Bilder, Bilder, Bilder!
Natürlich sind Bilder (insbesondere in der heutigen medialen Bilderflut) durchaus problematisch:
zwar denken wir vielleicht sogar eher in Bildern als in Begriffen (Sprache),
aber Bilder sind manchmal gefährlich suggestiv und wirkungsmächtig
(Georges Simenon: "Es sind die Bilder, die [fatal?] Recht behalten");
auf Mathematik bezogen: Bilder geben oftmals (wie auch viele Computerprogramme; vgl. ) die Ergebnisse vor, würgen also jeden eigenen Erkenntnisprozess vorzeitig ab;
Bilder (hier noch etwa im Sinne von Fotos) sind statisch, verbergen also oftmals (erst in Sprache mögliche) Zusammenhänge, Prozesse und Hintergründe
(wenn man mal vom Sehprozess absieht);
"ein Bild sagt mehr als 1000 Worte" ist also eine durchaus ambivalente Aussage;
Bilder sind - wie Theorien - meistens "nur" Modelle, d.h. sie stimmen nur teilweise - und sind somit auch teilweise (unerkannt) falsch
... wobei das Problem ist, dass man aufgrund der Verwechslung bzw. sogar Gleichsetzung von Bild und Abgebildetem ("Wirklichkeit"?) oftmals gar nicht merkt, wo die Bilder nicht stimmen und (u.a. SchülerInnen) irreführen;
zudem können Bilder sogar ganz falsch und damit erkenntnisbehindernd sein:
"Schon der Versuch,
ein Bild [der Elementarteilchen] zu entwerfen
und über sie in anschaulichen Begriffen zu denken,
bedeutet, sie vollkommen falsch zu verstehen."
(Werner Heisenberg)D.h. auch: für einige Sachverhalte gibt es beim besten Willen keine Bilder (vgl. ) - was man allerdings nie voreilig behaupten sollte: das (populär-)wissenschaftliche Genie zeigt sich oftmals gerade darin, dass es auch für das Komplizierteste ein erstaunlich einfaches Modell findet bzw. oftmals überhaupt erst durch einfache Bilder auf das Komplizierteste kommt:
Watson und Crick haben - allerdings aufbauend auf Vorkenntnissen - die Struktur der DNA weniger entdeckt als gebastelt.
"Einstein hat einmal in einem Gespräch mit einem Psychologen erzählt, dass sein wissenschaftliches Denken mit Bildern einsetzt, die in ihm weitere Bilder generieren und zu einem Strom werden lassen, den er dann (mühsam) in Worte und Formeln übertragen muss, um sie mitteilen zu können. Diese Erfahrung haben viele Naturforscher gemacht, wie man immer wieder feststellen kann, wenn man sich ihre Lebensgeschichten ansieht.
Der Beitrag der Bilder zum Wissen ist schon bei Einsteins berühmtem Vorgänger Johannes Kepler zu erkennen, der im 17. Jahrhundert nicht nur die drei nach ihm benannten Planetengesetze entdeckte, sondern auch beschrieben hat, wie seinen Erfahrungen zufolge Wissen überhaupt entsteht. Für Kepler kommt Erkennen durch Bilder zustande [...]
Was Kepler sagt, lässt sich auch so ausdrücken, dass wir dann etwas über die Welt wissen, wenn wir sie uns durch Bilder zu eigen gemacht haben, wenn wir sie uns also - im Wortsinn - eingebildet haben. Nun heißt das alte lateinische Wort für diesen Vorgang der Einbildung »informatio«, und es ist unschwer zu erkennen, dass davon zwar der Begriff der Information abgeleitet ist, den sich die heutige Gesellschaft gerne als Vornamen gibt, dass aber die geläufige Verwendung dieses Wortes nichts mehr mit dem Bild zu tun hat, das ursprünglich gemeint war. Wer heute informiert ist, hat vielleicht viele Daten auf seiner Festplatte oder einige Nachrichten auf der Mailbox, aber keine Bilder mehr im Kopf. Informiert im sinnvollen und Wissen anstrebenden Gebrauch dieser Idee ist aber nur der »eingebildete« Mensch.
[...]
Bilder sind eine Wissensform vor den Begriffen, und sie entstehen durch die menschliche Fähigkeit der Wahrnehmung [...] Wissen beginnt mit Wahrnehmung [...] Wahrnehmung verwandelt gestaltetes Außen in Gestalten innen. äußere Formen werden innere und finden dabei das Bild, das unser Wissen wird, weil wir uns daran erinnern können."
(Ernst Peter Fischer auf S. 37f in: Die andere Bildung; Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte; Ullstein)
Dennoch aber muss die Schulmathematik ganz erheblich bildlicher werden.
Damit meine ich
nicht neckische Randillustrationen,
aber auch nicht die sowieso schon in der Mathematik vorhandenen Graphen
(Geometrie, Funktionsgraphen),
sondern eine , d.h. ein Bild-Werden der zentralen mathematischen "Ideen" und Tätigkeiten:
die abgenagte Parabel muss zur echten Antenne werden
(die SchülerInnen sollen demnächst bei Parabeln z.B. an Antennen denken)
und nicht (zumindest nicht in erster Linie)
- wie es meist in sogenannten "Anwendungsaufgaben" geschieht, die eh oft nur Vorwand letztlich doch wieder nur für Mathematik sind -
die Antenne zur Parabel verkommen.
