und unaufhörlich wirken, und das Auffällige nur eine einzelne Äußerung dieser Gesetze ist, so wirkt das Sittengesetz still und seelenbelebend durch den unendlichen Verkehr der Menschen, und die Wunder des Augenblickes bei vorgefallenen Taten sind nur kleine Merkmale dieser allgemeinen Kraft. So ist dieses Gesetz, so wie das der Natur das welterhaltende ist, das menschenerhaltende.

Wie in der Geschichte der Natur die Ansichten über das Große sich stets geändert haben, so ist es auch in der sittlichen Geschichte der Menschen gewesen. Anfangs wurden sie von dem Nächstliegenden berührt, körperliche Stärke und ihre Siege im Ringkampfe wurden gepriesen, dann kamen Tapferkeit und Kriegesmut, dahin zielend, heftige Empfindungen und Leidenschaften gegen feindselige Haufen und Verbindungen auszudrücken und auszuführen, dann wurde Stammeshoheit und Familienherrschaft besungen, inzwischen auch Schönheit und Liebe so wie Freundschaft und Aufopferung gefeiert, dann aber erschien ein Überblick über ein Größeres: ganze menschliche Abteilungen und Verhältnisse wurden geordnet, das Recht des Ganzen vereint mit dem des Teiles, und Großmut gegen den Feind und Unterdrückung seiner Empfindungen und Leidenschaften zum Besten der Gerechtigkeit hoch und herrlich gehalten, wie ja Mäßigung schon den Alten als die erste männliche Tugend galt, und endlich wurde ein völkerumschlingendes Band als ein Wünschenswertes gedacht, ein Band, das alle Gaben des einen Volkes mit denen des andern vertauscht, die Wissenschaft fördert, ihre Schätze für alle Menschen darlegt und in der Kunst und Religion zu dem einfach Hohen und Himmlischen leitet.

Wie es mit dem Aufwärtssteigen des menschlichen Geschlechtes ist, so ist es auch mit seinem Abwärtssteigen. Untergehenden Völkern verschwindet zuerst das Maß. Sie gehen nach Einzelnem aus, sie werfen sich mit kurzem Blick auf das Beschränkte und Unbedeutende, sie setzen das Bedingte über das Allgemeine; dann suchen sie den Genuß und das Sinnliche, sie suchen Befriedigung ihres Hasses und Neides gegen den Nachbar, in ihrer Kunst wird das Einseitige geschildert, das nur von einem Standpunkte Gültige, dann das Zerfahrene, Umstimmende, Abenteuerliche, endlich das Sinnenreizende, und zuletzt die Unsitte und das Laster, in der Religion sinkt das Innere zur bloßen Gestalt oder zur üppigen Schwärmerei herab, der Unterschied zwischen Gut und Böse verliert sich, der einzelne verachtet das Ganze und geht seiner Lust und seinem Verderben nach, und so wird das Volk eine Beute seiner inneren Zerwirrung oder die eines äußeren, wilderen, aber kräftigeren Feindes.


Da ich in dieser Vorrede in meinen Ansichten über Großes und Kleines so weit gegangen bin, so sei es mir auch erlaubt zu sagen, daß ich in der Geschichte des menschlichen Geschlechtes manche Erfahrungen zu sammeln bemüht gewesen bin, und daß ich einzelnes aus diesen Erfahrungen zu dichtenden Versuchen zusammengestellt habe; aber meine eben entwickelten Ansichten und die Erlebnisse der letztvergangenen Jahre lehrten mich, meiner Kraft zu mißtrauen, daher jene Versuche liegen bleiben mögen, bis sie besser ausgearbeitet oder als unerheblich vernichtet werden.

Diejenigen aber, die mir durch diese keineswegs für junge Zuhörer passende Vorrede gefolgt sind, mögen es auch nicht verschmähen, die Hervorbringungen bescheidenerer Kräfte zu genießen, und mit mir zu den harmlosen folgenden Dingen übergehen.

Im Herbste 1852 Adalbert Stifter