lebensnahe Stochastik

 

vgl. auch

"Wussten Sie schon, dass die Wahrscheinlichkeit, selbst einmal ein Spendeorgan zu benötigen, höher ist, als die Wahrscheinlichkeit, selbst Organspender zu werden?"

Und was besagt das? Vielleicht nur, dass jeder im Notfall ein Spenderorgan bekommen, aber kaum einer eins geben möchte?

Sto|cha|stik [ßtoch...; gr.] die; -: Teilgebiet der Statistik, das sich mit der Analyse zufallsabhängiger Ereignisse u. deren Wert für statistische Untersuchungen befaßt.

(c) Dudenverlag

Statistik "Wissenschaft von der zahlenmäßigen Erfassung, Untersuchung und Auswertung von Massenerscheinungen; Zusammenstellung von Untersuchungsergebnissen in Tabellenform o. ä.": Das Fremdwort ist seit dem 17. Jh. in der Bedeutung "Staatswissenschaft" bezeugt. Es ist eine Bildung zu veraltet 'Statist' "Staatsmann", die wohl von nlat. statisticus "staatswissenschaftlich" beeinflußt ist (über das zugrundeliegende lat. status "Zustand, Stand [der Dinge]" vgl. Staat). Die heutige Bedeutung erlangte das Wort im ausgehenden 18. Jh. Dazu: statistisch "die Statistik betreffend, auf Ergebnissen der Statistik beruhend; durch Zahlen belegt" (18. Jh.).

(c) Dudenverlag

Grob eingeteilt, gibt es im Matheunterricht wohl drei Arten von Aufgaben:

  1. Aufgaben von rein innermathematischer Bedeutung

(sie sind und bleiben wichtig, weil wir ja eigentlich Mathematik beibringen wollen; und ich vertraue darauf, dass man auch sie samt innermathematischer Verfahren und Denkweisen sehr wohl dramatisch vermitteln kann);

  1. heute mehr denn je für ach so wichtig gehaltene Anwendungsaufgaben;
  2. "lebensnahe" Aufgaben, wobei "lebensnah" ja wohl heißen soll: "nah am Leben 'der' SchülerInnen".

Um 2. und vor allem 3. (nicht aber um 1.) soll es hier gehen.

Mir scheint doch, dass 2. und 3. allzu leichtfertig gleichgesetzt werden: eine Aufgabe mag ja in der Tat eine echte (und nicht nur "eingekleidete") Anwendungsaufgabe sein, lebensnah ist sie damit aber noch lange nicht.

Das ja ist das Problem: selbstverständlich durchzieht angewandte Mathematik heutzutage unsere gesamte (technische) Gesellschaft, aber fast schon paradoxerweise nur im Verborgenen:

mein Computer steckt (von der Konstruktion und grundlegenden Programmierung her) sozusagen randvoll mit Mathematik, aber ich "sehe" und brauche sie auch nicht, wenn ich ihn beispielsweise nur als "bessere Schreibmaschine" benutze.

Vermutlich ist es mit der Statistik doch so wie mit aller Mathematik: "man" braucht im "normalen" Leben reichlich wenig davon, es reicht der Stoff etwa der 7. Klasse (Grundrechenarten, Dreisatz, Prozentrechnung) - und Mathematik wird aus ganz anderen als puren Nützlichkeitsgründen gelehrt.

Ein Mathematikprojekt, das ausdrücklich auf Lebensnähe abzielt, nennt "reale Probleme" aus folgenden Bereichen:

Ausdrückliches Ziel der AutorInnEN dieses Projekts ist es, möglichst viele Interessen und Felder anzusprechen, also

  1. in einer Art Schrotschussladung für jedes Interesse eine Aufgabe zu bieten (in der Hoffnung, dass dann möglichst jeder sich angesprochen fühlt),
  2. implizit zu zeigen, dass verschiedenste Themen mit einem mathematischem Mittel "erschlagbar" sind.

Dementsprechend liefern sie in einer Einstiegsphase nicht alternativ eins der obigen Themen, sondern möglichst alle gleichzeitig.

Natürlich sind alle da genannten Bereiche und die Probleme in ihnen "real". Und mit den Folgen der dort getroffenen Entscheidungen werden die SchülerInnen oftmals auch ganz real (und doch unmerklich?) konfrontiert. Dennoch aber scheinen mir die meisten Bereiche (außer vielleicht "Freizeit & Sport") nicht "lebensnah", weil dort auftauchende Probleme nicht gerade die Probleme von Jugendlichen sind.

(Und überhaupt scheint mir, dass die meisten üblichen Einstiegsaufgaben

[auch wenn sie nicht bloß "eingekleidet" sind, so dass selbst der Dümmste merkt: "Pythagoras, ick hör dir trapsen (nur wo biste denn?)"]

schon viel zu sehr vormathematisiert sind

[die meisten MathematikerInnen können gar nicht mehr anders, sie haben immer schon die Mathematikbrille auf bzw. das Ziel, von dem aus sie rückwärts denken, im Visier].

Ein gelungenes Beispiel zur Einführung der Ableitung:

Ein Mann namens BerMWard R. Audi wird am Ortseingang mit 70 km/h geblitzt und bekommt dementsprechend ein Strafmandat. Er legt dagegen Einspruch mit der Begründung ein, weil er die Radarfalle als Ortsansässiger kenne, habe er es sich angewöhnt, 100 m vor der Radarfalle von 80 km/h auf 20 km/h 100 m nach der Radarfalle (bei einer stadtbekannten Straßenschwelle vor einem Kindergarten) abzubremsen. Wie wird BerMWard R. Audi wohl weiter argumentiert haben?

Aber alles wird kaputt gemacht, wenn man dann direkt nach Durchschnitts- und Momentangeschwindigkeit fragt.

So wird bei den allermeisten Stochastik-Einstiegsaufgaben mittels fertiger Statistiken bzw. des Auftrags, selbst eine Statistik [z.B. zur Körpergröße der SchülerInnen einer Klasse] zu erstellen, schon die Bedeutsamkeit bzw. Notwendigkeit von Statistiken vorausgesetzt, statt mal zu eruieren, wozu sie überhaupt wünschenswert sind, oder eine Aufgabe zu stellen, bei der erst sehr spät klar wird, dass eine Statistik hilfreich sein könnte.

Um ansatzweise konstruktiv zu werden, nur einige wenige Beispiel für einen offeneren Einstieg in Statistik:

  1. "Untersuche Ursachen und Verbreitung von Aids weltweit (und insbesondere in  [Süd-]Afrika)!"

Die SchülerInnen könnten hier tatsächlich das Internet benutzen, um überhaupt erst zu allgemeinen und dann auch statistischen Informationen zu kommen. Implizit ist auch nach Folgen und Hilfsmöglichkeiten gefragt, könnte also aus dem Mathematikunterricht auch ein Emailkontakt mit einer afrikanischen Schule/Institution und ein kooperatives Hilfsprojekt entstehen.
(Dabei sei mal dahingestellt, ob man unter dem Stoffdruck Zeit dazu hat. Aber vielleicht lässt sich solch ein [einziges] Engagement auch neben dem Folgeunterricht weiterführen.) 

  1. "Aids gibt es gar nicht bzw. ist die Erfindung von Politikern oder der pharmazeutischen Industrie gegen Afrika."
    (eine ja durchaus ernsthaft geäußerte Meinung)
  2. "Die Lebensversicherungen verlangen Gentests für alle potentiellen Mitglieder"
  3. "Aspirin wirkt genauso gut und schlecht wie Zuckerwasser (Placeboeffekt)"
  4. "angeboren/anerzogen" (z.B. bei Frauen/Männern; Zwillingsforschung; oder biografische Hintergründe Schwerkrimineller)
  5. "die Kriminalität 'der' Ausländer".

Das alles sind - hübsch provokativ - wohl Aufgaben, die jede(N) (JugendlicheN) (?) angehen, vor allem aber

Aufgaben, die als Thesen bzw. Themen formuliert sind

(statt als im Grunde fast hinterhältig-überhebliche Fragen nach sowieso [zumindest dem Lehrer] Bekanntem oder als Aufträge, bei denen schon von vornherein klar ist, was [mathematisch] rauskommen soll [eben z.B. Statistik bzw. bestimmte statistische Mittel]).

Wichtig wäre es, (etwa bei Gen- und Aidstests) keine Panik zu schüren, sondern differenziertes (mathematisches!, aber auch durch andere Fachgebiete ergänztes) Denken anzuregen.

Bzgl. geeigneter Einstiegsaufgaben denken die AutorInnEN des o.g. Projekts erfrischend anders: sie liefern tatsächlich offene [und nicht nur mit Mathematik zu bearbeitende] Aufgaben. Womit natürlich das Grundproblem nicht behebbar ist, dass alles im Matheunterricht [und dort in einem bestimmten Kontext] stattfindet, das Ziel, nämlich Mathematisierung, also letztlich immer schon bekannt ist.)

Dass viele Themen nicht wirklich für Jugendliche "lebensnah" sind, heißt ja nicht, dass man nun gar nicht mehr auf - aus Sicht der Jugendlichen - "abstrakteren" Probleme eingehen sollte. Wenn sie sich z.B. nicht für Politik interessieren, muss man sie dennoch sukzessive damit bekannt machen.

(Da gehe ich durchaus z.B. mit Peter Rühmkorf daccord,  "[d]aß unsere Klassiker und mit ihnen alles sorgfältig Herausgebildete, kunstvoll Gediegene und in jedem Fall über den Tele-Flimmer-Horizont Hinausragende [also überhaupt 'Bildung'] nicht ganz ohne Druck und also pädagogische Erpressung durchzusetzen sei [...].")

Und natürlich gilt auch:

"Wir schlagen morgens unsere Zeitung auf - und ehe das letzte Blatt gewendet ist, haben wir mehr Statistiken gesehen als Goethe oder Schiller, solange sie lebten."
(Walter Krämer in )

Aber sind es denn auch tatsächlich Statistiken, die "uns" (bzw. Jugendliche) wirklich angehen? Oder sind es nur "news" ("das durchschnittliche deutsche Kleinkind hat 2,7 Kuscheltiere, und in China ist ein Sack Reis umgefallen"), aber keine Nachrichten, nach denen man sich eben richten kann?

Genau das wäre ja eine entscheidende und überhaupt erst wirklich interessante Frage: ob und inwieweit Statistiken tatsächlich auf uns wirken und wir unser Leben bzw. unsere (Vor-)Urteile danach richten.

(Nun, die "Wirkung" [wie die aller Medien und Werbung] ist vermutlich nur vermittelt und zudem höchst komplex.)

Mir scheinen vor allem drei Zugänge zur Statistik/Stochastik interessant:

  1. erstaunliche Statistiken

(also z.B.:

Bier für Frauen
Stück von Felicia Zeller

Felicia Zeller zu ihrem Stück:
"Frauen", schreibt Ingo G. (23) aus Darmstadt in einem Leserbrief an das JETZTmagazin der Süddeutschen Zeitung, "sollten keinen Alkohol trinken. Trinken sie Bier, werden sie albern, dann träge und sind zu nichts mehr zu gebrauchen. Bei uns Jungs ist das anders. Wir verstehen es, haben wir erst ein paar Bier getrunken, den Abend mit interessanten, tiefgreifenden Gesprächen ausklingen zu lassen." Ob Ingo G. recht hat?

"Bier für Frauen" basiert auf in jahrelanger Trink- und Sprachrecherche gesammelten Gesprächsfetzen. Es ergründet die Formen von Kommunikation, die im Laufe massiven Bierkonsums entstehen und erzählt die Geschichte junger Frauen, wie sie von ihnen selbst erzählt wird.

oder genauer: wenn zigmillionen Menschen gar kein Bier trinken, müssen die letztlich doch vergleichsweise wenigen Biertrinker gar nicht mal so viel "saufen" [sondern "nur" den Schnitt], um den hohen Schnitt zu erzeugen.)

und insbesondere solche, die - nun wahrhaft ein Erziehungsziel! - hübsch unsere Vorurteile über den Haufen werfen (s.u. das "Türkenbeispiel").

Stochastik ist aber wie kein anderes mathematisches Fachgebiet erstaunlich, weil

(wie z.B. das "Geburtstagsproblem")

laufen ja gerade darauf hinaus, ja, werden überhaupt nur eingebracht, weil sie aller Anschauung widersprechen;

  1. gefälschte Statistiken (seis aus mathematischer Unwissenheit, seis aus echtem Interesse);

    (Vgl. z.B. die berühmte Statistik, dass es für eine Frau über 40 wahrscheinlicher sei, ermordet zu werden als noch [und dann natürlich zwecks Heirat vor "Thron und Altar"] einen Mann zu "finden". Nicht nur, dass diese Statistik bösartig gefälscht war und dann allzu naiv oder aber geradezu zustimmend allüberall abgeschrieben und zitiert wurde; sondern interessant ist ja schon die implizite Unterstellung, dass "keinen Mann [!] zu kriegen" fast noch schlimmer sei, als ermordet zu werden ["nur eine tote Frau ist eine gute Frau, bzw. eine Frau ohne Mann ist ein Nichts, hat ihren Lebenszweck verfehlt"]. Eins ist da allemal klar: auf die Idee, solch eine Statistik nicht bloß zu fälschen, sondern schlichtweg zu erfinden, können nur Männer gekommen sein - indem er schlichtweg projizierten, dass sie nicht ohne [untergeordnete] Frauen auskommen konnten.
    Siehe dazu Susan Faludis Buch , in dem sie den Ursprüngen dieser Statistik nachgeht [immerhin stammen sie von höchster Ebene], sie nach Strich und Faden und rundum fundiert als durchweg unseriös widerlegt, aber auch zeigt, wie sie in den 80er Jahren

    [im abgrundtief reaktionären bis geradezu gemeingefährlichen Reagan-Zeitalter; und unter Bush I und II ist es keinen Deut besser!]

    bestens in einen patriarchalisch-chauvinistischen Backlash gegen die Frauenbewegung passte.)

    und auch da natürlich wieder am besten solche, die wir bisher für wahr gehalten, ja, nach denen wir vielleicht sogar unser Leben "gerichtet" haben;

    (nebenbei: da ist das schon erwähnte Buch von Walter Krämer oder vom selben Autor wirklich eine Fundgrube, aber auch und   von Hans-Peter Bornholdt und Hans-Hermann Dubben: "Besonders vergnüglich sind jene Beispiele, bei denen der Leser lernt, Daten selbst zu manipulieren, um mit der Wahrheit zu lügen" [Frankfurter Rundschau].

    Hingewiesen sei auch auf Walter Krämers Buch .

    Vergleiche auch jene Bücher wie z.B. das sowie   [vom selben Autor mit herausgegeben], die zeigen, dass massenhaft von uns allen für selbstverständlich Gehaltenes in Wirklichkeit schlichtweg falsch ist.

    Ich frage mich also ernsthaft, ob man solche Bücher statt der üblichen Schulbücher benutzen sollte; wobei sie natürlich evtl. mathematisch zu ergänzen wären.)

  2. - und mir hier am wichtigsten - stochastisch-statistische Probleme mitten im Leben von Jugendlichen .

Zu zeigen wäre, wie wir alle andauernd statistisch-stochastisch denken, bzw. da wäre abzuholen.

Und überhaupt ist alles folgende nur exemplarischer Anlass für Überlegungen, aus denen ein ganzes Forschungsfeld zu entwickeln wäre:

Gleichzeitig müsste aber auch (ohne jede Geringschätzung) deutlich gemacht werden, dass unsere alltäglichen statistisch-stochastischen Denkweisen (unsere "sieben Sinne" und unser sogenannter "gesunder Menschenverstand"), eben weil sie weitgehend unmathematisch sind, uns oft in die Irre führen.

Ein Beispiel: warum halten wir die Zahlenkombination "1;9;25;26;33;42" im Lotto (6 aus 49) für erheblich wahrscheinlicher als "1;2;3;4;5;6" oder ähnlich regelmäßige Kombinationen? Weil wir eigentlich nur zwei Fälle unterscheiden:

Aber die konkrete Kombination "1;9;25;26;33;42" ist genauso (un-)wahrscheinlich wie "1;2;3;4;5;6".

Und inzwischen gibt es ja Tippgemeinschaften, die solchen Irrglauben ausnutzen: zwar können sie auch nicht die (tatsächlich völlig zufälligen) Lottoergebnisse beeinflussen (also nicht häufiger gewinnen), aber indem sie auf seltene Kombinationen setzen, gewinnen sie sehr viel mehr Geld (müssen sie nicht mit anderen, die dieselben Gewinnzahlen getippt haben, teilen) - wenn sie gewinnen.

Damit die mathematische Problematisierung aber nicht penetrant besserwisserisch wirkt (immer nur den Splitter im Auge des anderen sieht), müsste man ergänzen, dass

(das die Menschheit in Form von Freiheit / Notwendigkeit / Kausalität / Determinismus / Gottgewolltheit / Schicksal [Fortuna] / Kontingenz /Zufall

[also insgesamt schlichtweg in Form von Mythos, Religion und Philosophie = "die Wissenschaft von den unumgänglichen und eindringlichen, aber prinzipiell unbeantwortbaren Fragen]

schon immer beschäftigt hat:

Albert Einstein: "Gott würfelt nicht" - oder doch, und zwar mit uns als Würfeln?);

vgl. etwa die Quantentheorie, die nur noch statistisch funktioniert - und deshalb sogar für gewiefte  Quantentheoretiker nicht mehr anschaulich wird.

d.h. für mich auch, im Matheunterricht bei aller Notwendigkeit von Klarheit und Gewissheit (sturer Rechenfertigkeit) das Grundproblem der Stochastik, nämlich den Zufall, nicht zu übertünchen (mathematisch einzugemeinden und stumpf berechenbar zu machen), sondern vielmehr - zumindest zeitweise - sogar auf die Spitze zu treiben. Z.B.:

(Wer da - auch und gerade als MathematikerIn - nicht mehr zumindest kurzfristig irritiert sein und staunen kann, hat den Zufall und damit alle Stochastik überhaupt nicht verstanden. Und überhaupt scheint mir, dass wir [ich auch!] oft unsere SchülerInnen [und ihre Schwierigkeiten] nicht mehr verstehen, weil wir viele mathematische Fakten [z.B. den Limes] schon allzu gut [also letztlich nicht] verstanden haben.)

Es ist offen auszustellen statt zu verbergen, dass Statistik-Stochastik letztlich alles und nichts beweist (also tatsächlich eine ganz neu- bzw. andersartige Mathematik vorliegt als sonst): natürlich ist es höchst unwahrscheinlich, dass man im Lotto den Jackpot knackt; aber derjenige, dem das dann doch gelungen ist, pfeift doch darauf, dass das "eigentlich gar nicht hätte geschehen dürfen". Oder wenn jemand, der an Flugangst leidet, mit dem Flugzeug abstürzt, wird er die Information, dass es "eigentlich" viel tödlicher ist, mit dem Auto zum Flughafen zu fahren als mit dem Flugzeug zu fliegen, nur noch als zynisch empfinden..

Einzugehen wäre also auf einen - hier nur statistisch-stochastischen - "mathematischen Analphabetismus"

(vgl. John Allen Paulso: "Zahlenblind; Mathematisches Analphabetentum und seine Konsequenzen"; und darin insbesondere S. 74ff: "Wahrscheinlichkeit und Zufall")

bzw. positiv gesagt: statistisch-stochastische Intuition in jedem "ganz normalen Privatleben".

Mit "Privatstatistik" deutet sich schon an, wo Statistiken sehr wohl im Leben von Laien und somit auch Jugendlichen/SchülerInnen auftauchen:

Also z.B. in folgender Form:

Genau darum könnte es aber an verschiedensten Beispielen gehen: um das Erstaunen, dass ein Gegenbeispiel unsere gesamte bisherige "Privatstatistik" zum Einsturz bringen kann.

(Interessant fände ich aber auch

Die wenigen Beispiele zeigen: unser Leben ist randvoll mit "Privatstatistiken" (und man muss wahrhaft keine Zeitungen lesen, um Statistiken [nur] "mit" zu bekommen).

(Nebenbei: wenn man erkennt, dass [Privat-]Statistiken derart hautnah sein können, merkt man vielleicht auch erst, wie verletzend sie [im Unterricht] sein können; z.B. dann, wenn man zwecks Erstellung einer eigenen Statistik ganz unbedarft nach der Körpergröße der SchülerInnen fragt und sich jemand schämt, weil er angeblich zu klein ["noch nicht richtig erwachsen"] ist.) 

Ebenso randvoll ist unser (ganz unmathematisches) Leben aber auch mit "Privatstochastik", also Überlegungen zum Zufall:

(und die offensichtlich derart elementar ist, dass Hollywood sie mehrfach [u.a. in "zurück in die Zukunft"] ausgeschlachtet hat):

"Was wäre eigentlich gewesen, wenn ...

... meine Eltern damals nicht zufällig in derselben Kneipe gewesen wären und sich somit nie kennengelernt hätten?"

Die logisch-stochastische Ausweglosigkeit besteht dann ja gerade in der höchst befremdlichen Konsequenz, dass es dann heute keinen gäbe (auch und gerade nicht mich selbst), der darüber nachdenken und es bedauernd könnte.

(Um so "andächtiger" sollte man Geburtstage geliebter Menschen feiern!)

Man selbst wäre schlichtweg von Anfang an ausradiert (auch eine Art des Todes bzw. Nirwanas?).

Oder gerne sexueller gefällig?:

"Was wäre, wenn ...

... Pappis Spermium B doch um eine tausendstel Sekunde schneller gewesen wäre als der tatsächliche dreiste Gewinner des Wettrennens, nämlich Spermium A?": "Denn ich, das [wäre] ein anderer [sozusagen mein Bruder - oder meine Schwester?]." (Arthur Rimbaud).

Da dann aber, bei den kleinen (?) und großen Zufälligkeiten des eigenen Lebens

(und der Nähe von Potentialis und Irrealis: was gerade noch gleichberechtigt möglich war, ist innerhalb eines Augenblicks plötzlich haarscharf unmöglich geworden),

werden "stochastische" Überlegungen wahrhaft lebensnah, ja, geradezu existentiell, und wenn man das erst mal weiterdenkt, schwindelt es einem und wankt einem der Boden unter den Füßen.

Das ist Zufall!


Es muss (abgesehen von "Projekt Zufall") noch weitgehend offen bleiben, wie man auf solch wirklich lebensnahen Überlegungen einen ergiebigen Matheunterricht (zu dem es ja durchaus kommen soll!) aufbauen könnte. Aber ich weiß mit Sicherheit, dass das ewige "Ziehen von Kugeln aus Urnen [?!]" meilenweit am Leben vorbei ist.


PS:

"It's sympathy not tears people need
when they're the Front Page sad news."
(Pete Townshend)
 

Zu "lebensnaher Stochastik" gehört es spätestens nach der Auswertung sozialwissenschaftlicher Statistiken unabdingbar auch, auf die Einzelschicksale der dahinter steckenden Menschen einzugehen: "Was bedeuten die Durchschnittszahlen konkret?"

Eine sozialwissenschaftliche Statistik, die uninterpretiert und unhinterfragt bleibt, schürt oftmals nur Vorurteile.

Ein weiteres Problem bei der Behandlung von Statistiken im Mathematikunterricht ergibt sich bei Umfragen: Wenn etwa gezeigt wird, dass einige dieser Umfragen interessegeleitet sind und z.B. keineswegs eine bereits vorhandene Mehrheit abbilden, sondern sie überhaupt erst erzeugen sollen

(was vorurteilslos an einem Beispiel zu zeigen sicherlich besonders interessant wäre),

so ist das in den Augen des Rezipienten doch gar nicht so eindeutig ein Negativargument. Vielleicht will der Rezipient ja zur Mehrheit (einer großen Gemeinschaft gehören), und die Umfrage (z.B. Musikcharts) verheißt ihm, dass das wenn noch nicht derzeit so ist, so doch sehr bald so sein wird. Woher sonst kommt das immense Interesse an Umfragen aller Art und zu jedem "Scheiß"? Sicherlich liest man sie vordergründig oftmals mit Ironie, vor allem aber möchte man doch den derzeitigen Zeitgeist mitbekommen - und auch mitschwimmen?

Wer (noch so unseriöse) Statistiken entlarvt, macht sich also allzu schnell auch über Einsamkeit und Unsicherheit sowie Sehnsucht nach Geborgenheit lustig. Kritik an Statistiken ist allzu schnell in der Gefahr, auch Kritik an den SchülerInneN und ihren Wünschen zu werden. Dieser Gefahr sollte man sich zumindest bewusst sein.

Umfragen und soziale Statistiken haben - und zwar unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt - eine ungeheuer wichtige soziale Funktion, dienen nämlich der Selbstdefinition und -positionierung des Einzelnen im gesellschaftlichen Kontext:

  • da möchte ich (nicht) dazu gehören,
  • das wäre ich (nicht) gerne (bin ich aber [nicht]),
  • (un-)glücklicherweise bin ich auch/nicht so,
  • was muss ich tun, um (nicht) so zu werden?
  • ich bin (un-)normal,
  • ich möchte zur Mehrheit (oder auch ganz bewusst zur Minderheit) gehören, und zwar egal welcher ...

Überhaupt läuft die Behandlung von Statistiken leicht auf zweierlei hinaus:

  • entweder auf die Bestätigung von Banalitäten
    ("Männer sind im Schnitt größer als Frauen"),
  • oder auf Besserwisserei, wenn nicht gar Beschämung
    (eben wenn etwas anderes herauskommt als vom "dummen" Laien erwartet).