Es ist schon fast eine Binsenweisheit, dass es verschiedene Lerntypen (vgl. "jeder auf seine fa&ccdil;on") und darunter eben auch den visuellen gibt, der vor allem aus Bildern lernt (und viele Menschen scheinen sogar synästhetisch zu lernen, d.h. durch Verknüpfung mehrerer Wahrnehmungsweisen):
"Manche Mathematiker, circa 10 von 100, denken in Formeln. So ist ihre Intuition. Die übrigen denken in Bildern, ihre Intuition ist geometrisch. Bilder bringen viel mehr Informationen als Wörter. Viele Jahre haben wir versucht den Schülern abzugewöhnen, dass sie Bilder benutzen, weil sie nicht genau sind. Das ist ein trauriges Missverständnis.
Zwar sind Bilder nicht genau, aber sie helfen beim Denken, und so eine Hilfe ist nicht zu verachten."
(Ian Stewart)
Fischer spricht in seinem ersten oben angeführten Zitat von den Naturwissenschaften, in denen äußeres zum inneren Bild wird. Die Mathematik (solange es um rein innermathematische Sachverhalte geht) scheint aber genau umgekehrt funktionieren zu müssen: zum Inneren (Innermathematischen) muss ein äußeres Bild gefunden werden.
Neueste Forschungsergebnisse scheinen zu beweisen, dass mathematische Inhalte, die scheinbar unvisualisierbar sind, dennoch bildlich gedacht werden:
"Bei der Untersuchung der Hirnleistung rechnender Menschen fanden Forscher [...] ihre Vermutung über das Arbeitsgedächtnis bestätigt. Bei allen Probanden leistete es Schwerstarbeit. Das galt besonders für jenen [Gehirn-]Bereich, der sich mit der Zwischenspeicherung räumlich-visueller Informationen beschäftigt; Hirnforscher nennen ihn den »räumlich-visuellen Notizblock«. Dieser Befund ist insofern bemerkenswert, als Zahlen an sich keine räumlich-visuelle Qualität haben. Eine Neuronengruppe, die gewöhnlich immer dann aktiv wird, wenn wir unsere Finger bewegen, lief ebenfalls heiß. Offensichtlich hinterlässt die frühkindliche Art des Zählens und Rechnens Spuren im Gehirn: Die gleichen Neuronen, die damals beansprucht wurden, beteiligen sich auch an den Rechenleistungen der Erwachsenen.
[...]
Nach eigenem Bekunden strukturiert er [ein sogenannter Rechenkünstler] den Dschungel der Zahlenwelt mit Hilfe visueller Vorstellungen."
(Spektrum der Wissenschaft, 6/2001, S. 16f)(Überhaupt tun wir vielleicht sehr viel mehr als [wir] denken: meiner Erinnerung nach ist aus mal gezeigt worden, dass wir selbst beim Leiselesen fast alle Muskeln zum Sprechen aktiviert haben - und diese erst im letzten Augenblick blockiert werden.)
Nur ein Beispiel:
Bei der Erkundung mehrfacher Nullstellen kubischer Funktionen liegt es natürlich nahe, das auch graphisch zu tun:
sind Funktionen eben auch visuell als Graphen darstellbar;
liegt der Gedanke nahe, mehrfache Nullstellen durch Zusammenschieben (also Bewegung!; vgl. "Bewegte Mathematik") zweier (oder dreier) vorher getrennter Nullstellen zu erhalten:
Um aber eindrücklich zu "kapieren", was da passiert, scheint mir noch mehr nötig:
ein "inneres" Bild, das den doch ziemlich abstrakten Vorgang visualisiert, der da passiert. Schauen wir uns dazu nochmals an, was
im ersten Teil der oben gezeigten Animation passiert:
die linke Nullstelle wandert gegen die mittlere, und dabei wird der linke "Berg" (zwischen linker und mittlerer Nullstelle) immer kleiner, bis die mittlere Nullstelle eine doppelte Nullstelle wird (ein Berührpunkt).
Nehmen wir nun das Bild des Berges mal wörtlich - und ergänzen, dass die x-Achse der Meeresspiegel ist:
da versinkt ein Berg im Meer (wird immer kleiner bis hin zu einem Hügel, einer Sandbank usw.) - und urplötzlich ist er ganz abgetaucht, berührt aber noch gerade den Meeresspiegel von unten.
Etwa so ähnlich (nur eben zusätzlich mit Rand) erklärt man sich die Entstehung von Atollen (vgl. ).
entsprechend kann man sich auch den zweiten Teil der Animation erklären:
jetzt wandert auch noch die rechte Nullstelle gegen die mittlere, und dabei wird das rechte "Tal" (zwischen rechter und mittlerer Nullstelle) immer höher, bis die mittlere Nullstelle eine dreifache Nullstelle wird (ein Sattelpunkt).
Nehmen wir nun auch hier das Bild, in diesem Fall also das Tal, wieder wörtlich:
da steigt ein Tal langsam aus dem Meer empor (wird immer weniger tief und breit bis hin zu einem Fluss, einem Rinnsal usw.) - und urplötzlich berührt es gerade eben den Meeresspiegel von unten.Das entsprechende Bild wäre hier das Auftauchen neuer Inseln aus dem Meer.
Das Bild (ein ins Meer absinkender Berg bzw. ein aufsteigendes Tal) st keinerlei "Anwendung" und hat natürlich rein gar nichts mit der mathematischen Sache zu tun - und veranschaulicht sie dennoch wunderbar.
Solche Verbildlichungen wären weiter auszubauen, aber Anfänge sind gemacht: